Ernst Jünger und Frankreich – eine gefährliche Begegnung?

Alexander Pschera im Gespräch mit dem Komparatisten und Ernst-Jünger-Übersetzer Julien Hervier.

Online seit: 25. November 2019

ALEXANDER PSCHERA Wenn wir ein Gespräch über Jünger führen, dann setzen wir voraus, dass Jünger relevant ist. Über diese Frage sollten wir uns zu Beginn verständigen: Wie wichtig ist Jünger heute wirklich noch?

JULIEN HERVIER Da wir ja Jünger-Verehrer sind, könnten wir es uns einfach machen und behaupten, er sei einer der größten Schriftsteller deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts. Dieses Urteil würde aber dann bloß für uns gelten, und ich bin tatsächlich oft von französischen oder deutschen Universitätsfreunden gefragt worden, warum ich meine Zeit mit einem Schriftsteller vergeude, der in Deutschland nicht gelesen wird und der so etwas ist wie ein Überlebender des 19. Jahrhunderts – ein Autor, dessen Sprache und Denken völlig uninteressant geworden sind. Objektiv gesehen ist die Beurteilung Jüngers durch die Nachwelt aber eine ganz andere, wenn man betrachtet, dass es immer mehr Bücher und Kolloquien über Jünger in Deutschland oder auch in Polen gibt, wenn man außerdem in Erwägung zieht, wie erfolgreich die Jünger-Ausstellung in Marbach war und wie das Kriegstagebuch 1914-1918 vom deutschen Publikum aufgenommen wurde – der Klett-Verlag musste sofort nachdrucken, weil die Verkaufszahlen die Prognosen weit übertroffen hatten. Schließlich war auch die Aufnahme der Kriegstagebücher in die Bibliothèque de la Pléiade – ein Akt, der in unserem Land der Kanonisierung eines Autors gleichkommt – ein großer Erfolg.

PSCHERA Jüngers Erfolg hatte ja verschiedene Hoch-Zeiten. Jede Generation schuf sich ihren eigenen Jünger: die 20er Jahre hatten den nationalistischen Jünger, dann die 50er Jahre den waldgängerischen, die 80er Jahre den ökologischen, und in den 90ern begann dann die Entdeckung Jüngers als postmoderner Autor. Welchen Jünger können wir in Zukunft noch entdecken?

HERVIER Um diese Frage beantworten zu können, müsste man wissen, welche Themen für die zukünftigen Generationen existentiell wichtig sein werden. Auf jeden Fall ist das Werk Jüngers reich und vielfältig genug, um sehr unterschiedliche Leser innerhalb meiner oder sogar Ihrer Generation anzusprechen. Abgesehen von wenigen stereotypen und meist belanglosen psychoanalytischen Studien wurde zum Beispiel Jüngers Psychologie noch nicht erforscht, obwohl seine Beziehungen zu seinen Eltern, Frauen, Freunden extrem interessant und hochkomplex sind. Ich habe versucht, diese Thematik aufzugreifen in einem Vortrag, der auf einem der Jünger-Symposia in Heiligkreuztal gehalten wurde. Man wird seine reiche Persönlichkeit aber erst dann besser erfassen können, wenn die gesamte Korrespondenz veröffentlicht sein wird, was wünschenswert wäre.

PSCHERA Wie sieht es in Frankreich aus? Man sagt ja immer, hier wird Jünger viel intensiver gelesen als in Deutschland. Ist das tatsächlich so?

HERVIER Nein, es handelt sich hier um einen absolut falschen Gemeinplatz, an dessen Verbreitung Jünger selbst beteiligt war. Dadurch hat er versucht, die Traurigkeit, die die zahlreichen Attacken gegen seine Person in Deutschland verursachten, zu kompensieren. Immer, wenn es um dieses Thema geht, versuche ich, das deutsche und französische Publikum auf diesen weit verbreiteten Irrtum hinzuweisen. Es ist allerdings auch richtig, dass Jünger in Frankreich über einen Kreis leidenschaftlicher, aber zahlenmäßig beschränkter Verehrer verfügt, eine Gruppe von happy few sozusagen. Aber selbst wenn einige seiner Bücher, Auf den Marmorklippen zum Beispiel, ziemlich große Auflagen in Frankreich erreicht haben, sind diese immer noch drei oder viermal kleiner als in Deutschland.

