„Austrian Brutalities“

Fotografische Erinnerungen an das Töten 1914–1918 und die Vergesslichkeit der Historiker. Von Anton Holzer

Online seit: 05. Oktober 2019

Eine makabre Szene der Gewalt (Abb. 1). Aufgenommen wurde das Foto im Winter 1915/16 in Belgrad von einem österreichisch-ungarischen Fotografen. Kurz zuvor war Serbien endgültig von österreichischen und deutschen Truppen erobert worden. Im Zentrum ist ein Mann zu sehen, der an einem Strick hängt. Er wird von zahlreichen Schaulustigen umringt. Einer der k.u.k. Offiziere verliest das Urteil, ein zweiter hält mehrere Schlingen in seiner Hand, daneben ist ein Priester zu erkennen, hinter ihm steht einer der Henker, rechts sieht man zwei neugierige Sanitäter. Die Szene ist ganz auf die Kamera hin entworfen. Es handelt sich offensichtlich um eine Hinrichtung.

Karl Kraus: Es geht nicht an, „einem feindlichen Satiriker die Arbeit zu überlassen“.

Als ich vor einigen Jahren begann, mich mit Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg zu beschäftigen, stieß ich bei Recherchen im Historischen Museum Bosnien und Herzegowina in Sarajevo zufällig auf dieses Foto. Die Szene hat sich mir eingeprägt. Ich betrachtete das Foto genauer. Beim Entziffern des serbokroatischen Bildtextes stellte sich heraus, dass der Mann im Zentrum nicht wirklich hingerichtet wurde. Hier wurde „nur“ geprobt. Der Fotograf dokumentierte eine Ausbildung für angehende Henker. Zum Zeitpunkt, als die Aufnahme entstand, im Winter 1915/16, war der Krieg gegen die serbische Zivilbevölkerung in vollem Gange. Es wurden dringend Henker gesucht. Die Heeresverwaltung hatte für Nachwuchs zu sorgen, damit die Militärjustiz mit den Todesurteilen, die Tag für Tag gefällt wurden, Schritt halten konnte.

Immer wieder stieß ich bei Recherche-Reisen in zahlreiche Archive in Ost- und Südosteuropa auf derartige Bilddokumente. Die Szenen glichen einander, mit einem Unterschied: Auf den anderen Bildern wurde nicht mehr geprobt, sondern tatsächlich gehenkt. Die Fotos – die meisten von ihnen waren in der Forschung bisher unbekannt –  zeigen  vor allem in Ost- und Südosteuropa einen ganz anderen Krieg als den bisher bekannten. Es ist ein mit aller Härte und Brutalität geführter Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Hinterland der Front. Diese Fotos widersprechen auch einem der zählebigsten Klischees über den Ersten Weltkrieg, das bis heute weit verbreitet ist. Demnach handelte es sich um einen weitgehend „sauberen“ Krieg, einen Krieg, der vorwiegend an der Front geführt wurde und der – trotz der gewaltigen Materialschlachten – vor allem ein Krieg von Soldaten gegen Soldaten war. Übergriffe gegen Zivilisten kommen in diesem Bild gar nicht oder nur am Rande vor.

Sichtbarkeit ist ein zentrales Merkmal kollektiver Gewalt.

Karl Kraus hat für diesen Krieg, den die  k.u.k. Armee gegen Zivilisten führte, den Begriff „Austrian Brutalities“ geprägt. Anfang 1919 verwendet er ihn erstmals in der Fackel. Bereits während der Kriegszeit war die Wendung in der englischen Presse aufgetaucht. Kraus übernahm freilich nicht einfach den englischen Propaganda-Ausdruck, sondern entkleidete ihn der Propaganda, indem er ihn mit konkretem Anschauungsmaterial füllte, das er vor allem aus der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“ bezog. Denn, so Kraus, es gehe nicht an, „einem feindlichen Satiriker die Arbeit zu überlassen“. Stattdessen müsse die „Abscheulichkeit dieser Kriegswelt an den nächstliegenden Beispielen dar[ge]stellt“ werden. Nur die „Aussage eines, der in ihrer Atemnähe lebte, wird unverdächtig sein“.

