Vom Völkerrecht zum Weltrecht?

Kontroverse Weltordnungspolitik in zerklüfteter Welt. Von Dieter Senghaas

Online seit: 10. Oktober 2019

In einer „kurzen Geschichte des 21. Jahrhunderts“ vertritt der Mitarbeiter der New York Times und Bestsellerautor Thomas L. Friedman die These: Die Welt ist flach – so der Titel des 2005 erschienenen, inzwischen in viele Sprachen übersetzten Erfolgsbuches. Nun bestätigen einige Erscheinungen in der sich globalisierenden Welt in gewisser Hinsicht diese Perspektive – so die Rolle und Funktion des Internets, globale Wertschöpfungsketten via outsourcing, offshoring, insourcing, auch die digitale Organisation von Arbeitsabläufen sowie andere sich weltweit organisierende Prozesse. Dennoch ist diese Perspektive, vor allem wenn sie wie in diesem Fall übertrieben formuliert wird, zu weltflächig, als dass sie die real existierende Welt zureichend zu beschreiben oder gar analytisch aufzuschlüsseln vermag. Denn diese heute existierende Welt wird durch dramatische Zerklüftungen und weltweit abgeschichtete Problemlagen gekennzeichnet.

Zerklüftete Welt

Die Makrostruktur der Welt wird durch eine extreme Hierarchisierung und Abschichtung gekennzeichnet. Es besteht eine Kluft zwischen einem Gravitationszentrum, das sich durch eine dichte symmetrische Vernetzung auszeichnet, und dem „Rest der Welt“. Dieses Gravitationszentrum, die OECD-Welt mit 15 Prozent Anteil an der Weltbevölkerung und  75 Prozent Anteil am Weltbruttosozialprodukt, ist heute in jedweder Hinsicht tonangebend. Von asymmetrischer Interdependenz mit der Folge struktureller Abhängigkeit wird dagegen die Ausrichtung der übrigen Welt und somit des größten Teils der Weltbevölkerung auf eben dieses Gravitationszentrum gekennzeichnet. Diesem in sich hoch koordinierten Gravitationszentrum steht bisher ein vergleichbar koordiniertes kollektives oder auch nur regionales Machtzentrum nicht entgegen. Zwar wird die Herausbildung der sogenannten BRICs-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China) vielfach diskutiert, also eine unterstellt emergente Mächtekonstellation als potenzielles Gegengewicht zur Prädominanz der USA und der OECD-Welt insgesamt sowie der von dieser Gruppierung maßgeblich gesteuerten internationalen Organisationen. Gemessen an den derzeit immer noch obwaltenden weltpolitischen Realitäten ist hier eher der Wunsch der Vater des Gedankens als eine nüchterne Analyse.

In dieser Makrostruktur der Welt zeigen sich auf Makroebene wie auch in den einzelnen Gesellschaften sowohl Prozesse der Aufwärtsmobilität (z.B. Ostasien) als auch der Abwärtsmobilität (z.B. Schwarz-Afrika). Dramatische Ausmaße sind dort zu beobachten, wo bei gleichzeitiger Aufwärts- und Abwärtsmobilität die absolute Zerklüftung wächst (wie beispielsweise zwischen der OECD-Welt beziehungsweise dem aufwärtsmobilen Ostasien einerseits und dem abwärtsmobilen Schwarzafrika andererseits). Aber auch im Falle von einzelnen aufwärtsmobilen Gesellschaften (z.B. China) zeigen sich jeweils intern Zerklüftungen eines relativen oder absoluten Ausmaßes, meist raumgeografisch beziehungsweise schichtspezifisch differenziert. Selbst die OECD-Welt ist, wenngleich immer noch in mäßigem Ausmaß, inneren Zerklüftungstrends ausgesetzt – dies insbesondere in der Folge eines erfolgreichen Verdrängungswettbewerbs vonseiten aufwärtsmobiler Drittweltstaaten in Produktbereichen unterhalb der Spitzenbranchen. So kommt es auch in diesen Gesellschaften, wie immer schon ausgeprägt in sogenannten Drittweltländern, zur Herausbildung eines „marginalen Pols“ von Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt weder als Produzenten noch als Konsumenten zählen. Was in der lateinamerikanischen dependencia-Diskussion einst in den 1960er- und 1970er-Jahren für Lateinamerika diagnostiziert wurde, nämlich eine zunehmende innere Zerklüftung in der Folge von Integration in eine asymmetrisch strukturierte Weltwirtschaft (damals strukturelle Heterogenität genannt), ist inzwischen zu einem, wenngleich abgeschichteten weltweiten Phänomen geworden.

