China ‒ eine altsäkulare Zivilisation

Die Sicht vom säkularisierten nordatlantischen Kirchturm auf das Erdenrund. Von Elmar Holenstein

Online seit: 30. September 2019

Wer in Ostasien lebt, reibt sich die Augen, wenn er Publikationen europäischer und nordamerikanischer Intellektueller zur Säkularisation, ihren Ressourcen und ihren Folgen liest. So schreibt Slavoj Žižek (2006): „What makes modern Europe unique is that it is the first and only civilization in which atheism is a fully legitimate option, not an obstacle to any public post. Atheism is a European legacy worth fighting for.“ Das ist säkularisierter Parochialismus in Reinkultur. In China ist Atheismus1 seit der vorchristlichen Achsenzeit mit größter Selbstverständlichkeit eine legitime Wahl. Einem bekennenden Atheismus (oder Theismus) zog man in Staatsdiensten freilich einen zurückhaltenderen Agnostizismus vor. Dasselbe gilt spätestens seit der Joseon-Zeit (1392–1910) für Korea, seit der Späteren Le-Dynastie (1428–1788) für Vietnam und seit der Edo/Tokugawa-Ära (1603–1867) für Japan, in Japan mit einem vorübergehenden Rückzieher just während seiner Modernisierungsphase. Im Zuge der Meji-Reformation seit 1868 hatte man den Shinto nach dem fragwürdigen Modell europäischer Staatskirchen zur Stützung der staatsbürgerlichen Tugenden zur offiziellen Staatsideologie erhoben.

Immer wieder fällt bei interkulturellen „West-Ost“-Vergleichen die Tendenz auf, daß man sich in bezug auf die eigene Kultur an offiziellen Erklärungen und einem in der Verfassung festgehaltenen „Soll-Zustand“ orientiert, in bezug auf die fremden Kulturen dagegen an den natürlicherweise unreinen und unvollkommenen „Ist-Zuständen“. Die „Trennung von Staat und Kirche“ ist im „Westen“ in vielen rechtlich verbindlichen Dokumenten festgeschrieben. Sie wird jedoch in den wenigsten Staaten kompromißlos praktiziert. In anderen Erdteilen kommt hinzu, daß in manchen Weltanschauungssystemen rein philosophische und volksreligiöse Varianten fließend ineinander übergehen und daß darüber hinaus religiöse Kultur und Alltagskultur ebenfalls nicht leicht auseinanderzuhalten sind.

Selbst der kulturell sensible und um den ganzen Erdkreis gereiste Jürgen Habermas sprach in der Frankfurter Paulskirche (2001) vom „Westen“ als „der weltweit säkularisierenden Macht“. Jahrhunderte, bevor Europa und die USA als „weltweit säkularisierende Mächte“ mit durchmischten Mitteln und Resultaten tätig wurden, wirkte China in Ostasien nachhaltig säkularisierend in Vietnam, Korea und Japan, in Japan ausschließlich als Modell und „soft power“. In einer neueren Publikation (2007) schrieb Habermas, Glauben und Wissen gehörten „mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Vernunft, in deren Medium sich heute die Söhne und Töchter der Moderne über sich und ihre Stellung in der Welt verständigen“2. Wenn sich heute „Söhne und Töchter der Moderne“ global über sich und ihre Stellung in der Welt verständigen, tun sie das in Anlehnung an Entwicklungsstränge „der säkularen Vernunft“, die ihre Basis bei weitem nicht nur in Athen und Jerusalem, sondern ebenfalls in Qufu3 und Rajgir4 und an anderen im „Westen“ noch kaum hinreichend bekannten Orten Süd- und Ostasiens haben. „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will“, muß sich, so Habermas, „die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen“. Ebenso wichtig ist es, die zum Teil älteren und kontinuierlicher durchgehaltenen Säkularisierungsprozesse außerhalb „des Abendlandes“ zur Kenntnis zu nehmen, zu würdigen und argumentativ einzusetzen.

Obschon man den Agnostizismus als eine gleichermaßen erkenntnisphilosophisch und pragmatisch wohlbegründete Weltanschauung betrachtete, hat man sich in Ostasien (und erst recht in Südasien) zu keiner Zeit Illusionen über das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einem säkular geführten Staatswesen hingegeben. In dieser Hinsicht pflegte man in Ostasien seit alters her eine Einstellung, die Habermas als Merkmal einer „postsäkularen Gesellschaft“ betrachtet.5 Unabhängig denkende Neokonfuzianer scheuten sich nicht, daoitische und buddhaitische Lehrer zu konsultieren, um ihr Menschenbild bewußtseinspsychologisch und ihr Weltbild ontologisch zu vertiefen. Nicht einmal der kommunistischen Partei Chinas fehlt heute nach den katastrophalen Entgleisungen ihrer revolutionären Unternehmungen das Sensorium dafür, daß das Land von einem moralischen Motivationsschub durch den wieder freigegebenen Unterricht der konfuzianischen Klassiker profitieren kann. Inzwischen lobt sie die Religionen insgesamt, allen voran die buddhaitische mit ihrer die innerstaatliche Harmonie fördernden Friedfertigkeit. 2006 verkündete der Leiter des staatlichen Amtes für religiöse Angelegenheiten Ye Xiaowen ohne Umschweife: „Religiöse Kraft ist eine der wichtigen gesellschaftlichen Kräfte, von denen China Stärke bezieht. “

Jede Institution, deren eigene Motivationsbasis an Schubkraft verloren hat oder die zur realistischen Einsicht gelangt ist, daß sie ihr eigenes Sinnstiftungspotential überschätzt hat, sieht sich früher oder später nach Koalitionspartnern um. Sie findet diese nicht selten unter ehemaligen Gegnern, gegen die sie sich unter früheren geschichtlichen Bedingungen durchzusetzen hatte. In dieser Hinsicht verkündet Habermas mit seinem Rat, bei der Suche nach einer Antwort auf existenzielle Lebensfragen und einer Klärung ungewohnter moralischer Dilemmata auf die Ressourcen der traditionellen Religionen und die Sensibilitäten religiös gebliebener Menschen zu achten, nichts Neues.

Selbst die von Gilles Kepel (1991) als Revanche de Dieu thematisierte Zuwendung zu den traditionellen Religionen nach allzu religionsfeindlichen Unternehmungen elitärer Kreise ist in China kein „postmodernes“ Phänomen.6 Auf entsprechende Vorhaltungen seitens seiner konfuzianischen Beamten erklärte der erste Ming-Kaiser Taizu:

Die beiden Lehren [Daojiao und Fojiao alias Daoismus und Buddhismus] wurden von Eiferern mit kleinem Verstand und ebenso von Feinden mit großer Ignoranz schikaniert. [. . .] Da war Han Yu, der den Herrscher ermahnte, sofort jeden Handel mit Geistern und himmlischen Wesen einzustellen und allein den [konfuzianischen] Richtlinien der Reichsverwaltung zu folgen. Nun, als die Geister und himmlischen Wesen Han Yus Einstellung gewahr wurden, sorgten sie dafür, daß [sein eigener Neffe Han Xiang] zu einem Verehrer der Unsterblichen [d. h. zu einem Anhänger der daoitischen Religion] wurde. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Himmel der Menschheit Lektionen zu erteilen pflegt.

Das Fortbestehen der Religionen in der Moderne und erst recht ihre Fähigkeit, sich zu erneuern, hat dazu geführt, daß Säkularisierung und Modernisierung nicht mehr als koevolutionäre Prozesse betrachtet werden. Nunmehr werden weltanschaulicher Pluralismus als Kennzeichen der Moderne und „patchwork religions“ als Kennzeichen der Postmoderne ausgegeben. Aber für beides sind China und Japan bekannte Vorzeigebeispiele. Bei der Volkszählung von 1997 bezeichnen sich 84 Prozent der japanischen Bevölkerung als Buddhaiten und 76 Prozent als Shintoiten. Das ist nur erstaunlich, wenn man nicht weiß, daß Bukkyo („Buddhismus“) und Shinto seit dem Mittelalter die vielfältigsten Vermischungen eingegangen sind und Andachtsstätten innerhalb ein und desselben Tempelbezirks unterhielten. Viel weniger bekannt ist die für Religions-, Säkularisations- und Modernitätsgelehrte, die von europäischen Modellvorstellungen ausgehen, weit mehr stimulierende Tatsache, daß sich in Japan gleichzeitig um die 50 Prozent der Bewohner als Atheisten oder Agnostiker bezeichnen.