PSCHERA Gibt es in Frankreich noch eine politische Diskussion um Ernst Jünger?

HERVIER Die Pléiade-Ausgabe hat diese politische Diskussion wieder entfacht. Die Argumente sind jedoch die gleichen geblieben: Jünger wird gesehen als militaristischer Ästhet, als ein reaktionärer Denker, als ein Antidemokrat und Vorläufer des Faschismus, von dem ihn allein seine aristokratische Haltung distanziert hat.

PSCHERA Was hat die Veröffentlichung der Kriegstagebücher in der Bibliothèque de la Pléiade, deren Herausgeber Sie ja waren, in Frankreich bewirkt? Gibt es seitdem Anzeichen für eine neue Jünger-Rezeption?

HERVIER Die Rezeption dieser Ausgabe war für mich sehr ermutigend, da sie ein großer Publikumserfolg wurde, obwohl es sich um ein teures Buch handelt. Vor allem waren die Kritiken hervorragend. Alle großen Zeitungen und Zeitschriften haben die Ausgabe gelobt, kritische Gegenstimmen gab es kaum. Zunächst, unmittelbar nach dem Erscheinen, war ich sehr besorgt, da die erste Rezension in einem auflagenstarken Magazin, in der Zeitschrift Le Point, eher bösartig war. Ich hatte da die Befürchtung, dass diese Rezension, wie es ja häufig in der Presse geschieht, den Ton der folgenden angeben würde. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Zu den Details der Pléiade-Rezeption möchte ich auf einen Vortrag verweisen, den ich auf dem Jünger-Symposium 2009 in Heiligkreuztal gehalten habe und der bald in der Publikations-Reihe dieses Symposiums erscheinen sollte.

PSCHERA Sehen Sie lebende französische Autoren, die von Jünger beeinflusst sind?

HERVIER Als ehemaliger Professor für Komparatistik bin ich sehr vorsichtig in Bezug auf das Feststellen von Einflüssen. Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass Jünger die Lebensanschauung einiger französischer Autoren mitverändert hat und dass einige anerkannte Schriftsteller über Jüngers Werk mit Interesse und Bewunderung sprechen. Dies ist zum Beispiel bei Philippe Sollers der Fall, der sehr positiv über die Pléiade-Ausgabe schrieb. Pierre Michon, der beste lebende französische Prosaautor seit dem Tod von Julien Gracq, hat in privaten Gesprächen mit mir wiederholt sein Interesse an Ernst Jünger zum Ausdruck gebracht. Zu dieser Gruppe zählt auch Christian Bobin, der über Jünger einen sehr einfühlsamen Text geschrieben hat.

PSCHERA Inwieweit ist das Werk Julien Gracqs ohne den Einfluss Jüngers denkbar?

HERVIER Gracq war bereits vor dem Krieg und vor der Entdeckung der Marmorklippen in einer Bahnhofsbibliothek ein sehr talentierter Schriftsteller. André Breton hatte seinen ersten Roman Au château d’Argol mit Begeisterung aufgenommen und ihn für die Bewegung des Surrealismus in Anspruch genommen. Die Neigung Gracqs für mythische Welten und emblematische Figuren hätte sicherlich auch ohne diese Begegnung mit den Marmorklippen angehalten, sein Meisterwerk Le Rivage des Syrtes hätte aber zweifelsohne eine andere Form angenommen.

PSCHERA Kann man in den Texten von Jonathan Littell oder Michel Houellebecq nicht auch die Spur des Jünger’schen kalten Blicks sehen? Gibt es bei diesen Autoren nicht einen Sadismus des Beobachtens, der von Jünger abgeleitet werden kann?