Systematischer Krieg gegen Zivilisten

Zehntausende Männer und Frauen wurden während des Ersten Weltkrieges in den Kriegsgebieten der k.u.k. Monarchie am Galgen hingerichtet. Viele weitere Tausende wurden erschossen, erschlagen oder auf andere Art getötet. Hunderttausende wurden zwangsdeportiert und im Hinterland  in Barackenlagern festgehalten (Abb. 2).
Die Opfer waren Zivilisten. Sie kamen nicht während der Kriegshandlungen ums Leben, sondern wurden hinter der Frontlinie Opfer von willkürlichen Übergriffen des Militärs. Der Großteil dieser Gewalttaten war nicht das Ergebnis „spontaner“ Exzesse, sondern systematischer, planvoll ausgeführter militärischer Gewalt. Sie richtete sich vor allem gegen die nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen an der östlichen und südöstlichen Front, aber auch gegen „verdächtige“ Zivilisten im Hinterland (Abb. 3). Die Militärbehörden gingen brutal und rücksichtslos gegen jene Bevölkerungsgruppen vor, denen kollektiv „russophile“ Neigungen, „Spionage“ und „Kollaboration“ mit dem Feind unterstellt wurden. Die Gewalt richtete sich in den östlichen Gebieten der k.u. k. Monarchie, etwa in Galizien und der Bukowina, aber auch in den besetzten russischen Gegenden gegen Ruthenen (Ukrainer), Polen und Juden, im Süden der k.u.k. Monarchie und in den eroberten Gebieten am Balkan gegen Serben, Montenegriner und Bosnier, aber auch gegen Tschechen und Italiener.

Die Bilder zeigen eine unbekannte, archaisch anmutende Facette des Ersten Weltkrieges. Sie zeigen einen Krieg, den wir vor dem Zweiten Weltkrieg in Europa nicht vermuten würden.

Ein Großteil der Massenhinrichtungen erfolgte ohne militärgerichtliche Verfahren. Meist wurden als Begründungen nur vage Verdächtigungen vorgebracht. Missverständnisse, anonyme Denunziationen oder verbreitete rassistische Hassgefühle reichten aus, um die Maschinerie des Galgens in Gang zu setzen. Die Täter waren Offiziere und Soldaten der k.u.k. Monarchie. Die Schreibtischtäter saßen im Armeeoberkommando in Wien und in den militärischen Kommanden vor Ort. Bis heute gibt es keine verlässlichen Zahlen über die Gesamtzahl der Hinrichtungen während des Krieges. Der österreichische Historiker Hans Hautmann nimmt an, dass zwischen 1914 und 1918 an die 30.000 Ruthenen (Ukrainer) und an die 30.000 Serben hingerichtet worden sind. Die Gewalttaten, die unter Berufung auf die sogenannte „Kriegsnotwehr“ begangen wurden, fanden ohne feld- oder standgerichtliche Verfahren statt. In diesen Fällen liegen auch keine schriftlichen Dokumente vor.

Sichtbarkeit der Gewalt

Dieser brutale Krieg gegen die Zivilbevölkerung wurde in den obersten Etagen der Militärführung geplant und genehmigt, ausgeführt wurde er von einer großen Gruppe von Offizieren und Soldaten im Hinterland der Front. Die Hinrichtungen fanden keineswegs im Geheimen statt, sondern stets weithin sichtbar, an öffentlichen Plätzen, auf Dorfstraßen oder sogar in den Straßen und auf Plätzen von Städten (Abb. 4). Diese Öffentlichkeit ist, so argumentiert der französische Historiker Alain Corbin, ein zentrales Merkmal kollektiver Gewalt. Die Akte der Gewalt mussten sichtbar sein, um in einer Situation der Bedrohung gemeinschaftsbildend zu werden. Ähnliche Überlegungen stellt der in New York lehrende Anthropologe Arjun Appadurai an. Auch er geht davon aus, dass die Sichtbarkeit ein zentrales Merkmal kollektiver Gewalt ist. Daher, so meint er, ist auch die an Körpern verübte Gewalt niemals bloß zufällig. Sie nimmt in ihrem kulturellen Kontext eine genau umrissene Bedeutung an. Jede noch so makabre Erniedrigung weist „Formen kultureller Prägung“ auf.