Viele vormoderne Imperien garantierten ethnischen Gruppen und etablierten religiösen Gemeinschaften Religionsfreiheit, aber anders als im westlichen Teil der „Alten Welt“ war es sowohl in Süd- und Ostasien seit alters auch Individuen möglich, ihre Religion frei zu wählen. Engelbert Kaempfer, der sich 1690–92 als Arzt der holländischen Handelsniederlassung in Japan aufhielt, ist dies, aus dem von Religionskämpfen geplagten Europa kommend, selbstverständlich aufgefallen. Das dritte Buch seiner Geschichte und Beschreibung von Japan (1777–79), das den Religionen und der Philosophie gewidmet ist, eröffnet er mit dem Statement: „Die Freiheit der Religion und des Glaubens ist unter allen heidnischen Völkern Asiens zu allen Zeiten völlig frei und unbeschränkt gewesen; so lange diese Freiheit nur nicht irgend nachteilige Folgen für den Staat befürchten ließ. So auch in Japan.“ In Ernst-Wolfgang Böckenfördes vielzitiertem Aufsatz „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ (1967),7 auf den weiter unten ausführlich Bezug genommen wird, liest man dagegen ohne geschichtliche und geographische Relativierung: „Das Edikt von Nantes [1598] machte erstmals den Versuch, zwei Religionen in einem Staate zuzulassen.“ Das Edikt von Nantes war ein klassisches Toleranzedikt. Die Duldung, die es den Hugenotten gewährte, enthielt nichts von einer positiven Anerkennung der Glaubensinhalte und der zivilen Reformen der tolerierten Konfession. Ganz anders das berühmte zwölfte Felsenedikt des südasiatischen Maurya-Herrschers Ashoka aus dem -3. Jahrhundert. Es ist weit mehr als ein Toleranzedikt zur Wahrung des inneren Friedens und zeugt auch von mehr als bloßer Anerkennung. Es ist ein eigentliches „Reverenzedikt“, wie man es in der Geschichte der Christenheit und Europas nicht findet:

Der König ehrt alle Religionsgemeinschaften mit Geschenken und Ehrungen. Er hält jedoch Geschenke und Ehrungen nicht für so wichtig wie, daß Wachstum im Wesentlichen bei allen Religionsgemeinschaften sei. Ehrung und Tadel sollen gemäßigt sein, wenn dieser oder jener Anlaß besteht. Aber geehrt werden müssen fremde Religionsgemeinschaften in dieser oder jener Form. Wenn man so handelt, fördert man in starkem Maße seine eigene Religionsgemeinschaft und nützt auch der fremden. Wenn man anders handelt, verletzt man einerseits die eigene Religionsgemeinschaft, andererseits schadet man auch der fremden. Daher sind Versammlungen gut, damit sie voneinander den Dhamma [das Gesetz] hören und auch befolgen. Es ist das Bestreben des Königs, daß alle Religionsgemeinschaften sowohl gut informiert als auch aufgeschlossen sein mögen.

Die umsichtigste philosophische Diskussion der säkularen Weltanschauung, ihrer Geschichte und ihrer verschiedenen Ausgestaltungen findet man in Charles Taylors monumentaler Studie A Secular Age (2007).8 „Das säkulare Zeitalter“ beginnt für Taylor im 18. Jahrhundert in der „nordatlantischen Welt“ (Europa und Nordamerika) und ist in dieser Region der Erde zu seiner eigentlichen Entfaltung gekommen. „Säkularität“ erstrecke sich zwar partiell und in verschiedenen Formen über diese Region der Erde hinaus, „im Rest der menschlichen Geschichte“ sei jedoch nichts Vergleichbares zu finden. Taylor verweist gelegentlich auf asiatische Verhältnisse und Denkrichtungen (Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus). Aber die Hinweise bleiben marginal. Etwas ausführlicher geht er zu Vergleichszwecken auf säkulare Ideen in der hellenisch-römischen Antike ein. Bei den dortigen Vorläufern und Vorbildern der neuzeitlichen Säkularität lassen sich bemerkenswerte Unterschiede ausmachen, mit deren Herausarbeitung es Taylor gelingt, der Besonderheit des modernen säkularen Zeitalters in der nordatlantischen Welt zusätzliches Profil zu verleihen. Daß es in Ostasien seit mehr als 2000 Jahren eine geschichtsmächtige säkulare Zivilisation gibt, mit deren Beschreibung dies noch weit mehr gelingen könnte, bleibt außerhalb von Taylors Forschungsfeld.

Heutige Theisten und Atheisten unterscheiden sich radikal von ihren Parteigenossen vor einem halben Jahrtausend.

Der originelle Beitrag Taylors zur Säkularisationsforschung besteht in seiner umfassend herausgearbeiteten These, daß die Säkularisation von Staat und Öffentlichkeit im nordatlantischen Raum nicht auf die Entzauberung der Natur (die Elimination von Geistern und magischen Kräften aus der Erklärung physikalischer wie psychologischer Vorkommnisse) und auf den noch radikaleren Verzicht auf „die Hypothese Gott“ in der theoretischen Physik (zur Erklärung des Universums) wie in der Staats- und Moralphilosophie (als Garant einer zivilen Ordnung und zur Begründung und Motivierung der Moral) reduzierbar ist. Der Erfolg der neuzeitlichen Säkularisation ist nach ihm nur mit dem gleichzeitigen moralischen Aufbruch zu erklären, mit einer Ethik der Freiheit und der universalen Solidarität (die ihren Niederschlag in der Erklärung der Menschenrechte und in staatlichen Sozialeinrichtungen gefunden hat), der (von einer entsprechenden Alltagsmoral) begleiteten Wertschätzung des „gewöhnlichen Lebens“, von Familie, Arbeit, Spiel, Sport und Sinnesfreuden, der Kultivierung von Selbstdisziplin und Höflichkeit und nicht zuletzt mit einem ethisch motivierten Wissenschaftsideal (eine ehrlich gemeinte „vorurteils- und wertfreie“, illusionslose, nüchterne Beschränkung auf handfest, meßbar und intersubjektiv Nachweisbares und auf rationale Verfahren). Verbunden ist die neue Ethik mit der Entdeckung ihrer dem Menschen inhärenten Motivationsbasis. Atheismus und Religion haben sich beide, wie Taylor wiederholt betont, in der sich über die Jahrhunderte hinziehenden Auseinandersetzung miteinander weiterentwickelt und sich dabei tiefgreifend gewandelt. Heutige Theisten und Atheisten unterscheiden sich radikal von ihren Parteigenossen vor einem halben Jahrtausend.

Taylor läßt mit seiner Erklärung der Erfolgsgeschichte des Säkularisationsprozesses in der nordatlantischen Welt (von ihm nicht beabsichtigt und nicht ins Auge gefaßt) die erfolgreichste säkulare Weltanschauung Asiens, die konfuzianische Philosophie mit ihrem grundsätzlichen Agnostizismus in Bezug auf eine jenseitige Welt und ein Leben nach dem Tod in einem neuen Licht erscheinen. Ebenso dürfte der gewaltige zivilisatorische Erfolg dieser nontheologischen Menschen- und Naturlehre mit ihren jahrhundertelang attraktiven ethischen Idealen zu erklären sein. Auch die konfuzianische Weltanschauung geht mit einer anspruchsvollen Moral und einem in ihren besten Zeiten die Menschen animierenden Ideal der Selbstkultivation (xiushen) und des von einem hohen Ehrgefühl motivierten Gentleman (junzi) einher. Taylor schreibt wie Böckenförde an der oben zitierten und beanstandeten Stelle ohne jeden relativierenden Hinweis darauf, daß es sich keineswegs um etwas welthistorisch Erstmaliges handelt: „The discovery/definition of [the] intra-human sources of benevolence is one of the great achievements of our civilization, and the charter of modern unbelief.“ Die gleiche Entdeckung der innermenschlichen Quellen des Wohlwollens und ihre Beschreibung um -300 durch Meng Zi (Menzius) ist ebenso und viel früher eine der großen Leistungen der chinesischen Zivilisation und die Charta, mit der sie ihren Agnostizismus in überirdischen Angelegenheiten legitimiert. Taylors zusammenfassender Satz seiner These „The convincing force of modern atheism lies more in its ethical stance than in epistemological considerations“ zeugt von einer innovativen Erforschung der neuzeitlichen europäischen Geschichte. Die Übertragung des Satzes auf China – „The convincing force of traditional Chinese agnosticism lies more in its ethical stance than in epistemological considerations“ – deckt sich mit gängigen sinologischen Lehrbuchaussagen.