Kontroverse Weltordnungspolitik

Welche Implikationen hat diese Makrostruktur für Weltordnungspolitik und Weltordnungsprogrammatiken?

Imperium/Hegemonie

Eine hierarchisierte und abgeschichtete Struktur, gekennzeichnet durch ein Agglomerationscluster an der Spitze und eine weitläufige Fragmentierung der Akteure darunter, provoziert ganz natürlicherweise imperiale beziehungsweise hegemoniale Weltordnungsprogrammatiken. Anders als in ferner Vergangenheit gleichen diese jedoch heute immer mehr abwegigen Machtfantasien als operativ-realistischen Konzepten. Dies hindert jedoch nicht daran, dass eine Politik dieser Orientierung (wie zum Beispiel im Falle der USA unter dem Vorzeichen von „Unipolarität“) in politische Praxis zu übersetzen versucht wurde. Ihr Scheitern ist jedoch unabweisbar. Der wesentliche Grund besteht darin, dass heute im Unterschied zu früheren Jahrhunderten die soziale Mobilisierung einzelner Gesellschaften und ihre daraus resultierende Politisierung weltweit (und gerade auch in der Zone der Fragmentierung) so weit fortgeschritten sind, dass einer früher denkbaren und auf Zeit verlässlichen imperialen oder hegemonialen Politik dieser Art in der Tendenz allenthalben der Boden entzogen wird. Zwar gibt es immer noch die für eine imperiale und hegemoniale Politik unerlässlichen Brückenköpfe vor Ort (zum Beispiel vom Typ des Mubarak-Regimes in Ägypten für die Politik der USA beziehungsweise des Westens). Aber solche Brückenköpfe, die sich besonders exponieren, werden vor Ort immer mehr zum Ziel politischen Widerstands. Sie können sich dann oft nur über die Inszenierung einer fremdfinanzierten klientelistischen Politik in Kombination mit verstärkter Repression auf Zeit am Leben erhalten, was die jeweilige politische Krisenproblematik verschärft.

Multipolares Mächtekonzert

Eine weitere, sich realpolitisch verstehende Vorstellung über Weltordnung sieht in einer Mächtekonstellation, aufbauend auf jeweils regionalen Vormächten, eine tentative Lösung des Weltordnungsproblems. In solchen Konzepten werden die USA, EU-Europa und die sogenannten BRICs-Staaten als in der Weltpolitik privilegierte Ordnungshüter gehandelt. Aber diese regionalen Vormächte sehen sich der gleichen Problematik gegenüber wie potenzielle Aspiranten weltimperialer Politik: nämlich einer nicht mehr von außen kostengünstig inszenierbaren Beherrschbarkeit von Staaten und Völkern, die sich in aller Regel in politischen, gesellschaftlichen und oft auch in kulturellen Umbruchsituationen befinden. Hinzu kommt, dass zumindest in der bisherigen neuzeitlichen Geschichte die Herausbildung neuer Mächtekonstellationen eine sogenannte power transition-Problematik provoziert hat, das heißt eine Konfliktkonstellation zwischen einer ehedem führenden, nunmehr potenziell absteigenden Macht und einer aufsteigenden, an Machtpotenzial gewinnenden neuen Macht – eine Konstellation, die heute insbesondere zwischen den USA und China im Entstehen ist und in beiden Ländern (seit vielen Jahren insbesondere in den USA) intensiv diskutiert wird. Ob eine solche Hegemoniekrisenproblematik sich tatsächlich in eine weltpolitisch virulente Konfliktkonstellation übersetzt oder aber das weltpolitisch relevante Ergebnis einer solchen Machtverlagerung in einer diesen Prozess abfedernden Konzertierung beider oder mehrerer Mächte besteht, letztendlich also in ein Mächtekonzert mündet, ist eine ex ante schwer zu beantwortende Frage.