Nicht nur Soldaten nahmen im Kreis um den Hingerichteten Aufstellung, auch die einheimische Bevölkerung wurde aufgefordert, zum Schauplatz der Hinrichtung zu kommen, um bei den Tötungen dabei zu sein. Sie sollten sehen, wie die Männer und Frauen, die des „Verrats“ und der „Spionage verdächtigt wurden, öffentlich an den Pranger gestellt wurden. Oft ließ man die Leichen tagelang an den Galgen, Bäumen oder Straßenlaternen hängen; zur Abschreckung und als Beweise für die wilde Entschlossenheit des Militärs, gegen Verdächtige mit äußerster Rücksichtslosigkeit vorzugehen. An den Hinrichtungsplätzen gab es also stets Zuschauer: Manchmal waren es Einheimische, immer aber waren Soldaten und Offiziere anwesend. Die Tötungen waren so zahlreich, dass ein großer Teil der Soldaten, die in den Gebieten der Ost- und Südostfront unterwegs waren, mittelbar oder unmittelbar Zeuge von Hinrichtungen geworden sein dürfte. In den Tagebuchaufzeichnungen von Soldaten und Offizieren finden sich immer wieder Hinweise auf die Allgegenwart des Galgens. Weitere Tausende erfuhren davon vom Hörensagen. Fotografien dieser Gewalttaten fanden Eingang in die privaten Fotoalben (Abb. 5), sogar in den Zeitungen wurden hie und da derartige Bilder gedruckt.

Oft ließ man die Leichen tagelang an den Galgen, Bäumen oder Straßenlaternen hängen – als Beweise für die wilde Entschlossenheit des Militärs, gegen Verdächtige mit äußerster Rücksichtslosigkeit vorzugehen.

An den Orten der Hinrichtung wurde ausgiebig fotografiert. Die Aufnahmen stammen überwiegend von Soldaten und Offizieren, die den Szenen als Schaulustige beiwohnten. Sie hatten keine Scheu, die Gewalttaten in privaten Knipserbildern festzuhalten. Anders als im Zweiten Weltkrieg gab es im Ersten Weltkrieg – zumindest in den ersten beiden Jahren – kein offizielles Fotografierverbot, das es den Soldaten untersagt hätte, „Erinnerungsbilder“ an den Hinrichtungsstätten aufzunehmen. Die meisten Aufnahmen entstanden während der ersten Kriegsmonate, als die Hinrichtungen besonders häufig waren und sich innerhalb der Truppen eine regelrechte Spionagehysterie breit machte. Die Fotografen sahen die Massenhinrichtungen offenbar nicht als Akt der brutalen, völkerrechtswidrigen Kriegsführung, sondern als erregendes, oft sexualisiertes Schauspiel, das sich vom oft düsteren Alltag an der Front abhob und das es wert war, für später festgehalten zu werden. Die Bilder waren begehrt und wurden für Freunde und Soldaten vervielfältigt.