Die Lebensbejahung in China ist seit Webers und Habermas’ typologisierendem Vergleich der Einstellungen zum Leben und zur Welt im Judentum/Christentum, „Hinduismus“, „Konfuzianismus“ und in der hellenischen Metaphysik wohlbekannt. Oberflächlichen, an den üblichen „westlichen“ Leib/Seele- und Natur/Übernatur-Zweiteilungen orientierten Beobachtern macht die „chinesische Einstellung zum Leben“ einen hedonistischen und materialistischen Eindruck. Das Gegenteil zu einem hedonistischen und materialistischen Leben ist in China freilich weniger ein spirituelles als vielmehr ein weises und ehrenhaftes Leben. Nicht Mystik, sondern Weisheit ist ein Lebensziel. Für die traditionelle Kultur in China ist in besonders prägnanter Weise charakteristisch, daß weder die Hochschätzung der Künste, der akademischen Bildung und gehobener humaner Erfahrungen ganz allgemein noch das illusionslose Bewußtsein, daß das Leben, auch ein sogenanntes „glückliches Leben“, der Güter höchstes nicht ist, zu einer Anschwärzung von Sinnesfreuden, Wohlstand und Reichtum geführt hat.

Ist der Verzicht auf Sinnesfreuden und Wohlstand unumgänglich, wird dies bedauert und nicht zu etwas Positivem umgedeutet, weder buddhaitisch als Mittel, sich von allem Leiden ein für alle Mal zu befreien, noch christlich mit der Aussicht auf eine unvergleichliche Kompensation in einem jenseitigen Leben. Abermals ist hier Meng Zi zu zitieren:

Ich liebe Fisch und ich liebe Bärentatzen [eine Delikatesse im alten China]. Wenn ich nicht beides haben kann, lasse ich den Fisch und nehme die Tatzen. Ich liebe das Leben und ich liebe Rechtschaffenheit. Ich liebe wahrlich das Leben, aber es gibt etwas, das ich mehr liebe. Ich werde darum nichts Unehrenhaftes tun, um mir das Leben zu bewahren. [. . .] Angenommen, es gäbe einen Korb mit Reis und eine Schüssel mit Suppe. Wenn ich sie bekäme, bliebe ich am Leben; bekäme ich sie nicht, müßte ich sterben. Würden sie mit Verachtung angeboten, würde sie ein Landstreicher ablehnen; würden sie angeboten, nachdem man sie mit den Füßen traktiert hätte, würde sich ein Bettler nicht dazu erniedrigen, sie zu nehmen.

Eine zweite These ist Taylor ebenso wichtig. Moderner „Unglaube“ und Humanismus definieren sich nach ihm fortwährend direkt oder indirekt mit Bezug auf die traditionellen Religionen. Sie distanzieren sich von deren theologischen Inhalten und bleiben gleichzeitig von deren höchstem ethischen Ideal, einem universalen Wohlwollen, geprägt. Taylors Analyse gilt wohl für das neusäkulare Zeitalter, das vor gut dreihundert Jahren im nordatlantischen Raum eingeleitet worden ist. In China und seiner altsäkularen Zivilisation verhält es sich auffallend anders. Keinem Chinesen käme ein Satz wie der folgende in den Sinn: „The only past we have is religious“.

So viel zur Einführung in den Stand der Diskussion in Sachen Säkularität, nicht nur in einem nordatlantischen, sondern in einem globalen Horizont. In den folgenden Ausführungen zur altsäkularen Zivilisation in Ostasien wird sich mehrfach die Gelegenheit bieten, auf Taylors in historischer wie in philosophischer Hinsicht innovative Charakterisierung des modernen säkularen Zeitalters in Europa und Nordamerika zurückzukommen.

Trennung von Religion und Staat

Die Trennung von Religion und Staat ist das offensichtlichste Kennzeichen einer säkularen Gesellschaft. Sie ist um so dringender und einer verfassungsrechtlichen Sicherung bedürftiger, je kirchlicher, kirchen- und staatsähnlicher die Religionsgemeinschaften organisiert sind und je ganzheitlicher ihr Anspruch, sämtliche Lebensbereiche, private und öffentliche, zu regulieren, ist. Die Religionsgemeinschaften im westlichen Teil der „Alten Welt“ waren dies in der Regel mehr als die großen Religionen (Buddhadharma, Jainadharma, Daojiao) in Süd- und Ostasien.

Eine Ausnahme in dieser Hinsicht waren in Ostasien (und sind es in Südasien immer noch) einzelne Mönchsorden, vor allem buddhaitische. Deren Macht hat in China, Korea und Japan mehrfach zu gewaltsamen Aushebungen und Aufhebungen von Klöstern geführt. Sie sind dem Typ nach in allen drei Ländern eher mit denjenigen im Gefolge der Französischen Revolution in Europa verwandt als mit den Klosteraufhebungen während der Reformationszeit. Die offizielle Begründung im Zuge der evangelischen Reformation war theologisch. Es ging um die Durchsetzung einer anderen, für allein richtig gehaltenen Konzeption der christlichen Heilslehre und Lebensgestaltung. Die Begründung in Ostasien war dagegen wie die im Gefolge der Französischen Revolution säkular-anthropologischer und offen politischer und wirtschaftlicher Natur. In China spielte offenkundig Ausländerfeindlichkeit ebenfalls eine Rolle. Aber auch dieser Faktor fehlt im „Westen“ nicht. In der Reformations- und in der Revolutionszeit machte sich gleichfalls eine von nationalistischen Motiven genährte Abneigung gegen die römische Kirche mit ihren religiös und politisch universalen Ansprüchen bemerkbar. Bei einer Vertiefung der Ursachenforschung findet man sich schließlich im „Osten“ wie im „Westen“ auf epochale gesellschaftliche Wandel verwiesen, in deren Gefolge antimonastische Tendenzen aufkamen. Bei einem Vergleich zwischen „Ost und West“ verdient es aber auch der zeitliche Unterschied, festgehalten zu werden. Zur ersten Welle von Klosteraufhebungen kam es in China um 845, fast 700 Jahre vor denjenigen der evangelischen Reformationszeit und ein knappes Jahrtausend vor jenen im Zuge der Französischen Revolution in Westeuropa.

Mit dem Verweis auf die negativen geschichtlichen Erfahrungen mit religiösen Bewegungen ist es in China bei einer bis heute anhaltenden polizeistaatsähnlichen Überwachung aller religiösen Gemeinschaften geblieben. Charismatische Prediger sind in China seit Jahrhunderten, nicht erst seit dem Taiping-Aufstand zur Errichtung eines „Himmlischen Reiches vom Großen Frieden“ im 19. Jahrhundert, als potentielle soziale Unruhestifter gefürchtet. Bei der mißtrauischen Einstellung gegenüber den christlichen Konfessionen kommt hinzu, daß die Missionare sich ihrerseits, wie sie es von ihren europäischen Herkunftsländern her gewohnt waren, nicht immer einer sorgfältigen Trennung ihrer religiösen Anliegen und der Interessen der Staaten, aus denen sie kamen, befleißigten.