HERVIER Seit der Mode des nouveau roman, die heute zwar endgültig vorbei ist, aber dennoch ihre Spuren hinterlassen hat, bemühen sich viele Romanschriftsteller um eine absolute Objektivität in der Beschreibung. Es handelt sich daher um eine sehr entfernte Gemeinsamkeit, die sehr viele Autoren betrifft. Im Falle von Houellebecq denke ich nicht, dass er sehr viele Ähnlichkeiten zu Jünger aufweist. Die Faszination von Jonathan Littell für die Welt der Lemuren und die Massaker des Zweiten Weltkriegs haben dagegen in Les Bienveillantes, einem sehr gut dokumentierten Buch, zu einer Reihe von Jünger-Anspielungen geführt. Littell zitiert darin sogar fast wörtlich einen Satz von Jünger, der von einem Spaziergang in Maikop am 2. Januar 1943 berichtet: „Vormittags ging ich in den Kulturpark, in dem die Gipsfiguren moderner Übermenschen zerbröckelten, (…).“ Ich sah darin eine Art scherzhafte Anspielung, die sich an gebildete Leser richtet. Pascal Mercier, einer meiner beiden Mitarbeiter an der Pléiade-Ausgabe, hat Littell direkt gefragt, der ihm allerdings geantwortet hat, sich während der Arbeit an seinem Roman nicht genau an diesen Auszug aus dem Kaukasischen Tagebuch erinnert zu haben.

PSCHERA Übersetzen kann man als Migration deuten, aber auch als Usurpation. Jünger berichtet einmal von einem amerikanischen Offizier, der am Ende des Zweiten Weltkriegs bei ihm in Kirchhorst einquartiert war und der später die Marmorklippen übersetzen sollte. Hier liegt beides ganz nah beieinander: die Okkupation und die Übertragung. Ist Übersetzen also so etwas wie okkupieren, erobern, vereinnahmen?

HERVIER Der Begriff „Okkupation“ suggeriert, dass dem Text oder dem Autor Gewalt angetan wird, was keine gute Übersetzung machen würde. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, würde der Übersetzer, der gelegentlich ein unterdrückter Schriftsteller ist, eine Art Usurpation vornehmen, indem er sich im Werk eines großen Künstlers einnistet, um einen Teil seiner Persönlichkeit oder seines Ruhms zu stehlen. Aber vergessen wir nicht, dass es auch große Schriftsteller gab, die Übersetzer waren: Man könnte Baudelaire nennen, der Edgar Allan Poe, und Gide, der Joseph Conrad übersetzte, oder auch Paul Celan, der ein großartiger Übersetzer russischer und französischer Dichter war. Und es kommt auch vor, dass der Übersetzer ein sehr feines Gespür für die eigene Sprache besitzt, seine persönlichen Erfahrungen aber für zu banal hält, um sie der Nachwelt anzuvertrauen. Warum sollte man denn seine Kindheits- und Jugenderinnerungen niederschreiben oder seinen Liebeskummer erzählen: die Mehrheit der unzähligen Neuerscheinungen, die aus den Auslagen der Buchhandlungen in weniger als sechs Monaten wieder verschwinden, sind voll von derartigen Geschichten, die für diejenigen, die sie erlebt haben, wahnsinnig interessant sein mögen, für den Leser aber nur hochgradig langweilig. Dann ist es besser, sein literarisches Talent einem fremden Autor zur Verfügung zu stellen, von dem man meint, er hätte Wesentliches zu sagen. Der Übersetzer leistet dann eine wirklich kreative Arbeit mit seiner eigenen Sprache, selbst wenn diese Arbeit nicht dazu dient, die eigene Inspiration, sondern die Gedanken eines anderen wiederzugeben.

Jünger war davon überzeugt, dass die göttliche Güte die ewige Verdammnis des Sünders nicht zulassen würde.

PSCHERA Georges-Arthur Goldschmidt hat das genau anders herum gesagt: Jüngers Aufnahme in die Pléiade sei eine fortgesetzte Okkupation Frankreichs durch Deutschland.