Der überwiegende Teil der Aufnahmen stammt von privaten Knipsern, von Soldaten und Offizieren also, die mit einer eigenen Kamera ausgerüstet waren. Unter den Fotografen waren aber auch Kriegsfotografen, die in offiziellem Auftrag arbeiteten. Einige der Aufnahmen wurden als Feldpostkarten vervielfältigt und über die offiziellen Verkaufsstellen der Armee vertrieben. Eine solche Karte zeigt auf der Bildseite eine Hinrichtung (Abb. 6). Das Foto wurde in Ostgalizien aufgenommen, wo genau ist unklar. Dafür ist aber der Fotograf bekannt: Das Bild stammt, so heißt es im Kleingedruckten auf der Rückseite, vom Prager Fotografen F. J. Mařik, es wurde 1916 aufgenommen bzw. vervielfältigt. Die Feldpostkarte trägt den Titel „Verdiente Strafe eines Verräters“. Ebenfalls im Kleingedruckten werden die Verkaufsstellen angeführt: „K.u.k. Feldbuchhandlungen der 4. Armee“. Darunter lesen wir: „Der Reinertrag fällt der Kriegswohlfahrt zu.“

Die Schriftsteller und die Historiker: Erinnern und Vergessen

Man könnte erwarten, dass diese blutigen Ereignisse, die sich stets vor Publikum abspielten und die in zahlreichen Fotos dokumentiert sind, weithin bekannt sind. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der brutale Krieg der k.u.k. Armee gegen die Zivilbevölkerung ist bis heute ein blinder, dunkler Fleck in der Geschichte. Dutzende, ja Hunderte von Büchern wurden in den vergangenen neun Jahrzehnten über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Aber die Historiker haben sich von diesen Ereignissen auffallend ferngehalten. Es ist, als ob es den Fachleuten fürs Vergangene die Sprache verschlagen hätte. Einer der wenigen, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigt haben, ist der österreichische Historiker Hans Hautmann.

Ganz anders ist die Situation im Bereich der Literatur. Eine Reihe von Schriftstellern hat, kaum war die Zensur abgeschafft, die brutale Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung an der Ost- und Südostfront in deutlichen Worten in Erinnerung gerufen und kritisiert. Der bereits eingangs erwähnte Karl Kraus war einer der ersten, der sich nach dem Krieg mit diesen Gewaltereignissen beschäftigt hat. In der Fackel, vor allem aber in seinem monumentalen Antikriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit (1919/1922) kommt er immer wieder darauf zurück. Und auch Joseph Roth erinnert an die Schrecken des vergangenen Krieges: „Der Krieg der österreichischen Armee“, schreibt er in seinem Roman Radetzkymarsch, „begann mit Militärgerichten.“ Neben Joseph Roth und Karl Kraus beschreiben zahlreiche weitere Schriftsteller das Bild des Galgens als weithin sichtbares Zeichen für den brutal geführten Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Ost- und Südosteuropa. Im breiten Spektrum literarischer Beiträge zum Krieg bilden diese mahnenden Stimmen eine verschwindende Minderheit.

Womit hat diese Vergesslichkeit der Historiker zu tun? Gewiss lässt sich dafür eine Reihe von Gründen anführen, die in die Kriegszeit selbst zurückführen. Da ist zunächst, um nur einige wenige Gründe zu nennen, die Zensur während des Krieges, die Meldungen von Kriegsverbrechen systematisch unterdrückte. Da ist die Kriegspropaganda, die die systematischen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung als legitime und gerechtfertigte „Strafmaßnahmen“ gegen „Verräter“ und „Spione“ darstellte. Da sind die seit dem 19. Jahrhundert tief verankerten rassistischen Stereotype, die – vor allem in Ost- und Südosteuropa – die späteren Opfer der Gewalt schon lange vor dem Krieg als minderwertige „Fremde“ und „Andere“ markiert und gebrandmarkt hatten und die auch in der Zwischenkriegszeit weiter kultiviert wurden.

An den Orten der Hinrichtung wurde ausgiebig fotografiert. Schaulustige Soldaten und Offiziere, die den Szenen beiwohnten, hatten keine Scheu, die Gewalttaten in privaten Knipserbildern festzuhalten.