Wie in Europa waren es jedoch religiöse und nicht staatliche Führerpersönlichkeiten, die in China als erste auf einer grundsätzlichen Trennung von Religion und Staat bestanden. Das älteste und zugleich berühmteste Dokument dazu stammt aus dem Jahre 404. Es handelt vom Recht buddhaitischer Mönche, sich vor Fürsten nicht zu verbeugen. Das Recht wurde auf eine ministerielle Anfrage hin vom angesehenen Mönch Huiyuan auf dem tri-religiösen Klosterberg Lu Shan (in der heutigen Provinz Jiangxi) in einer berühmten Schrift9 begründet und vom damaligen Herrscher im heutigen Nanjing dann auch akzeptiert.

Auch zwischen Religion und Wissenschaft gibt es eine beachtenswerte Trennlinie. Im November 2005 wurde der Dalai Lama zu einem Vortrag an der Jahrestagung der internationalen Society of Neuroscience in Washington, D.C., eingeladen. Über 500 Neurowissenschaftler protestierten gegen die Einladung. Sie begründeten ihren Protest mit ihrer Überzeugung, daß die Auswirkungen der Meditation auf die Gehirntätigkeit, zu denen der Dalai Lama sprechen sollte, noch nicht hinreichend wissenschaftlich belegt seien. In allen journalistischen Berichterstattungen wurde (zu Recht) darauf hingewiesen, daß die Mehrheit der Protestierenden in den USA tätige Wissenschaftler chinesischer Abstammung waren. Zugleich wurde unterstellt, daß ihr Protest aus Willfährigkeit gegenüber der chinesischen Regierung erfolgte. Nun gibt es eine psychologische Maxime, daß man nicht nach einem höheren Motiv suchen soll, wenn sich eine Handlung mit einem niederen erklären läßt. Vor allem bei der Beurteilung von Menschen aus einer anderen Kultur ist es jedoch klug, sich eine entgegengesetzte Maxime vor Augen zu halten und zu fragen, ob für ein Tun, das man auf Anhieb mit einem niederen Motiv zu erklären geneigt ist, nicht vielleicht auch höhere Motive den Ausschlag gegeben haben oder mitschwingen könnten. Im vorliegenden Fall kann man zumindest in Erwägung ziehen, daß der Protest auch damit zu tun haben könnte, daß in China in der Vergangenheit die Kritik an der buddhaitischen Religion immer wieder mit dem Obskurantismus und Zelotentum begründet wurde, denen gegenüber buddhaitische Mönche wie Anhänger auch aller anderen großen Religionen nicht immer immun waren. Religiöses Schwärmertum und von charismatischen Religionslehrern genährte soziale Unruhen sind im allgemeinen Geschichtsbewußtsein in China präsent geblieben und werden von einem Teil der Regierenden gezielt präsent gehalten. Entsprechend ist keineswegs bloß die Regierung möglichen Anfängen in diese Richtung überempfindlich auf der Hut.

Humanpsychologische Fundierung der Moral

Ein gewichtigeres Kennzeichen einer säkularen Gesellschaft als die formelle Trennung von Religion und Staat und für diese grundlegend ist die Trennung von Religion und Moral (und mit ihr eine nichtreligiöse Legitimation der gesellschaftlichen Verhältnisse). Die Autonomie der Moral ist eine Errungenschaft, die in Ostasien anders als in Europa seit der Achsenzeit nie in den Hintergrund gerückt ist oder ganz vergessen oder gar geleugnet wurde. Ihre klassische Beschreibung und humanpsychologische Fundierung hat sie bei Meng Zi im -4. Jahrhundert gefunden: Wer kein Mitgefühl, kein Gefühl der Scham, kein Gefühl für Höflichkeit und keinen Sinn für „richtig“ und „falsch“ hat, ist kein Mensch. Der Mensch hat diese vier Keime zu einem moralischen Verhalten genauso in sich, wie er Arme und Beine hat.

Der auffälligste Unterschied zwischen den achsenzeitlichen Moralbegründungen in China und den neuzeitlich-europäischen, besonders der kantischen, besteht darin, daß in China ältere religiöse Begründungen keine spürbare und insgeheim animierende Rolle spielen. Bei Immanuel Kant, schreibt Habermas, „findet die Autorität göttlicher Gebote in der unbedingten Geltung moralischer Pflichten ein unüberhörbares Echo“. Habermas’ Kant-Interpretation ist philologisch und biographisch gut belegbar. In moralgenealogischer Hinsicht macht sie jedoch auf einer zu hohen Stufe Halt. Spätestens seit Ludwig Feuerbach sind für „göttliche Gebote“ anthropologische Erklärungsversuche angezeigt. Fehl am Platz sind diese nur, wenn man an die übernatürliche Offenbarung der Gebote glaubt und in den Religionen keine genuin menschliche Kulturleistung sieht.

Keinem Chinesen käme ein Satz wie der folgende in den Sinn: „The only past we have is religious“.

Paul Ricoeur (1965)10 vernahm entsprechend hinter dem vordergründigen Echo aus religiösen Zeiten, auf das Habermas die Aufmerksamkeit lenkt, noch ein anderes, weiter und tiefer zurückreichendes Echo. Für Ricoeur erinnern das Pathos, mit dem Kant seine Pflichtethik beschreibt, und die Unbedingtheit des kategorischen Imperativs an die Befehle eines unerbittlichen Vaters. Man braucht kein orthodoxer Freudianer zu sein, um auf den Verdacht zu kommen, daß Kants Pflichtethik zusätzlich von heteronomen Motiven gestützt wird und keineswegs ausschließlich von der Einsicht in die Stringenz ihrer rationalen Begründung.

Kant selbst hatte für die moralische Pflicht „alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz“ (Psychoanalytiker meinen dagegen zu wenig kritisch, ohne hinreichende Selbst- oder Fremdanalyse) ausgeschlagen, nicht anders als manche Theologen genetische Erklärungen göttlicher Gebote als ganz und gar sachfremd von sich weisen. Man muß hier zwischen der rationalen Begründung eines moralischen Gesetzes einerseits und der kognitiven Entwicklung, die ein Mensch durchläuft, bevor ihm die kantische Begründung der Moral einzuleuchten vermag, sowie der emotionalen Kraft und Vehemenz, mit der sie dann gegebenenfalls befolgt und in der Diskussion verfochten werden, andererseits unterscheiden. Im Rahmen der kantischen Moralphilosophie erscheint der kategorische Imperativ als etwas a priori Einleuchtendes, Irreduzibles, Autonomes. In psychoanalytischer und, wie wir gleich sehen werden, in entwicklungspsychologischer Sicht dagegen als etwas Abgeleitetes, Heteronomes, dem faktisch andere und dazu höchst emotionale Erfahrungen von Forderungen vorausgehen.

Autonome Begründungen der Moral mögen, „an sich“ betrachtet, stichhaltig sein. Sie sind jedoch nicht das einzige und möglicherweise auch nicht das primäre und eigentliche Motiv für ihre Proklamation und Befolgung. Ein tiefer liegender Antrieb und vielleicht auch das stärkste Motiv ist in einer entwicklungspsychologisch zu erklärenden Neigung, sich moralisch (korrekt, „ehrenwert“, so, „daß man sich nicht zu schämen braucht“, sympathisch, altruistisch oder ähnlich) zu verhalten, zu suchen. Kants Begründung erscheint so als eine „sekundäre Rationalisierung“ von etwas, das man primär (noch) aus einem anderen Grund befolgt.

Die Motivation menschlichen Tuns ist komplex. Menschliche Moral ist doppelbödig oder gar mehrfachbödig. Vor und neben den moralischen Motiven sind immer auch noch nichtmoralische (eigennützige) und vormoralische Motive wirksam, erworbene und angeborene Neigungen. Die Überzeugung der moralischen Autonomie, begleitet von einem Gefühl der Selbstgerechtigkeit, die sich mit dem Bewußtsein, über die richtige Gesinnung zu verfügen und moralisch zu handeln, einstellen mag, ruht auf einem komplexen und oft auch brüchigen Fundament.