Die Ordnung der Vereinten Nationen

Eine dritte Weltordnungsprogrammatik konzentriert sich auf das System der Vereinten Nationen. Korrekterweise müsste diese Programmatik an erster Stelle genannt werden, denn die Vereinten Nationen sind heute unbestreitbar der völkerrechtlich verbindliche Ordnungsrahmen für die heutige Welt. Dieses System ist weit eher auf der Höhe der Zeit, als es die vorgenannten Programmatiken je noch sein könnten, denn es ist universal ausgerichtet, gleichzeitig in vielfältige regionale (ECLA u.a.) und funktionale Subsysteme (UNCTAD u.a.) untergliedert. Als weltweiter Ordnungsrahmen bauen die Vereinten Nationen auf alten, auf neuen und auf sich neu herausbildenden Ordnungsprinzipien auf: also auf Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (alt), auf einem prinzipiellen Gewaltverbot samt den sich daraus ableitenden Modalitäten kollektiver Sicherheit (neu gegenüber dem klassischen Völkerrecht). In Auseinandersetzung mit 1945 noch nicht antizipierten Problemlagen kam und kommt es auch zu einer erweiterten Interpretation ursprünglich eng gefasster Begriffe und operativer Konzepte, so insbesondere im Hinblick auf das, was diesseits kriegerischer Aggression als „Bedrohung des Friedens“ (Art. 39 der Charta) verstanden wird beziehungsweise verstanden werden soll. Letztere sich neu herausbildenden Reinterpretationen schränken gegebenenfalls (wenn auch nicht verlässlich) die Souveränitätsansprüche der Mitglieder der Vereinten Nationen ein.

Die Makrostruktur der Welt wird durch eine extreme Hierarchisierung und Abschichtung gekennzeichnet.

Wäre das Handeln der Vereinten Nationen und entsprechende Entscheidungen in dieser Hinsicht anhaltend konsistent und folglich Erwartungsverlässlichkeit gewährleistet, wäre der Übergang von einem Völkerrecht herkömmlichen Typs zu einem auf dieser Ebene operativ werdenden Weltrecht mit Vorrangcharakter erwartbar. Einem solchen denkbaren, ja wünschbaren Übergang steht jedoch ein Sachverhalt eklatant entgegen: die problematische Rolle des Sicherheitsrates – eines Gremiums, in dem sich eine althergebrachte Mächtekonstellation wiederfindet, deren Mitglieder de facto und gemäß der Konstruktion des Sicherheitsrates auch letztendlich de jure, also auf legaler Basis, nationale Interessenpolitik betreiben können, sofern sie dies nur wollen. Da die Entscheidungen dieses Gremiums, meist à la carte gefällt, überdies nach Art. 25 der Charta rechtsverbindlichen Charakter haben (was immer dies im Einzelnen bedeuten mag) und sie gleichzeitig ohne legislativen Vorlauf zustande kommen, im Übrigen eine rechtliche Kontrolle der Beschlüsse des Sicherheitsrates nicht vorgesehen ist (und überdies Institutionen wie der Internationale Gerichtshof eine solche rechtliche Überprüfung nicht zu seinen Obliegenheiten zählt), handelt es sich beim Sicherheitsrat um ein Organ der Vereinten Nationen von neoabsolutistischem Zuschnitt.

Einer Kritik dieses Sachverhalts wird oft entgegengehalten, dass dieses Profil des zentralen Organs der Vereinten Nationen, gewissermaßen seines Zentralkomitees, in der Charta bewusst so konzipiert worden sei, weil es ohne eine solche Konzeptualisierung einst gar nicht zur Gründung der Vereinten Nationen gekommen wäre und weil ohne solche Machtvollkommenheit, insbesondere der Vetomächte des Sicherheitsrates, aber auch des Gremiums insgesamt, die Vereinten Nationen noch weniger handlungsfähig wären, als dies heute der Fall ist. Ob diese Einschätzung korrekt ist oder ob nicht umgekehrt ein Sicherheitsrat, der in eine rechtsstaatsanaloge institutionelle Konfiguration eingebunden wäre, diesem Organ selbst und darüber hinaus den Vereinten Nationen insgesamt Anerkennung und Legitimität verschaffen würde, einschließlich einer höheren Bereitschaft, erforderliche Ressourcen bereitzustellen, sollte ernsthaft diskutiert werden. Auf jeden Fall ist die dargelegte Problematik – die Abwesenheit von due process- und rule of law-Prinzipien – weit gewichtiger als die Auseinandersetzungen über eine potenzielle Erweiterung des Sicherheitsrates um weitere ständige und nichtständige Mitglieder (mit oder ohne Veto-Befugnisse). Denn der neoabsolutistische Charakter dieses obersten Gremiums würde durch eine Erweiterung kaum abgefedert und vor allem nicht prinzipiell verändert.