Das eigentliche Vergessen wurzelt aber nicht in den Jahren 1914 bis 1918, sondern es setzte erst nach seinem Ende ein, als die Zensur abgeschafft war und (im Westen) republikanische Staaten an die Stelle der Monarchien getreten waren. Zwar fegte am Ende des Ersten Weltkrieges die revolutionäre Stimmung die Monarchien in Deutschland und Österreich hinweg, aber zu einer bedingungslosen Aufklärung der Kriegsverbrechen reichte dieser revolutionäre Elan nicht. Weder in Deutschland noch in Österreich wurden die Übergriffe des Militärs ernsthaft aufgeklärt. Es gab zwar einige wenige halbherzige Urteile, kein einziges aber bezog sich auf Gewalttaten, die an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Die politische und publizistische Bewegung der Kriegskritiker und -gegner, die belastendes Material veröffentlichten, hatte bereits Mitte der 1920er-Jahre ihre Kraft verloren. Die Ansätze einer kritischen Erinnerung wichen in den 1920er-Jahren zunehmend einer pathetischen Überhöhung des Krieges. Mehr und mehr setzte sich ein neuer, aggressiver Revanchismus durch. Damit einher ging der Aufbau einer nationalistischen Geschichtsschreibung, die den Krieg heroisierte und seine Schattenseiten ein weiteres Mal der Aufklärung entzog. In der offiziellen Geschichtsschreibung war die Erinnerung an den Krieg gegen die Zivilbevölkerung bereits vor 1933 getilgt, in der Zeit des Nationalsozialismus setzte sich diese Haltung fort. Kritische pazifistische Stimmen wurden nun endgültig zum Schweigen gebracht.

Nach 1945 lagerten sich die Fotografien anderer und noch weit umfassenderer Brutalitäten über dem Bilderbe des Ersten Weltkrieges ab. Es war nun der Zweite, nicht mehr der Erste Weltkrieg, der zum Sinnbild eines grausamen Vernichtungskrieges geworden war. Die Hinrichtungsfotos aus dem Ersten Weltkrieg tauchten nun nicht mehr in der Öffentlichkeit auf, auch wenn einige Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg erstaunliche Ähnlichkeiten mit Szenen aus dem Ersten Weltkrieg aufweisen.

Erst in den 1960er-Jahren haben die Arbeiten des deutschen Historikers Fritz Fischer eine Umorientierung der Forschungen zum Ersten Weltkrieg eingeleitet. Durch die Untersuchung der imperialistischen Kriegszielpolitik des deutschen Reiches öffnete sich auch ein neuer Blick auf die Strategien der Kriegsführung in Osteuropa. Aber mit dem Krieg gegen die Zivilbevölkerung und den Kriegsverbrechen beschäftigten sich die Historiker in der Folge noch längere Zeit nicht. Erst in jüngster Zeit hat sich die Geschichtswissenschaft – zögernd – dieses Themas angenommen. Dabei fällt auf, dass sich die Autoren zunächst fast ausschließlich den Kriegsschauplätzen an der Westfront zugewandt haben. Erst in allerletzter Zeit erschienen einige wenige Studien, die sich mit den Ereignissen an der Ost- und Südostfront beschäftigen.

Mythen der Geschichtsschreibung

Weshalb, so können wir fragen, wird bis heute so unbeirrbar an den Mythen des Ersten Weltkrieges festgehalten? Die Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges hat die brutale Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung schon seit Längerem untersucht. Vergleichbare Mythen vom „sauberen Krieg“ wurden, bezogen auf den Krieg der Jahre 1939 bis 1945, weitgehend entsorgt. Spätestens seit der ersten Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 und der an sie anschließenden Debatten und Forschungen hat sich das Bild des Zweiten Weltkrieges entscheidend geändert. Für den Ersten Weltkrieg gilt dies nicht: Immer noch ist das Klischee vom Krieg an der Front und vom Krieg Soldaten gegen Soldaten aufrecht. Ein zentraler Grund für die rückblickende Mythologisierung dieses Krieges liegt darin, dass diese ein komplexes historisches Gebäude über die Geschichte des 20. Jahrhunderts stützt. Konkret gesprochen: Dieses Gebäude geht von einer strikten Trennung zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg aus. Während der Erste Weltkrieg nach wie vor in die lange Reihe „normaler“ Kriege integriert wird, markiert der Zweite Weltkrieg den Zivilisationsbruch, der im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg kulminiert.