Für den Konfuzianer Meng Zi ist die moralische Veranlagung dem Menschen von Natur aus eigen. Meng Zi begnügt sich, seine These mit seinem berühmten Gleichnis vom Kind, das in einen Brunnen gefallen ist und das jeder Mensch, der diese Bezeichnung verdient, spontan zu retten sucht, zu veranschaulichen. Eine genetische Erklärung liegt ihm fern. Eine solche Erklärung der menschlichen Moral findet man bei Charles Darwin und heute im Anschluß an ihn in der Evolutionären Psychologie. Sie ist in unserem Zusammenhang auch darum bemerkenswert, weil Darwin explizit auf Kants feierliche Frage nach dem Ursprung des Pflichtbewußtseins verweist und beansprucht, sie zu beantworten. Es ist eine naturalistische Erklärung, die weit hinter Habermas’ und Taylors kultur- und religionsgeschichtliche und Freuds und Ricoeurs psychoanalytische Assoziationen zurückgeht.

Darwin beginnt mit der Überlegung, daß die Menschen nicht nur mit einem Denkvermögen ausgestattet sind, sondern als Lebewesen noch vor diesem ein Empfindungsvermögen, Gemüt, Register von Gefühlen und nicht zuletzt „soziale Instinkte“ erworben haben. Das Zusammenleben in einer Gemeinschaft, wie es im Überlebensinteresse der Menschen ist, wird bei einer solchen Ausstattung am natürlichsten durch die Entwicklung eines moralischen Gefühls gefördert: „The following proposition seems to me in a high degree probable – namely, that any animal whatever, endowed with well-marked social instincts, would inevitably acquire a moral sense or conscience, as soon as its intellectual powers had become as well developed, or nearly as well developed, as in man.“

Die zwei wichtigsten Überlegungen, die Darwin zugunsten seiner Hypothese anführt, sind: (a) Die sozialen Instinkte lassen ein Lebewesen Vergnügen im Zusammenleben mit seinen Artgenossen und Mitgefühl (Sympathie) empfinden, die es dazu anhalten, allerlei Dienste zu verrichten. (b) Sobald sich die mentalen Fähigkeiten entwickelt haben, kommen Erinnerungsbilder an vergangenes Verhalten und an die Motive dazu auf, zusammen mit einem Gefühl des Unbefriedigtseins, wenn der stets gegenwärtige soziale Instinkt einem kurzfristig stärkeren Instinkt unterlegen ist. Mit diesen beiden Sätzen kann sich jeder traditionelle chinesische Philosoph einverstanden erklären.

Den Standardeinwand gegen eine Ableitung moralischer Gebote aus angeborenen Gefühlen hat bereits Darwins erster wortmächtiger Anhänger, Thomas Huxley, formuliert: Angeboren sind den Menschen nicht nur moralische Gefühle, sondern gleicherweise unmoralische. Der Natur können wir entnehmen, wie wir zu unseren Gefühlen gekommen sind, nicht aber, warum die moralischen vorzuziehen und die unmoralischen zurückzuweisen sind. Die Natur hat beide sanktioniert. Beide sind im Kampf ums Dasein von Nutzen. Taylors Einwand gründet in der derselben Überzeugung wie Huxleys: Gefühle reichen nicht aus für ein eigenständiges ethisches Handeln, das wir vor uns selbst und vor anderen verantworten können. Dazu sind Verstand und Vernunft, die Fähigkeit zu überlegen, erforderlich. Aber nach Meng Zi, der Evolutionären Moralpsychologie und nicht weniger nach dem auch empirisch bewanderten Moralpsychologen Kant sind uns nicht nur Gefühle angeboren, sondern ebenfalls ein Sinn für das, was recht und was unrecht ist, nicht nur der Impuls, etwas zu tun oder zu lassen, sondern auch die Intuition, dazu verpflichtet zu sein, verbunden mit der Einsicht, daß es so gut ist.

In anthropologischer und evolutionspsychologischer Sicht spricht man in bezug auf die naturalistischen Begründungen der Moral angemessener von einer Rückkehr von religionsgeschichtlichen zu kognitionsgeschichtlichen Quellen der Moral und somit auch von Resäkularisation statt von einer (vermeintlich erstmaligen) Säkularisation. Moderne Nonreligiosität ist eine Rückkehr zur Nonreligiosität der frühesten Menschen, zumindest im Bereich der Ethik. Bevor soziale Einstellungen, Erwartungen und Praktiken im Verhältnis zu Verstorbenen, unpersönlichen Mächten, Geistern und Göttern aufkommen konnten, mußten sie im Verkehr der lebenden Menschen (und, wie man inzwischen weiß, bereits ihrer Vorfahren) miteinander entwickelt worden sein. Erstaunen und Erschrecken vor außergewöhnlichen Naturerscheinungen werden neben der Totenverehrung als eine Quelle von Religiosität angeführt. Selbst wenn man annimmt, daß sie ebenso alt sind wie die soziale Sensibilität der Menschen, bleiben zwei Fragen zu beantworten: (a) Wann und wie kamen sie dazu, solche Naturerscheinungen mit animistischen Eigenschaften zu verbinden? (b) Wann und unter welchen Bedingungen wurde ihre Erfahrung zu einer moralischen Triebfeder, von der die nichtreligiösen moralischen Motive unterbaut oder gar ersetzt worden sind?

Moralische und religiöse Überzeugungen und Praktiken haben im Verlauf der frühen Geschichte der Menschheit allmählich feste Konturen gewonnen. Einen Höhepunkt erreichte die Entwicklung mit ihrer systematischen Zusammenfügung. Manche Kulturhistoriker sehen in dieser Zusammenfügung eine definitorische Errungenschaft der Achsenzeit. Der Gottesbegriff wird ethisiert und damit einhergehend ebenso das religiöse Leben. Das höchste numinose Wesen, Gott oder „der Himmel“, handelt nun nicht mehr wie die alten Götter je nach Natur gutartig, bösartig oder launenhaft, so wie man es von Menschen (Herrschern zumal) und Tieren her gewohnt war. Desgleichen manifestiert sich Religiosität nicht mehr in Riten, bei denen es nicht darauf ankommt, ob sie mit innerer Anteilnahme oder rein mechanisch vollzogen werden. Opfer haben nicht mehr den Sinn, irgendwelche egoistische oder nichtegoistische Bedürfnisse von Geistern und Göttern zu befriedigen. Wichtiger oder gar allein entscheidend ist die Befolgung von Gottes moralischen Geboten. Reinheitspraktiken, altruistisches Verhalten und ordnungspolitische Vorstellungen, vor den archaischen Religionen oder zeitgleich mit ihnen aufgekommen, werden nun zusätzlich religiös begründet. Zum Teil vermögen sie aber auch innerhalb der Religionen ihre autonome Begründung zu bewahren (so beispielhaft die Goldene Regel).

Daß der Begriff Resäkularisation anscheinend erst vor kurzem aufgekommen ist und nicht von Anfang an verwendet wurde, ist erstaunlich. Bereits die Prägung des Begriffs Säkularisation und seine primäre Verwendung für die Überführung von Kirchengütern, Gebäuden und ganzen Ländereien samt Herrschaftsrechten betrafen einen Vorgang, der eigentlich in einer Rückführung dieser Güter und Rechte in säkularen Besitz bestand. Resäkularisation ist so auch für diesen neuzeitlichen Vorgang die angemessene Bezeichnung. Die Kirchengüter, die von den Staaten konfisziert wurden, waren ja nicht seit je im Besitz der Kirchen, sondern wurden in früheren Zeiten diesen als Geschenke vermacht. Gelegentlich wurden sie von kirchlichen Institutionen mit ähnlich unlauteren Mitteln erschlichen oder mit Gewalt angeeignet, mit denen sie ihnen dann wieder weggenommen wurden. Zutreffend ist der Begriff Säkularisation dagegen für schulische und soziale Institutionen, die von den religiösen Gemeinschaften (in Asien wie in Europa) aus eigener Initiative und aus eigener Kraft geschaffen und gestaltet worden waren. Und natürlich ist auch nicht zu übersehen, daß manchen staatlichen und anderen säkularen Gepflogenheiten und Einrichtungen (rites de passage, Festtage, repräsentativen Bauten) die Gestaltung nach religiösen Vorbildern eher anzusehen ist als diesen Vorbildern die Prägung durch weiter zurückliegende „heidnische“, natur- oder vorreligiöse Vorlagen.