Globale Regelwerke

Eine vierte Weltordnungsprogrammatik verbindet sich heute mit dem Begriff global governance, so insbesondere in politikwissenschaftlichen Auseinandersetzungen über internationale Beziehungen. Dieses Konzept ist in dieser Diskussion inhaltlich relativ breit ausgelegt: Es bezieht sich auf eine Weltordnungspolitik, die ihren Niederschlag in der institutionellen Ausgestaltung globaler, insbesondere politikfeldspezifischer Problembereiche findet, somit in einem breiten Spektrum internationaler Regelwerke oder Regime, die ganz unterschiedliche Ausprägungen haben – einerseits normativ, institutionell und prozedural relativ dichte Profile bei leidlich hoher Effektivität, aber durchaus immer noch fragwürdiger Legitimität, andererseits (am anderen Ende des Spektrums) erst anzustrebende global governance-Vorhaben, also entsprechende Strukturen, die im strikten Sinne des Konzepts noch nicht existieren, sondern in Deklarationen und Programmatiken über eine wünschenswerte politikfeldspezifische Weltordnungsstruktur avisiert werden. Ersteres Profil dokumentiert sich beispielsweise in der Welthandelsorganisation (WTO), Letzteres in den derzeitigen ersten Bemühungen auf diplomatischer Ebene, angesichts der Vielzahl von internationalen, einzelstaatlichen und privaten Akteuren Entwicklungskooperation vermittels eines internationalen Regelwerkes zu koordinieren, wenn nicht gar zu konzertieren.

Regelwerke: dicht und dünn

In aller Regel global ausgerichtet können sich politikfeldspezifische Regelwerke beziehungsweise global governance-Arrangements den durch die Makrostruktur der Welt bedingten Zerklüftungen nicht entziehen, obgleich manche dieser institutionellen beziehungsweise quasi-institutionellen Arrangements natürlich zum Ziel haben, eben diesen Zerklüftungen entgegenzuwirken. Einige Beispiele seien erwähnt: Am deutlichsten dokumentiert sich die derzeitige krude Machtverteilung in der Welt im Nonproliferationsregime. Angelegt, die Proliferation von Nuklearwaffen zu verhindern und ausgerichtet auf die nukleare Abrüstung der Nuklearmächte, führt dieses Regime angesichts einer erodierenden Legitimität in der Folge der Nichtabrüstung der Nuklearmächte eher zu Proliferation als zu einer Welt ohne Nuklearwaffen.

Ganz anders stellt sich das Welthandelsregime dar, das sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch eine sukzessiv zunehmende Dichte auszeichnet. Letzteres gilt sowohl im Hinblick auf die Zielsetzungen (die Erschließung immer weiterer Bereiche für Freihandel) als auch hinsichtlich der institutionellen Verfasstheit des Regelwerkes, neuerdings der Welthandelsorganisation (WTO) samt dem darin institutionalisierten Mechanismus der Streitbeilegung: eines Konfliktregelungsmechanismus, der anders als in der Vorgängerorganisation (GATT) nicht mehr auf politisch motivierten und diplomatisch ausgehandelten bargaining-Prozessen aufbaut, sondern auf eine Streitbeilegung vermittels quasi-rechtsförmiger Prozesse ausgerichtet ist. Aber auch dieses Regelwerk, das einer soliden sektoralen Teilordnung auf Weltebene am nächsten kommt, ist nicht ohne Probleme: Denn in diesem internationalen Regime wird (wie zu GATT-Zeiten immer schon) unterstellt, dass Freihandel per se wohlfahrtsfördernd, insbesondere auch entwicklungsfördernd ist, und dass Freihandel folglich dazu beitragen wird, die sozioökonomischen Disparitäten innerhalb von Gesellschaften abzubauen und insbesondere diejenigen zwischen entwickelten und unterentwickelten Gesellschaften zu überwinden. Eine nichtkonditionierte und folglich dogmatische Fixierung auf Freihandel um des Freihandels willen verstellt jedoch den Blick auf jene Bedingungen, die auf internationaler und auf lokaler Ebene vorhanden sein müssen, damit Freihandel potenziell jene Wirkungen zeitigt, die ihm in diesem Regelwerk abstrakt als immer schon gegeben beziehungsweise erreichbar unterstellt werden. In diesem Zusammenhang sind die entwicklungsgeschichtlichen Erfahrungen Europas und neuerdings der Schwellenländer Ostasiens besonders relevant. Die Entwicklungserfolge dieser Wirtschaftsräume (wie auch derjenigen Nordamerikas und Ozeaniens) waren nicht auf Freihandel pur und simpel ausgerichtet, sondern auf ein Entwicklungsszenario à la F. List: selektive Integration in die Weltwirtschaft; selektive Dissoziation, um den eigenen Binnenmarkt breitenwirksam zu entwickeln; langfristig eine freihändlerische Orientierung.