HERVIER Der Fall Georges-Arthur Goldschmidts ist ein ganz besonderer. Goldschmidt hasst Jünger, und das Erscheinen der Kriegstagebücher in der Pléiade war für ihn nur die willkommene Gelegenheit, sich polemisch zu äußern, was auch falsche Aussagen umfasste. Er ist der Meinung, dass die Pléiade-Ausgabe die Brutalität der Erzählungen über den Ersten Weltkrieg verschweigt und behauptet in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg: „Es geht, wenn auch unbewusst, um eine regelrechte Rehabilitierung der deutschen Okkupation Frankreichs“, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Texte der Strahlungen, die dem französischen Publikum in mehreren Ausgaben, darunter auch Taschenbuchausgaben, seit 1951 zur Verfügung standen, hier erneut veröffentlicht werden. Julia Enke hat ihm in einem bemerkenswerten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Juli 2008 geantwortet, in dem sie daran erinnert, dass die Notizen der Pléiade endlich Zugang zu Stellen ermöglichen, die nie zuvor ins Französische übersetzt worden waren und in denen der Extremismus von Jünger zum Ausdruck kommt: „Um den ,Extremismus‘ der nationalistischen Texte Jüngers anschaulich zu machen, zitieren die Anmerkungen deshalb Beispiele, die 1934 vollständig getilgt wurden.“ Und sie beschließt ihren Artikel so: „Die vielen jungen Leute auf der Suche nach ,wahren‘ Werten, behauptete Goldschmidt in seiner Polemik gegen den ,Pléiade‘-Jünger, werden nun an ihm ihr Futter finden, ohne merken zu können, wie sie dabei an der Nase herumgeführt werden; erstens, weil die französische Fassung nichts von der Mischung aus Brutalität und verlogener Betulichkeit der Sprache Jüngers sehen lassen wird; zweitens, weil ihnen der eiskalte Hintergrund, die fast mörderische Indifferenz des eigentlich Gemeinten verborgen bleibt. Man muss ihm widersprechen. Oder besser: Es ist die Ausgabe selbst, die ihn widerlegt. An der Nase herumgeführt wird niemand. Das Ganze ist eher eine Entdeckung als der Versuch, etwas zu verschleiern.“ Ich kann dieses Urteil nur begrüßen. Was mich betrifft, ging es mir nicht darum, den Franzosen ein verklärtes Bild Jüngers zu präsentieren und die Aspekte, die die Franzosen schockieren würden, zu verdecken. Man muss die Schriftsteller nehmen, wie sie sind, und nicht so, wie man sie sich wünscht. Aus diesem Grund habe ich in den Notizen auch Stellen zitiert, die Verachtung für die Franzosen zeigen, zum Beispiel, wenn Jünger die schmutzigen Dörfer Frankreichs beschreibt. Dies sind Stellen, die sich in den ersten Versionen der Stahlgewitter befinden und die Jünger später gestrichen hat.

PSCHERA Muss ein Autor, wenn er unsterblich sein will, nicht seine eigene Geschichte überleben?

HERVIER Gegenfrage: Wollte Jünger wirklich unsterblich werden? Das ist nicht so sicher! Auf jeden Fall ist er in seiner kosmischen Weltwahrnehmung für die Tatsache empfänglich, dass unsere Sonne schließlich einmal erlöschen und damit die Menschheit aussterben wird. Die „Unsterblichkeit“ der berühmtesten Männer findet hier zwangsweise ihre Grenze. Andererseits war es Jünger sicherlich wichtig, welches Bild er der Nachwelt hinterließ – und aus diesem Grund wurde ihm mancherorts vorgeworfen, sein eigenes literarisches Standbild bereits zu Lebzeiten zu errichten, so wie er es mit Zufriedenheit sah, wie sich Büsten von ihm buchstäblich vervielfältigten, zum Beispiel von Arno Breker oder Serge Mangin.

Literarische Unsterblichkeit beruht auf einem kontinuierlichen Interesse eines interessierten Publikums an den großen klassischen Autoren über Jahrhunderte hinweg. Das Verhältnis des Autors zu seiner Leserschaft ist aber nicht das, was Jünger beim Schreiben am meisten interessierte, wie es zum Beispiel bei seiner ersten Begegnung mit Picasso klar wird, die Sie wahrscheinlich noch in Erinnerung haben. Jünger war von einer Äußerung des Künstlers offensichtlich sehr beeindruckt, die lautet: „Meine Bilder würden die gleiche Wirkung haben, wenn ich sie nach ihrer Vollendung, ohne sie zu zeigen, einhüllte und versiegelte. Es handelt sich dabei um Manifestationen unmittelbarer Art.“ Jüngers Haltung ist damit vergleichbar, und beide erinnern an das Verhältnis des mittelalterlichen Künstlers zu seiner Schöpfung. Dieser kann mit der gleichen Liebe und Sorgfalt einen Wasserspeier in die verwinkelteste Turmecke einer Kathedrale meißeln, den niemand je sehen wird, oder aber die Christusfigur am Tympanon der Fassade gestalten. Sein schöpferischer Akt setzt ihn in Verbindung mit Gott, mit einem Absoluten, das außerhalb der menschlichen Relation des Künstlers mit seinem Publikum besteht.