Böckenfördes Problem in Ostasien

Wenn man wie Meng Zi (und mutatis mutandis die evolutionäre Psychologie) eine natürliche Veranlagung der Menschen zur Entwicklung moralischer Gefühle annimmt, stellt sich das viel zitierte Böckenförde-Problem nicht in der besorgniserregenden Art wie bei der religionsgeschichtlichen Erklärung der moralischen Ressourcen des säkularen Staates, die heute unter älteren Denkern in Deutschland die Diskussion bestimmt.

Das vom Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde als Paradoxon formulierte Problem besteht darin, daß ein freiheitlicher säkularer Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben. In Europa und Amerika zehren die sittlichen Grundhaltungen und kulturellen Formen des Zusammenlebens, von denen die liberale Staatsordnung getragen wird, auch wenn sie längst wie der Staat selbst säkularisiert sind, von religiösen Traditionen. Jahrhundertelang wurden sie von diesen geformt und gehegt. Ihren Fortbestand scheint der säkulare Staat nicht mit den Mitteln des Rechtszwanges garantieren zu können, ohne in einen autoritären Staat umzukippen, der sich in moralische Angelegenheiten einmischt. Dies scheint ein Grund zu sein, weshalb besorgte Zeitdiagnostiker mit Erleichterung feststellen, daß die religiösen Traditionen nicht völlig versiegt sind und gegenwärtig erneut erstarken.

Sollte sich herausstellen, daß der Islam nicht zu einer Anerkennung des säkularisierten Staates mit garantierter Religionsfreiheit fähig ist, wie das der katholischen Kirche nicht ohne Mühe schließlich im Zweiten Vatikanischen Konzil gelungen ist, betrachtete Böckenförde (2007)11 dies als „einen Hinweis auf ein nicht aufgebbares Vernunftfundament [. . .] des säkularisierten Staates, das womöglich an den antik-jüdisch-christlichen Kulturkreis im Reflexionshorizont der Aufklärung gebunden ist“. Böckenförde schreibt, als ob (a) es gleichzeitig mit der hellenisch-römischen Antike in Süd- und Ostasien keine achsenzeitlichen Kulturen gegeben hätte, (b) die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts die weltweit einzige Aufklärung gewesen wäre, (c) es außer Judentum, Christentum und Islam keine weiteren „Weltreligionen“ gäbe, und als ob (d) es nicht denkbar wäre, daß andere Religionen mit einem säkularen Staat seit jeher weniger Mühe hatten, als es die katholische Kirche und die evangelischen Landes- und Staatskirchen bis vor nicht allzu langer Zeit hatten und eine Mehrheit der Muslime noch immer zu haben scheint.

In China ist die Erinnerung an die theokratische Konzeption des Staates und eine theologische Begründung der Moral, die der säkularen Auffassung des Staates und der naturalistischen Begründung der Ethik vorausgingen, längst verblaßt. Der Wandel setzte nicht vor gut drei Jahrhunderten ein, sondern vor bald drei Jahrtausenden. Er wurde nicht wie in Europa in einem revolutionären Kampf erstritten, bei dem sich einzelne Gegner bis heute nicht geschlagen geben wollen. Er vollzog sich in China in einem relativ sanften Evolutionsprozeß, der noch weniger in lebendiger Erinnerung haften geblieben ist als die früheren religiösen Überzeugungen selbst. Man muß Historiker sein, um in einem Ausdruck wie „Mandat des Himmels“ (tianming) ein Indiz für eine vorangehende Auffassung des Himmels als eines anthropomorph vorgestellten Gottes zu sehen, oder aber ein christlicher Missionar, der von einer offenkundigen oder verdeckten Universalität des Gottesglaubens ausgeht.

In Ostasien mit seinen alten, in die Achsenzeit zurückreichenden säkularen Traditionen vertraut man jedenfalls mehr auf natürliche Anreize zur Verwirklichung ethischer Lebensformen als in Europa. Sie machen sich individuell von Generation zu Generation und gesellschaftlich von Epoche zu Epoche (in der Vergangenheit von Dynastie zu Dynastie) immer wieder neu bemerkbar. „Kulturalisten“ wie Böckenförde zweifeln dagegen an der Tragfähigkeit eines angeborenen sittlichen Ethos, zum einen weil vorteilhafte natürliche Anlagen der Weckung, der Pflege und der Weitergabe durch Erziehung bedürfen, zum anderen weil der Mensch „von Natur aus ambivalent, nicht notwendig gut und nicht notwendig böse“ sei.

Wer kein Mitgefühl, kein Gefühl der Scham, kein Gefühl für Höflichkeit und keinen Sinn für „richtig“ und „falsch“ hat, ist kein Mensch.

Mehreres ist dazu zu sagen. Angeborene Anlagen, Gemütsanlagen im Besonderen, bedeuten selbstverständlich nicht, daß man ihnen nicht zuwiderhandeln kann. Und sicherlich sind Erziehung und noch mehr Vorbilder solchen Anlagen förderlich. Zur Eigenart natürlicher Veranlagungen gehört aber auch, daß sie sich in der Regel von sich aus bemerkbar machen. Es braucht dazu keiner Formung durch Eltern oder Lehrer. Ein zufälliger Auslöser genügt. Immer wieder sind es Jugendliche, die spontan, von innen heraus, von einem überraschenden Idealismus angetrieben, gegen den in ihren Elternhäusern, ihren Schulen und ihrem Milieu herrschenden Zeitgeist revoltieren. Sie finden ein Leben bloß zum eigenen Wohlsein minderwertig und schreiende Ungerechtigkeit unerträglich. Kinder scheinen sehr früh eigenständig zu erfassen, was an sich gut (nicht beschämend, uneigennützig, gerecht) ist. Es ist für sie nicht unkritisch deckungsgleich mit dem, was ihnen in Tests von Psychologen als Gebot Gottes oder als Anordnung einer Autoritätsperson vorgestellt wird. Sie lehnen die These ab, ein Befehl Gottes könnte dazu führen, daß beispielsweise Stehlen kein Unrecht sei. Sie verfügen über ein autonomes moralisches Bewußtsein.

Nicht nur die Natur des Menschen ist ambivalent, wie es, so Böckenförde (1995)12, in Europa die Kriege, Verbrechen, Verfolgungen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts jedem Optimisten desillusionierend vor Augen geführt haben. Die Religionen sind es ebenfalls. Das Christentum ist keine Ausnahme, wie man es zum anhaltenden Nachteil für Europa und seine politologische Musterhaftigkeit in Asien zur Genüge erfahren hat.

Und wie gelingt es einem Staat, eine ethische Grundhaltung, auf die er zur inneren, subjektiven Stützung seiner freiheitlichen Ordnung angewiesen ist, vor kulturell oder gar religiös begründeten Ablehnungen fundamentaler menschlicher Werte und Rechte zu schützen? In Bezug auf eine der Religionen, den Islam, bei der Böckenförde auf die Möglichkeit gefaßt ist, daß sie sich als unverbesserlich ambivalent herausstellen könnte, gibt er selbst die Antwort: Gegen eine religiöse Kultur, von der die Religionsfreiheit und andere Menschenrechte abgelehnt werden, „ist der Staat ungeachtet seiner Freiheitlichkeit und Offenheit gehalten, Barrieren zu errichten“. Dasselbe gilt doch wohl auch für menschenrechtswidrige Handlungen, die man auf ambivalente Naturanlagen zurückführt. Ein freiheitlicher Staat vermag also unethische Praktiken, zu denen Menschen entweder von ihrer Natur oder von ihrer Kultur verleitet werden, einzudämmen, ohne zu einem totalitären Staat zu verkommen.