Um eine ausgeglichene Weltwirtschaftsstruktur zu erreichen, wäre es im Übrigen nützlich, die weit ausdifferenzierten Konventionen über Arbeits- und Sozialstandards, wie sie insbesondere in ILO-Übereinkommen niedergelegt sind, in eine direkte Verbindung zum WTO-Regelwerk zu bringen. Damit würde die heute unfruchtbare Zweigleisigkeit zwischen beiden Regelwerken überwunden. In ihr dokumentiert sich die derzeit unbestritten vorherrschende neoliberale Ausrichtung des Welthandelsregimes und die relative politische Machtlosigkeit weltarbeitsrechtlicher Vorhaben vermittels von ILO-Aktivitäten.

Überdies wäre erforderlich, wie die jüngste internationale Finanzkrise allenthalben klargemacht hat, dass die bisher erstaunlich unterregulierten und einer Kontrolle weithin entzogenen internationalen Finanztransaktionen einer umsichtigen Regulierung durch öffentliche Instanzen zu unterwerfen sind; weiterhin dass Abkommen (wie Basel I und II), die einige Modalitäten der Selbstregulierung von Banken vorsehen (wie die Festsetzung von Eigenkapitalquoten bei der Vergabe von Krediten), von diesen nicht „legalerweise“ unterlaufen werden etc. Eine verstärkte Regulierung in diesem Sektor könnte und muss dazu beitragen, vermittels einem oder mehrerer Regelwerke die Transparenz und die Rechenschaftspflichtigkeit der die internationale Finanzwelt bestimmenden Akteure und Institutionen herzustellen und somit welt- und nationalwirtschaftlichen Verwerfungen in der Folge defizitärer Regulierung entgegenzuwirken. Dass Regulierungen in dieser Hinsicht bisher kaum zustande kamen, auch dieser Sachverhalt dokumentiert die realexistierenden Machtverhältnisse in der Welt samt der daraus resultierenden Prädominanz neoliberaler Programmatik. Es ist dennoch erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sich der derzeitige durch die WTO sowie durch regionale und bilaterale Arrangements vielfältig regulierte internationale Handel mit Waren und Dienstleistungen pro Jahr auf etwa 12.000 Milliarden Dollar (2006) beläuft, während zwischen den Finanzzentren der Welt pro Börsentag Transaktionen in der Größenordnung von rund 3.000 Milliarden Dollar ohne auch nur annähernd vergleichbare Regulierung getätigt werden – das sind bei zirka 250 Börsentagen Transaktionen von etwa 750.000 Mrd. Dollar pro Jahr, was etwas mehr als dem 60-fachen des jährlichen Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen entspricht.

Die politisch bisher gewollt unterregulierte internationale Finanzwelt kontrastiert deutlich mit einer Vielzahl von globalen, regionalen, subregionalen und auch bilateralen Regelwerken beziehungsweise Verträgen im Umweltbereich: dies im Spektrum zwischen beispielsweise der Rio-Klimarahmenkonvention von 1992 einerseits und diversen Übereinkommen zur Verhütung der Verschmutzung von Flüssen beziehungsweise des Meeres andererseits. Beim Zustandekommen und der Implementation vieler dieser auf den Schutz der Umwelt gerichteten Übereinkommen spielen Nichtregierungsorganisationen eine wichtige Rolle. Offensichtlich ist eine Pluralität von Netzwerkbildungen samt einer Pluralität der darin involvierten Akteure (einschließlich finanzstarker Stiftungen) das besondere Kennzeichen der global health governance, und dies trotz der Exis-tenz der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wobei sich in diesem Fall die Diskrepanz zwischen WHO und privaten Akteuren in der Verfügung über materielle Ressourcen nachdrücklich zugunsten von Netzwerkaktivitäten auswirkt.