Massenhinrichtungen als sexualisiertes Schauspiel, das sich vom düsteren Alltag an der Front abhob und das es wert war, für später festgehalten zu werden. Die Bilder waren begehrt und wurden für Freunde und Soldaten vervielfältigt.

Lange Zeit wurde die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts unter Aufrechterhaltung dieser ehernen Trennlinie zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg beschrieben. Ich denke aber, dass es notwendig ist, diese scheinbar so klare Trennlinie zu hinterfragen. Heute ist der Begriff „Vernichtungskrieg“ in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft eindeutig zugeordnet. Er bezeichnet, nicht zuletzt im Gefolge der Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht und der heftigen medialen Debatten, die sich daran anschlossen, eine lange Zeit  verdrängte Seite des Zweiten Weltkrieges: die Beteiligung von Teilen der Wehrmacht am Vernichtungskrieg Hitlers. Was in dieser Diskussion weitgehend ausgeblendet wurde und wird, ist die Tatsache, dass dieser Begriff eine Vorgeschichte hat, die vor die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht. Zwar wurden die Ursachen und Traditionen der brutalen Kriegsführung der deutschen Wehrmacht immer wieder diskutiert, aber eine Vorgeschichte, jene des Vergeltungs- und Verwüstungsfeldzuges, der im Ersten Weltkrieg vor allem gegen die Zivilbevölkerung im Osten und Südosten Europas geführt wurde, wurde meist ausgespart.

Es stimmt zwar, dass viele Aspekte dieses „ersten“ Vernichtungskrieges noch nicht hinreichend untersucht sind und dass es zahlreiche gravierende Unterschiede gibt. Aber aus den bisherigen Forschungen geht eindeutig hervor, dass der Zweite Weltkrieg hinsichtlich der Formen der Kriegsführung auf eine Reihe von Praktiken aus dem Ersten Weltkrieg zurückgriff. Dazu gehört die Brutalisierung der Kriegsführung, die sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung richtete. Dazu gehören systematische Vertreibungen und Zwangsdeportationen der Zivilbevölkerung im Kriegsgebiet, die Internierung von „verdächtigen“ Zivilisten und vermeintlichen politischen Gegnern in Straf- und Arbeitslagern, der massenhafte Einsatz von Zwangsarbeitern, systematische Plünderungen, Brandschatzungen und Geiselnahmen, Massenvergewaltigungen und Massenhinrichtungen von Zivilisten. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg griff einzelne dieser Strategien auf, radikalisierte sie und fügte sie in ein umfassendes, rassistisch begründetes Programm der Vernichtung und Zerstörung ein.

Verwischte Spuren

Vielleicht ist gerade dies das Irritierende und Beunruhigende an den Fotos aus dem Ersten Weltkrieg: Sie zeigen eine unbekannte, archaisch anmutende Facette des Ersten Weltkrieges. Sie zeigen einen Krieg, den wir vor dem Zweiten Weltkrieg in Europa nicht vermuten würden. Sie durchkreuzen unser festgefügtes Bild der Jahre 1914 bis 1918. Aus heutiger Sicht ist es ein beschämender Krieg, ein Krieg Bewaffneter gegen Unbewaffnete, ein Krieg von Soldaten gegen Zivilisten, von Männern gegen Frauen, sogar von Männern gegen Kinder (Abb. 7). Und dennoch: Der Krieg, der in den Jahren 1914 bis 1918 gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde, stellt keinen „Ausrutscher“ in der Geschichte des modernen Krieges dar. Er ist – so lautet meine These – vielmehr dessen konstitutiver Bestandteil. Die moderne Kriegsführung, die sich im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, hat die Front und das Hinterland miteinander verschweißt. Karl Kraus hat es treffend ausgedrückt: „Die Front ist ins Hinterland hineingewachsen.“

Die Historiker haben sich von diesen Ereignissen auffallend ferngehalten.