Wie aber gelingt es einem Staat, ein positives Ethos unter seinen Bürgern zu bewahren, ohne sich selbst als freiheitlichen Staat aufzugeben? Auch dazu liefert Böckenförde im zuletzt zitierten Feuilletonartikel (1995) selbst die einschlägige Antwort: „Sein und Bewußtsein sind korrelativ miteinander verknüpft [. . .]. Die Praxis ökonomischer und gesellschaftlicher Arbeits- und Lebensvollzüge, die ihrerseits von bestimmten Ideen – und seien es solche des bloßen materiellen Nutzens und der ziellosen Emanzipation – getragen sind, prägen und formen das Bewußtsein.“ In eben diese Richtung weisen die politologischen Konzeptionen zur Sicherung eines staatserhaltenden Ethos, die man in Indien bei Buddha, in China beim Konfuzianer Xun Zi und in Hellas bei Aristoteles nachlesen kann.

Seit alters diskutieren Philosophen in Europa wie in China, was ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen eher garantiert, strenge Gesetze oder eine gute Erziehung. In Europa und ebenso in Asien, in der aristotelischen ebenso wie in der konfuzianischen und in der buddhaitischen Literatur stößt man noch auf einen dritten Faktor: gesicherte Lebensbedingungen, die über dem Existenzminimum liegen und ein menschenwürdiges Leben zuallererst ermöglichen. Diese Auffassung ist wohl auch hinter der Forderung der chinesischen Regierung nach einem Recht auf wirtschaftliche Entwicklung vor den übrigen Menschenrechten zu sehen.

In einer für seinen philosophischen Argumentationsstil charakteristischen Weise sprach Buddha als gesuchter politischer Ratgeber von einer Bedingungskette: Armut bedingt Diebstahl, Diebstahl bedingt Gewalt, Totschlag und Lügen. Einem Herrschenden riet er deshalb: „Du solltest jenen, die den Acker bestellen und Vieh halten wollen, Samen und Futter geben, und jenen, die Handel treiben wollen, [Start-]Kapital.“ Der für seinen Realismus berühmte chinesische Philosoph Xun Zi schrieb im 3. vorchristlichen Jahrhundert: „Die frühen Könige und die genialen Kulturheroen (shengren) wußten, daß ein Herrscher das Volk nicht einen kann, wenn er dessen Dasein nicht verschönert und verbessert, und daß er seine Untertanen nicht regieren kann, wenn er sie nicht reich macht und ihnen förderlich ist.“

Menschenwürdige Lebensbedingungen sind die beste Garantie für ein Selbstinteresse der Bürger an einer staatserhaltenden ethischen Gesinnung. Nach Aristoteles sind bei einem mittelständischen Lebensstandard einer breiten Schicht der Bevölkerung am ehesten stabile politische Verhältnisse zu erwarten. „Denn in solchen Verhältnissen gehorcht man am leichtesten der Vernunft.“ „Bürgertugenden“ (oder etwas weniger positiv formuliert: eine „gutbürgerliche Moral“) und eine rechtsstaatliche und liberale Verfassung liegen im Eigeninteresse einer solchen Bevölkerung. Sie sind eine Garantie nicht allein für ihren Besitzstand, sondern ebenso für ihr Selbstwertgefühl. Bei einem gewissen Wohlstand ist ein Leben in Anstand möglich. Wenn man sich beides, Wohlstand und Anstand (mit etwas positiveren Konnotationen: decency), zu einem guten Teil selbst zuschreiben kann, ist damit auch das Gefühl eines höheren Selbstwerts und eines menschenwürdigen Daseins verbunden.

Heute findet man derartige als etwas bieder empfundene Aussagen am ehesten in soziologischen Untersuchungen: In Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs sinken die Verbrechensraten. Arbeitslosigkeit und unverhältnismäßige Einkommensunterschiede haben eine gesellschaftliche Desintegration und eine Statuskluft zwischen einer Ober- und einer Unterschicht zur Folge, mit denen die Kriminalität tendenziell zunimmt, auf den Stockwerken der Wirtschaftsbosse ebenso wie, leichter faßbar, auf den Straßen der Städte.

Immer wieder kann man sie aber auch heute noch anthropologisch kompetent und mit ansprechenden Worten von Politologen und selbst von Politikern formuliert finden, die begabt genug sind, eigenständig zu denken, und darüber hinaus mit einem rhetorischen Talent gesegnet sind. Ein speziell im Hinblick auf die weltweite Realisation freiheitlicher demokratischer Verhältnisse beachtenswertes Beispiel ist der amerikanische Präsident Barack Obama, auch er wie Böckenförde ein Verfassungsrechtler, der von den jüdisch-christlichen Wurzeln der europäisch-amerikanischen Rechtskultur überzeugt ist. Über ihn schrieb der Politologe Fareed Zakaria während des Wahlkampfs (2008): „Obama rarely speaks in the moralistic tones of the current Bush administration. He doesn’t divide the world into good and evil [. . .]. He [. . .] never uses the soaring language of Bush’s freedom agenda, preferring instead to talk about enhancing people’s economic prospects, civil society and – his key word – ,dignity‘. He rejects Bush’s obsession with elections and political rights, and argues that people’s aspirations are broader and more basic – including food, shelter, jobs.“ Schließlich zitiert er Obama selbst: „Once these aspirations are met, it opens up space for the kind of democratic regimes we want.“

Es ist etwas anderes, mit wirtschaftlichen Infrastrukturmaßnahmen den Boden zu bestellen, auf dem – getragen vom Eigeninteresse einer Mehrheit der Bevölkerung – zivile Tugenden (und das Bestreben, sie privat nachfolgenden Generationen nahezulegen) erstarken, als ihr diese mit einem von einer staatlichen Ethikkommission verfaßten Moralkodex beibringen zu wollen. Ein Staat, der sich um seine ökonomische Infrastruktur kümmert, läuft nicht Gefahr, seinen freiheitlichen Charakter zu verlieren. Im Gegenteil, er sichert sich diesen.

Konfuzianische Zivilreligion

In China ist das staatstragende Ethos seit mehr als zwei Jahrtausenden nicht in einer theologischen Religion fundiert, sondern in einer säkularen Lebenslehre, der konfuzianischen. Gute Werke werden nicht mit einer Belohnung und persönliche Opfer zugunsten anderer nicht mit einer Kompensation nach dem Tode in einer jenseitigen Welt motiviert, sondern allein mit ihren Folgen für die Angehörigen und die Gemeinschaft, der man angehört, in dieser Welt. Wenn es ein Korpus von Ideen gibt, das den Namen Zivilreligion verdient, dann ist es die konfuzianische Moral- und Staatsphilosophie.

Unter Zivilreligion versteht man weltanschauliche Überzeugungen, die man als unerläßlich für das solidarische Zusammenleben in einem Staat betrachtet. Dies können sowohl traditionelle religiöse als auch säkulare geschichtliche und soziologische Ansichten sein. Nach Jean-Jacques Rousseau, der den Begriff geprägt hat, gehören zu den „Dogmen“ der Zivilreligion die Existenz einer Gottheit, ein Leben nach dem Tod mit der Möglichkeit zu einer ausgleichenden Gerechtigkeit und desgleichen „die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze“. Heute zählt man dazu auch die Gründungsmythen eines Staates (mit ihren monumental überhöhten geschichtlichen Ereignissen) und grundsätzliche Überzeugungen, wie man sie, feierlich formuliert, in den Präambeln von Verfassungen („Im Bewußtsein seiner [des Deutschen Volkes] Verantwortung vor Gott und den Menschen“), in Nationalhymnen („Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand“) und Treuegelöbnissen („das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“) und anderen staatlichen Dokumenten finden kann. Der Übergang zwischen Rousseau’scher religion civile und dem, was jüngere amerikanische Politologen civic culture nennen (grundsätzliche Einstellungen, wie ein Staat zu gestalten und zu führen ist, z. B. mehr liberal-demokratisch oder mehr sozial-demokratisch, autoritär oder mit aktiver Anteilnahme aller Bürger oder, wie im traditionellen China, nur der Gelehrtenschicht, mit einer einheitlicher Leitkultur oder mit einer Mehrzahl sich wechselseitig ergänzender und zugleich in die Schranken weisender Kulturen), ist ein fließender.