Jede einzelne dieser Problemlagen führt potenziell zu einer Überlastung der Erkenntnis-, Willensbildungs- und Entscheidungssysteme.

Dieses Beispiel verweist überdies, konzeptuell betrachtet, auf den Übergang zu Formen der „regulierten Selbstregulierung“, also auf global governance als ein Zusammenwirken von Staat (im Hintergrund) und privater Selbstorganisation, wie es am Beispiel der internet governance im Rahmen der Internet Corporation for Assigned Numbers and Names (ICANN) zu beobachten ist. Schließlich setzen im Bereich des sogenannten privaten Weltrechts (Lex Mercatoria, Lex Sportiva, Lex Informatica), Unternehmen, Vereinigungen und Organisationen autonom beziehungsweise selbstverwaltend international verbindliche Verhaltensnormen fest und sorgen für ihre Implementation.

Alle diese Arrangements – im weiten Spektrum zwischen dem Typ von Nonproliferationsabkommen bis hin zu privaten weltrechtlichen Vertragsordnungen – kommen zustande, weil in den einzelnen Politik- beziehungsweise Problemfeldern ein Koordinations- oder Problemlösungsbedarf besteht, der über die Fähigkeiten und Kompetenzen von Einzelstaaten und Einzelakteuren hinausgeht und folglich von diesen je einzeln nicht bewältigt werden kann.

Regelwerke als Ergebnis weltweiter Diskurse

Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang öffentliche Diskurse haben, also Erörterungen von Politikern, Interessenvertretern und Wissenschaftlern (Letztere im Kontext sogenannter epistemic communities), war in den vergangenen Jahren und wird im kommenden Jahrzehnt am Beispiel der weltordnungspolitischen Neuausrichtung auf eine responsibility to protect, das heißt auf eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft in Fällen extremer Missachtung international weitgehend akzeptierter Verhaltensstandards und daraus resultierender Notlagen von Bevölkerungen, zu beobachten sein. Dies ist ein vor wenigen Jahren politisch-programmatisch inszenierter Vorgang mit weltweit beachtlicher Resonanz, der sich derzeit allerdings noch nicht in eine handfeste institutionell abgesicherte Regimebildung übersetzt hat, von entsprechender, an verbindlichen Regeln orientierter Implementation in konkreten Fällen ganz zu schweigen. Ein solches wünschenswertes Regelwerk würde allerdings eine allseits akzeptierte Kasuistik legitimer Interventionen, derzufolge mit gleichen Fällen im Rahmen eines rechtsstaatsanalogen Prozedere gleich verfahren würde, voraussetzen, das heißt in der Konsequenz: einen grundlegend reformierten Sicherheitsrat. Von der Existenz eines solchen Regimes ist die Weltgemeinschaft noch weit entfernt; möglicherweise wird sie es nie erreichen, aber allein schon der öffentliche Diskurs macht einen Unterschied, wenngleich sicherlich nicht ums Ganze.

Konflikt über Weltrecht

Die heute und in naher Zukunft beobachtbaren politischen und wissenschaftlichen Kontroversen über die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft lassen somit zeitnah beobachten, wie internationale Regime beziehungsweise global governance-Arrangements unterschiedlichen Typs üblicherweise zustande kommen. In aller Regel sind sie das Ergebnis einer langwierigen Konfliktgeschichte, in der die Verfechter weitsichtiger neuer Programmatiken auf den Widerstand von Status-quo-Anhängern stoßen, wobei sich die Vertreter beider Positionen früher eher aus staatlichen Institutionen rekrutierten, während heute die zivilgesellschaftliche Komponente national und international organisierter Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaftsverbände in solchen Kontroversen eine erhebliche Rolle spielt. Dieser Sachverhalt wird augenfällig besonders auch durch die Geschichte der Auseinandersetzungen um den Inhalt und die Reichweite von Menschenrechten dokumentiert: ausgehend von der grundsätzlichen Frage, welchen rechtverbindlichen Stellenwert Menschenrechte in der überkommenen internationalen Rechtsordnung überhaupt haben und welcher Stellenwert der zweiten, dritten und n-ten Generation von Menschenrechten zukommen soll: Ist die bisher üblicherweise dogmatisch unterstellte Mediatisierung des Individuums durch den über Souveränität definierten Staat tendenziell überwunden? Ist das Einzelindividuum, ganz anders als in der Vergangenheit, heute wirklich schon oder wenigstens in der Tendenz zu einem Rechtssubjekt im Völkerrecht geworden – einem Völkerrecht, das ja dann in dieser Hinsicht eher als Weltrecht zu bezeichnen wäre? Ist also das Völkerrecht herkömmlicher Provenienz auf dem Wege, weltrechtlichen Prinzipien, wie den eben genannten, Raum zu geben?