Was bedeutet es, neun Jahrzehnte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, also am Beginn des 21. Jahrhunderts, ein bisher kaum bekanntes Ereignis in Bildern zu rekonstruieren? Im Falle des Ersten Weltkriegs sind keine Täter und keine Opfer mehr am Leben, die über diese Ereignisse berichten könnten. Bei diesen Fotografien handelt es sich also um wichtige, unersetzbare Dokumente eines Krieges, der lange Zeit vergessen war und der in schriftlicher Form nur sehr lückenhaft dokumentiert ist. Und doch ist Vorsicht im Umgang mit den Fotografien geboten. Die Fotos berichten scheinbar unmittelbar und direkt von den Gewalttaten, die systematisch und planmäßig hinter der Frontlinie begangen wurden. Aber sie zeigen nur einen Teil dieser Wirklichkeit, eben jenen Teil, der auf der Seite der Täter (aufseiten der Opfer wurde nicht fotografiert) als fotografierwürdig galt: Hinrichtungen, die militärjuristisch sanktioniert waren, und nicht wilde Plünderungen oder Vergewaltigungen, „Flüchtlinge“ und nicht Deportationen, Hinrichtungen angeblicher „Spione“ am Galgen und nicht ihre massenhaften Erschießungen. Ohne Kontextinformationen sind ihre Bedeutungen nur schwer zu erschließen. Die Fotos selbst sind oft nicht einfach zu interpretieren. Denn immer noch finden sich die Aufnahmen von Hinrichtungen in den Fotoarchiven unter den denunzierenden Begrifflichkeiten der einstigen Militärlogik. In den Bildtexten sind die Opfer weiterhin „Spione“ und „Verräter“ – und nicht Opfer eines brutalen Feldzuges gegen die Zivilbevölkerung. Erst wenn wir den Schutt der kriegerischen Bedeutungen, die diese (wie auch alle anderen) Kriegsbilder mit sich tragen, ein Stück weit beiseite geräumt haben, beginnen die Fotos auf neue Weise zu sprechen. Erst wenn wir die beschönigenden, propagandistischen Bildtexte infrage stellen und die Fotografien bewusst in neue historische Zusammenhänge stellen, werden sie zu spannenden Quellen der Geschichtsschreibung.

Viele dieser Dokumente sind nur bruchstückhaft überliefert. Und dennoch sind diese Bilder wichtig: In ihnen erhalten einige der Opfer zum ersten Mal in der Geschichte ein Gesicht (wenn auch meist keinen Namen). Aber auch die Täter werden in den Bildern kenntlich – und nicht zuletzt die Zuschauer. Wir sollten uns mit diesen Bildern beschäftigen, denn die Männer, die sich als Henker, als Schaulustige oder als Fotografen unter dem Galgen versammelt haben, waren keine Fremden. Es waren unsere Groß- und Urgroßväter.

Anton Holzer, geboren 1964, Dr. phil., Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Innsbruck, Bologna und Wien, Herausgeber der Zeitschrift FOTOGESCHICHTE, arbeitet als Fotohistoriker, Publizist und Ausstellungskurator in Wien. 2006/07 Research Fellow am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften) in Wien. Zuletzt erschienene Bücher: Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg (Primus Verlag, 2007), Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918 (Primus Verlag, 2008) und Elly Niebuhr, Fotografin aus Wien. Alltag und Haute Couture (Böhlau Verlag, 2009). www.anton-holzer.at

Quelle: Recherche 4/2009

Online seit: 05. Oktober 2019

Anton Holzer: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918. Primus, Darmstadt 2008. 244 S., € 39,90 (D) / € 41,10 (A).

Die Bilder auf diesen Seiten stammen aus dem Buch.