PSCHERA Jünger schrieb aber immer auch im Angesicht der Geschichte. Ist er da immer seiner Verantwortung gerecht geworden?

HERVIER Sie sprechen hier einen Punkt an, der Gegenstand einer freundschaftlichen Auseinandersetzung zwischen mir und Peter Trawny nach Erscheinen seines bemerkenswerten Buches über Jünger war. Trawny meint, dass Jünger seine Rolle als Akteur und Zeuge des Ersten Weltkrieges exemplarisch gespielt hat, und die Stahlgewitter geben aufgrund ihrer Brutalität eine mustergültige Vision desselben. Während des Zweiten Weltkrieges wiederum hätte Jünger, so Trawny weiter, in seiner Aufgabe als historischer Zeuge versagt, insbesondere, was die Judenvernichtung betrifft, als er sich an der russischen Front weigerte, ein Vernichtungslager zu besichtigen. Als er Dezember 1942 in Maikop ist, fragt er sich: „Ob es nicht vielleicht doch gut wäre, die Schreckensstätten aufzusuchen, als Zeuge, um zu sehen und festzuhalten, welcher Art die Täter und die Opfer sind? Wie ungeheuer hat Dostojewski durch seine Aufzeichnungen aus dem Totenhaus gewirkt. Aber er war nicht freiwillig dort, sondern als Gefangener. Auch der Schau sind Grenzen gesetzt. Sonst müsste man zu solchem Zutritt höhere Weihen empfangen haben, als sie die Zeit verleiht.“ Man darf mit Jünger nicht einverstanden sein, aber seine Argumentation ist solide und basiert auf zwei Punkten. Die Kraft seiner Berichterstattung über den ersten Weltkrieg bestand darin, dass er aufgrund seiner Stellung als Stoßtruppführer selber ein Akteur an vorderster Front war, der sein Leben dabei riskierte und nur wie durch ein Wunder überlebte. Wenn er sich ein Konzentrationslager angeschaut hätte, wäre er dagegen bloßer Zuschauer gewesen, mit der Gefahr des Voyeurismus, die damit einhergeht. Und solange das Land sich unter dem Joch von Hitler befand, hätte seine Berichterstattung nicht die geringste Aussicht gehabt, das Los der Gefangenen zu verbessern. Im Falle des Berichts von Tschechow über die zaristischen Straflager von Sachalin ist es anders: Tschechow wollte damit eine Milderung der Lebensbedingungen der Sträflinge erreichen. Darüber hinaus stellen die Vernichtungslager der Nazis, genauso wie der Gulag in der Sowjetunion, ein Ausmaß an Grausamkeit dar, das früher noch unbekannt war und eine Art heiligen Schrecken hervorrufen musste. Um das legitime Recht zu besitzen, sich ein solches Schauspiel anzusehen, müsste man, schreibt Jünger „zu solchem Zutritt höhere Weihen empfangen, als sie die Zeit verleiht“: Es gibt an dieser Stelle eine Art Tabu, das letztlich religiöser Natur ist. Diese Initiation außerhalb der Zeit kann nur eine heilige Dimension haben, man müsste, um sie zu erlangen, zur Kategorie der Heiligen oder der Propheten gehören, und Jünger fühlt sich hier nicht zugehörig oder berufen. Er hat selbst immer wieder betont, dass er sich nie als Widerständler gegen Hitler betrachtet hat, sondern nur als jemand, der aus seiner abweichenden Meinung nie einen Hehl machte und der versuchte, sich innerhalb seines kleinen Einflusskreises dezent zu verhalten.

PSCHERA 1962 erschien im Klett-Verlag Robert Brasillachs Vergil-Buch. Wissen Sie, ob das auf Betreiben Jüngers zustande kam? Wie stand Jünger zu den Autoren der Kollaboration?