Fragen dieser Art lassen sich nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten. Denn die Kontroversen über die politisch wünschbaren und juristisch für angemessen gehaltenen Antworten werden auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte anhalten, denn die diesbezüglichen Rechtsverhältnisse in der real existierenden Welt zeichnen sich durch eine interpretationsbedürftige Komplexität und viele Grauzonen aus. Dass es und wie es in einem solchen Kontext zur Institution des Internationalen Strafgerichtshofs gekommen ist, somit zur individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit Einzelner im Völkerrecht, war und ist ein bemerkenswerter, wenngleich nicht durchweg repräsentativer Vorgang. Wobei in diesem Zusammenhang die verfahrensmäßige Ausrichtung am Prinzip der Subsidiarität durchaus fragwürdig ist, von der Nichtakzeptanz des Strafgerichtshofes durch maßgebliche Staaten wie den USA ganz zu schweigen. Immerhin räumen die dem Rom-Statut beitretenden Vertragsstaaten dem Gerichtshof eine automatische Gerichtsbarkeit hinsichtlich sogenannter Kernverbrechen (core crimes) ein: also eine Gerichtsbarkeit für den Fall von Völkermord, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von Kriegsverbrechen und völkerrechtlich relevanten Aggressionsakten. In diesem Falle ist bei aller Berücksichtigung der zitierten Einschränkungen somit ein Paradigmenwechsel zu beobachten: vom Völkerrecht zum Weltrecht (mit Abstrichen).

Vorgängig und darüber hinausgehend und folglich weitreichender war und ist die Herausbildung von zwingendem Recht (ius cogens) sowie der Verpflichtungen erga omnes, das heißt von Prinzipien, die zwar Staaten zum Adressaten haben (Souveränität, Gewaltverbot, Selbstbestimmungsrecht), aber vor allem auch auf den Schutz von Individuen ausgerichtet sind (Verbot von Genozid, Sklaverei, Rassendiskriminierung, Folter, Verbrechen gegen die Menschlichkeit u.a.).

Entwicklungen dieser Art – gleichgültig, ob man sie terminologisch als Prozesse der Herausbildung von Weltinnenrecht, Weltrecht oder Menschheitsrecht bezeichnet – und ungeachtet der Tatsachte, ob sie auf höchstmöglicher Ebene (z.B. ius cogens) oder in sektoralem Zusammenhang eine rechtsoperative Bedeutung gewinnen, werden durch entgegenkommende, auch durch widerstrebende, gegebenenfalls widerborstige Tendenzen gekennzeichnet. Dies allein schon macht eine Lagebeurteilung schwierig. Aber besonders erschwert wird sie durch die eingangs geschilderte Makrostruktur der Welt. Denn auch weltrechtliche beziehungsweise quasi-weltrechtliche Entwicklungen setzen, nicht anders als herkömmliches Völkerrecht, sei es in der Variante des Koordinationsrechtes, schon gar des Kooperationsrechtes, eine solide, letztendlich demokratisch verfasste Staatlichkeit, die den Grundprinzipien eines rule of law genügt, voraus. Genau diese anspruchsvolle Voraussetzung fehlt vielerorts und also nicht nur in den failing states. Überdies stimmt nachdenklich, dass auch demokratische Verfassungsstaaten (wie zum Beispiel die USA) sich nicht immer (und oft genug überhaupt nicht) als kongenialer Resonanzboden für die Akzeptanz und die Implementierung von Weltrecht begreifen.

Diese Sachverhalte sind auch der Grund dafür, dass weit ausgreifende, überdies die Zerklüftungen in der Welt meist ignorierende, also weltflächig ausgelegte Weltordnungskonzeptionen wie die Programmatik einer kosmopolitischen Demokratie, einer Weltcivitas, einer Republik der Republiken auf Weltebene u.a. heute wie auch in den kommenden Jahrzehnten weithin leider nur von abstrakter Relevanz bleiben werden, was keinen prinzipiellen Einwand gegen einen diesbezüglichen, meist durchaus inspirierenden philosophischen Diskurs begründet, sondern angesichts der auf absehbare Zeit real existierenden Weltlage nur eine nüchterne Skepsis anmahnt.

Kumulation des globalen Problemdrucks

Die genannten Diskurse – nicht anders als all jene, die über den derzeitigen Status quo weniger weitreichend hinausdenken – werden jedoch in dem Maße sowohl an programmatischer als auch an praktisch-operativer Relevanz gewinnen, je unabweisbarer die Handlungszwänge werden, die aus den bekannten, gegebenenfalls sich in den kommenden Jahrzehnten akzentuierenden weltweiten Problemlagen resultieren. Als da sind unter anderem: die globale Umweltproblematik (Klimawandel, Zerstörung der Ozonschicht, Verlust der biologischen Vielfalt, Verlust fruchtbarer Böden, Zerstörung tropischer Regenwälder, globale Wasserkrise, insbesondere das Zusammenwirken reichtums- und armutsbedingter ökologischer Verwerfungen), eine Rohstoff- und Energieverknappung mit entsprechenden Preisentwicklungen, die Proliferation von Massenvernichtungsmitteln, Regelungsdefizite beziehungsweise Abwesenheit globaler Regelwerke mit dramatischen weltweiten Folgewirkungen (wie seit 2007 und danach im Bereich internationaler Finanzmärkte und der Realwirtschaft dramatisch beobachtbar), globale Epidemien mit unvergleichlich schneller Ausbreitungsgeschwindigkeit, chronische Entwicklungskrisen samt der Gefahr von Staatszerfall und der Entstehung von potenziell terroristischen fundamentalistischen Bewegungen lokaler, regionaler oder gar weltweiter Reichweite, Migrationsschübe als Folge eines ganz unterschiedlich gelagerten demografischen Wandels in unterschiedlichen Teilen der Welt, insbesondere jedoch in der Folge sozio-ökonomischer und politischer Verwerfungen in den Armutsregionen der Welt mit hohen Bevölkerungszuwachsraten. Jede einzelne dieser Problemlagen und schon gar ihre Summe führen auf den unterschiedlichen Ebenen der Welt potenziell zu einer Überlastung der Erkenntnis-, Willensbildungs- und Entscheidungssysteme und nicht unwahrscheinlich daraus resultierend zu Abwehrmechanismen (wie Verdrängung, Verneinung) und folglich zu einem die Problemlagen verschlimmernden pathologischen Lernen.

Umso wichtiger ist, dass die Wissenschaft durch Beiträge zu innovativem Lernen einem solchen Trend entgegenwirkt, das heißt durch nüchterne Lagebeurteilungen (z.B. von seiten des Internationalen Klimarates), besonders auch durch konstruktive Denk- und Handlungsperspektiven mittel- und langfristiger Reichweite, wie in den wissenschaftlichen und politischen Diskursen über Weltordnungsmodelle und entsprechende Weltordnungspolitik, auch über Weltinnenrecht beziehungsweise Weltrecht dokumentiert. Solchen Impulsen wird bei der Herausbildung von „Weltöffentlichkeit“ eine wichtige katalytische Rolle zukommen, wodurch angesichts der real existierenden Problemlagen auf der Welt die Chance besteht, die Neigung zu einer Selbstreferentialität der einzeldisziplinären, schon gar der zu Autismusanfälligkeit neigenden tagespolitischen Diskurse zu überwinden. Darin liegt auch eine Chance, den Zerklüftungen in der Welt zunächst zumindest intellektuell-analytisch und hoffentlich auch praktisch-politisch entgegenzuwirken.

Dieter Senghaas, geboren 1940, lehrt Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung an der Universität Bremen. Zuletzt erschien Zum irdischen Frieden (Suhrkamp, 2004).

Quelle: Recherche 1/2010

Online seit: 10. Oktober 2019

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