HERVIER Ich kann Ihnen leider nicht sagen, ob Jünger bei dieser Veröffentlichung eine Rolle gespielt hat. Tatsache ist, dass – abgesehen von einigen germanophilen Persönlichkeiten wie Jouhandeau oder Léautaud, die er bei Florence Gould traf – Jünger wenig Sympathie für die Schriftsteller der Kollaboration hatte. Zu einem Abend im Institut allemand erwähnt er zuerst die Anwesenheit von Drieu und fügt dann hinzu: „Dazu dann gekaufte Federn, Subjekte, die man nicht mit der Feuerzange anfassen mag. Das alles schmort in einer Mischung aus Interesse, Haß und Furcht zusammen, und manche tragen das Stigma des grausigen Todes auf der Stirn. Ich trete jetzt in ein Stadium ein, in dem der Anblick der Nihilisten mir körperlich unerträglich wird.“ Zu dieser Kategorie der Nihilisten zählte er, wie wir heute wissen, auch Louis-Ferdinand Céline.

Dass Jünger in Frankreich intensiver gelesen wird als in Deutschland, ist ein falscher Gemeinplatz, an dessen Verbreitung der Autor selbst beteiligt war.

PSCHERA Drieu schrieb in sein Tagebuch: „Ich weiß genau, dass von mir nichts bleiben wird. Das weniger Schlechte wird vom Schlechten davongetragen werden. “ Woher nahm Jünger die Gewissheit, dass er bleiben, dass er die Geschichte überleben würde?

HERVIER Drieu litt dramatisch unter Minderwertigkeitskomplexen, die ihn permanent zu Selbstverleugnungen verleiteten. Er war von den religiösen Theorien eines Calvinoder Jansenius fasziniert, nach denen einige zur Verdammnis prädestiniert sind, weil Gott ihnen am Anfang seine Gnade verweigert hat. Er dachte, zu dieser Kategorie der Verstoßenen zu gehören. Außerdem war er davon überzeugt, dass es nach der biblischen Formel viele Berufene, aber sehr wenige Auserwählte gibt. Jünger, der im Laufe des Ersten Weltkrieges mehrmals wie durch ein Wunder dem Tod entronnen war, glaubte dagegen fest an sein Glück, an seinen guten Stern. Darüber hinaus war er in Bezug auf Erlösung und Verdammnis auch fest davon überzeugt, dass die göttliche Güte die ewige Verdammnis des Sünders nicht zulassen würde. So würden sogar die schlimmsten Kriminellen, sogar Hitler, letztendlich gerettet werden.

Beide glaubten an eine willkürliche, übernatürliche Weltordnung; Drieu glaubte aber, dass diese Ordnung ihn ablehnte, während Jünger sich als einer ihrer Günstlinge sah, dank eines Glücks, das zwar nicht unverdient, aber auch nicht der Notwendigkeit zuzuordnen ist.

Ich möchte hinzufügen, dass es durchaus erlaubt ist, mit dem strengen Urteil, das Drieu über seine eigenen Bücher fällt, nicht einverstanden zu sein, selbst wenn sein Werk, im Ganzen gesehen, sich nicht auf der gleichen Ebene wie dasjenige Jüngers befindet. Es gibt aber unter diesen Texten einige wirkliche Meisterwerke, insbesondere eine Sammlung von Erzählungen, La comédie de Charleroi, die von seinen Kriegserfahrungen inspiriert ist und die einige der besten Texten enthält, die in französischer Sprache über den Krieg von 1914 geschrieben wurden. Empfehlenswert sind auch Drieus Romane Le Feu follet, eine brillante Studie über die Gefahr der Drogen und die Orientierungslosigkeit der französischen Intellektuellen zwischen den beiden Weltkriegen, sowie der Roman Mémoires de Dirk Raspe, in dem er in einer fiktiven Van Gogh-Biographie über sich selbst und über das Problem der künstlerischen Schöpfung nachdenkt. Eine Auswahl seiner besten Texte wird übrigens 2012 in der Bibliothèque de la Pléiade erscheinen. Dann steht Drieu dort neben Jünger.

PSCHERA Jünger hat daran gearbeitet, seine Beobachtungen zu entpersönlichen. Das Gesehene steht bei ihm immer „für etwas“. Kann man bei Jünger nicht fast schon von einem Tod des Autors sprechen, wie ihn Roland Barthes formulierte?

HERVIER Die Ablehnung einer sentimentalen Subjektivität in seinen Beschreibungen und Erzählungen ist, wie Sie richtig feststellen, charakteristisch für die schriftstellerische Arbeit von Ernst Jünger. Er hat sich oft und gerne als bloßes Werkzeug, als Seismograph dargestellt, der die Erdbeben ohne Gemütsregung registriert. Ich glaube aber, dass seine Position diametral anders ist als diejenige Roland Barthes, der ein ganz anderes Verständnis von Sprache hat. Wie Sie sicherlich wissen, hat Barthes bei seiner Aufnahme ins Collège de France (1977) in seiner Rede behauptet, Sprache sei faschistisch. Ich lasse ihm die volle Verantwortung für diese Behauptung, aber wie dem auch sei, sie steht im krassen Gegensatz zu Jüngers Auffassung, für den nach der Tradition von Hamann die Sprache Zugang zum Heiligen verschafft. Barthes ist komplett in der allumfassenden Subjektivität gefangen, die wir vom kartesianischen Cogito geerbt haben. Wenn die Persönlichkeit des Autors sich auflöst, ist es bei Barthes nicht zugunsten einer authentischeren Beziehung zum Sein. Jünger ist dagegen der Heidegger-Sicht der Aufwertung der άλήθεια viel näher, dieser Offenbarung der Welt für den Menschen, die sich außerhalb der Problematik Subjekt / Objekt befindet. Um es anders auszudrücken: Jünger unterhält eine Beziehung zum Absoluten, und seine individuelle Persönlichkeit ist für ihn nicht wichtiger, als sie für den mittelalterlichen Bildhauer war, den wir schon erwähnt haben und der nur für Gottes Herrlichkeit arbeitete. Man könnte ihn auch mit einem Schriftsteller vergleichen, den er sehr schätzte, Jorge-Luis Borges: für Borges sind literarische Werke nur Teil einer gigantischen kollektiven Schöpfung der Menschheit, in der jeder den Don Quichotte neu schreiben könnte, und in der die Gestalt von Homer in der Anonymität verschwindet. Dennoch löst sich bei ihm seine schöpferische Tätigkeit nicht, wie bei Barthes, in der Abstraktheit einer entpersönlichten „écriture“ auf. Barthes ließ das Konzept des individuellen Stils für einige wenige Schriftsteller gelten, zum Beispiel für Céline. Jünger hat in diesem Sinne immer behauptet, dass alle große Schriftsteller, er natürlich inbegriffen, ihren eigenen unverwechselbaren Duktus besitzen.

PSCHERA Eine moderne Lesart Jüngers, wie sie in der Marbacher Ausstellung versucht wurde, lässt die Objektivität des Textes in den Vordergrund und die Persönlichkeit des Autors in den Hintergrund treten. Jünger wäre in dieser Sicht so etwas wie ein Medium, ein Seher, und weniger ein Autor?

HERVIER Es ist sehr zu wünschen, dass bei allen polemischen Diskussionen um Jüngers Persönlichkeit, die es sicherlich im Guten wie im Schlechten immer geben wird, sein Werk in den Vordergrund tritt. Was mir an der Marbacher Ausstellung besonders gut gefallen hat, ist die Tatsache, dass durch sie Jünger endlich als großer Schriftsteller in Deutschland allgemeine Anerkennung gefunden hat, egal, zu welchem Urteil man über den Menschen und über seine politischen Einstellungen kommen mag. Man hört und liest nun weniger, dass Jünger ein Autor aus dem 19. Jahrhundert sei, der sich in die Moderne verirrt habe und dass er akademische Werke in einem banalen, manierierten und einfallslosen Stil schreiben würde, kurz: dass er ein zweit- oder drittklassiger Autor sei. Er ist zugleich Autor und Seher. Durch seine akribische Arbeit an der Sprache, seiner Suche nach der richtigen Formulierung, ist er auch ein Autor ganz im handwerklichen Sinne des Wortes. Der große Moralist La Bruyère sagte einmal, man schreibe ein Buch genauso, wie ein Uhrmacher eine Uhr zusammenbaut. Und Céline erinnerte sich an seine Mutter und verglich seine eigene, anspruchsvolle und minuziöse Arbeit am Text mit ihrem Beruf als Spitzenklöpplerin. Jünger ist aber zugleich ein kraftvoller Visionär, was mich dazu verleitet hat, einige seiner Bilder als „Epiphanien“ zu bezeichnen, ganz im Sinne von James Joyce.

PSCHERA Lässt sich Jüngers Theorie der Autorschaft nicht auch als ein Ende des Autors lesen?

HERVIER Der Anfang von Autor und Autorschaft deutet meines Erachtens nicht auf ein Verschwinden des Autors hin, da er im Gegenteil ein Appell an die nachfolgenden Generationen ist, damit sie für Kontinuität sorgen: „Ich bin weit entfernt, von diesen Adnoten eine pädagogische Wirkung zu erwarten, strebe sie auch nicht an. Erfahrungen sind wertvoller als Belehrungen. Vielleicht setzen sie einige Positionslichter für diesen und jenen Jungen, der davon träumt, sich auf das offene Meer hinauszuwagen, und der sich berufen fühlt.“

PSCHERA Todesahnungen spielen in Jüngers Werk keine markante Rolle, selbst in den Alterstagebüchern macht er sich über seinen konkreten Tod nur wenig Gedanken. Wofür ist das ein Zeichen?

HERVIER Ich möchte dieses Interview nur ungern mit einer Meinungsverschiedenheit beenden, waren Ihre genauen und triftigen Fragen für mich doch von Anfang an eine Ermutigung, aber ich denke im Gegenteil, dass der Gedanke an den Tod Jünger nie verlassen hat, seit den ersten Kriegstagebüchern, wo er allgegenwärtig ist. Wie Sie wissen, hat er stets behauptet, dass die Nähe des Todes der kleinsten Freude Intensität verleiht. Er hat auch bis zu seinem Lebensende die letzten Worte der großen Männer oder von Unbekannten gesammelt. Die Schere, 1990 erschienen, ist eines seiner letzten wichtigen Werke, und er betrachtete es, wie er mir öfter gesagt hat, als eine Art Theodizee. Darin nimmt die Thematik des Todes einen großen Platz ein, betrachtet aus den seltsamen Blickwinkeln von Menschen, die dachten, sie seien tot, die dann aber plötzlich ins Leben zurückgekehrt sind, als ob sie die Linie in beiden Richtungen passiert hätten. So erzählt Jünger zum Beispiel die Geschichte eines Fliegers, dessen Fallschirm sich nicht öffnet – bis kurz vor dem letzten möglichen Moment. Alle diese Zeugen berichten übereinstimmend von ihrer Euphorie und von einem großen Licht, sie sind in der Regel damit unzufrieden, dass sie ins Leben zurückkehren mussten. Der Tod ist also immer präsent. Was bei Jünger tatsächlich fehlt, ist die Angst vor dem Tod. Zunächst einmal physisch gesehen, da er ihn als glückliche Erfahrung versteht, auch dank dieser tröstlichen Berichte. Dann aber auch theologisch, da er, wie ich bereits erwähnte, überzeugt war, dass alle Menschen gerettet werden würden. Er empfand also nicht diese Angst des Gläubigen, der befürchtet, unwürdig gewesen zu sein und von einem zornigen Gott in die Hölle geschickt zu werden. Was ihn am besten charakterisiert ist jene Haltung, die er an Bloy bewunderte. Als man ihn in seiner Sterbestunde fragte, was er empfände, antwortete dieser: „eine ungeheure Neugierde“.

© Matthes & Seitz, Berlin 2012

Alexander Pschera lebt als Autor in Süddeutschland. Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um einen stark gekürzten Auszug aus einem Gespräch, das er für den Band Jünger und Frankreich – eine gefährliche Begegnung? geführt hat.

Quelle: Recherche 1/2012

Online seit: 25. November 2019

Julien Hervier, Alexander Pschera: Jünger und Frankreich – eine gefährliche Begegnung? Mit 60 Briefen von Ernst Jünger an Julien Hervier. Übersetzung aus dem Französischen von Dorothée Pschera. Matthes & Seitz, Berlin 2012. 204 Seiten, € 19,90 (D) / € 20,50 (A). (Das Buch erscheint im April)