In der konfuzianischen Zivilreligion sind der Glaube an überirdische, anthropomorph vorgestellte personale Wesen (Geister und mythische Wesen, die niedrigstufigen Gottheiten polytheistischer Religionen vergleichbar sind) und ein Leben nach dem Tod ohne Bedeutung für die Ethik. Der in der Tradition und nach wie vor im Volk vorgefundene Geisterglaube wird von den konfuzianischen Weisen respektiert und zugleich auf Abstand gehalten. Er kann sich nicht auf ein Wissen stützen, aus dem sich irgend etwas, das anthropologisch und ethisch relevant sein könnte, ableiten ließe. Kong Zi (Konfuzius) wird entsprechend häufig als Agnostiker bezeichnet. Allem Anschein nach zweifelte er jedoch nicht an der Existenz götterähnlicher numinoser Wesen. Dies ist, wenn man den damaligen Stand des Naturwissens in Betracht zieht, keine große Überraschung. Nur zu ihrer Essenz enthielt er sich (anders als Buddha) jeglicher Aussage. Der Verlust des Glaubens an Naturgeister und andere mythische Wesen im Verlauf der Zeit bedeutete für Konfuzianer (wie auch für Anhänger Buddhas) keine Revolution in der Denkungsart, vor allem nicht in der ethischen. Er ist in dieser Hinsicht nicht mit dem Verlust des Glaubens an den übernatürlichen Gott, der Himmel und Erde aus dem Nichts erschaffen und sich als moralischer Gesetzgeber geoffenbart hat, vergleichbar, wie er in den abrahamitischen Religionen erlebt wurde. Er kann eher mit dem Abhandenkommen des Glaubens an die Existenz von Engeln in diesen Religionen verglichen werden.

Kong Zi beruft sich auch nicht wie Sokrates auf eine innere Stimme, die dieser als etwas Göttliches und Geisterhaftes (theion kai daimonion) bezeichnet, die ihn von Kindheit an davon abgehalten habe, gewisse Dinge zu tun. In einem bedenkenswerten Kontrast zu Sokrates nimmt Kong Zi für sich in Anspruch, daß er „mit fünfzig die Verordnungen des Himmels (tianming) kannte“. Sie sind für ihn nichts Subjektives, sondern etwas von Natur aus Gültiges und objektiv Erkennbares, zu dem man wie zum Himmel über sich aufschauen kann. Neokonfuzianer wie Wang Yangming, die sich später auf ihr „Herz“ (xin) berufen, haben dieses nie als etwas Göttliches oder als eine Art daimonion verstanden.

Eine eminente Rolle spielt dagegen in der klassischen konfuzianischen Ethik tian, der „Himmel“. Tian wurde zwar in der frühen Zhou-Zeit (um -1000) wie Shang Di, der „Herr in der Höhe“ der vorangehenden Shang-Dynastie, als persönlicher Gott verehrt. Zur Zeit des Kong Zi wird er jedoch bereits nahezu völlig entpersonalisiert gedacht, freilich mit einer unseren ontologischen Vorstellungen zuwiderlaufenden Einschränkung. Es werden ihm trotz fehlender Personalität moralische Absichten und ein moralisch begründetes Eingreifen in das irdische Geschehen und in die politischen Verhältnisse zugeschrieben. Ethisch begründete Naturkatastrophen und der Sturz von Dynastien sind sein Werk. Dennoch war tian weder vor noch nach Kong Zi je Gegenstand theologischer Reflexionen. Es gab keine Gottesbeweise und keine hochspekulativen Erörterungen personaler Eigenschaften, die er mit den Menschen teilt oder gerade nicht teilt, und die als miteinander vereinbar oder unvereinbar angesehen werden konnten. Der Glaube an ihn blieb entsprechend auch von atheistischen Polemiken verschont. Ebensowenig findet man vernunftstolze Widerlegungen heteronomer theologischer Moralbegründungen. Die Autonomie moralischer Maximen gründet spätestens seit Meng Zi zu selbstverständlich in lebendiger Erfahrung.

Der Himmel wird von der konfuzianischen Philosophie nicht als eine übernatürliche Gegebenheit gedacht, sondern als überirdischer Teil der Natur, der als Ordnungsfaktor von dieser nicht abtrennbar ist. Soweit er als eine numinose, wenn auch unpersönliche Ordnungsmacht aufgefaßt wird, ist er, wie beim konservativen Kong Zi selbst und später innerhalb des „religiösen Konfuzianismus“ (Rujiao), Adressat von individueller Andacht und kultischen Zeremonien, von Gebeten und Opfern. Soweit er, wie schon sehr früh innerhalb des „philosophischen Konfuzianismus“ (Rujia), abstrakter als ein zugleich überirdisches kosmisches und übermenschliches (d. h. nicht konventionelles) ethisches Prinzip aufgefaßt wird, erfüllt er ähnlich wie bei Kant „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“ das menschliche „Gemüt“ mit „Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt“. Als ethisches Regulationsprinzip manifestiert sich der Himmel denn auch vor allem in den intuitiven moralischen Überzeugungen der Menschen. Von den Philosophen unter den Konfuzianern werden die traditionellen an den Himmel adressierten Zeremonien nur mehr symbolisch als Ausdruck der Ehrfurcht und der Dankbarkeit einem wenig faßlichen Schicksal gegenüber interpretiert.

Der Ehrfurcht erweckende Charakter des „himmlischen Regulationsprinzips, der ihm zugeschriebene, wenn auch unbestimmt gelassene und mit seiner unpersönlichen Natur nicht ohne weiteres vereinbare moralische „Wille“, die Art, wie die Riten gepflegt werden, und ihre Bedeutung in der Lebenspraxis rechtfertigen es, die konfuzianische Moral- und Staatslehre und nicht nur ihre volkstümliche Ausgestaltung als eine Religion zu bezeichnen. Die konfuzianische Lebenslehre hat mit den großen Religionen darüber hinaus gemeinsam, daß sie sich auf eine hochverehrte Stifterpersönlichkeit und auf kanonische, wenn auch nicht „heilige“ und geoffenbarte Schriften beruft. Alles in allem betrachtet ist die Bezeichnung als „Zivilreligion“ für die konfuzianische Moral- und Staatslehre insgesamt passender als für die „Dogmen“, für die Rousseau den Begriff geprägt hatte, es sei denn, man ziehe es vor, ihn für Staatskonzeptionen zu reservieren, für die wie bei Rousseau theologische Glaubensartikel grundlegend sind.

Die neokonfuzianischen Philosophen haben die überlieferte konfuzianische Moral- und Staatslehre unter dem Einfluß der ontologisch überlegenen philosophischen Theorien, die sie bei daoitischen und buddhaitischen Gelehrten kennengelernt hatten, zu einem umfassenden Lehrsystem von der Welt und der Natur des Menschen weiterentwickelt. Sie teilte fortan mit den traditionellen theologischen Religionen das Angebot einer comprehensive doctrine für alles, Sein und Sollen, für das, was ist, ebenso wie für das, was zu tun ist. Da sie nach wie vor als eine nichttheologische Weltanschauung verstanden wurde, hatten die neuzeitlichen Revolutionen in den Naturwissenschaften in der konfuzianischen Zivilreligion jedoch weit geringere Konflikte und Konvulsionen zur Folge als in den abrahamitischen Religionen. Es wurden keine göttlichen Offenbarungen und heiligen Schriften widerlegt, sondern nur ein der aristotelischen Naturphilosophie vergleichbares, von Menschen geschaffenes Theoriegebäude. Zu bewältigen war ein innernaturtheoretischer und als solcher nichttheologischer Paradigmenwechsel und nicht die Widerlegung eines geoffenbarten Weltbildes durch eine vom menschlichen Verstand entworfene Konzeption der Natur. Kein theologisches Weltbild brach zusammen. Es wurde nur eine übermäßig spekulative organismische Naturkonzeption, der gegenüber mehr empirisch eingestellte chinesische Gelehrte auch schon vor oder unabhängig von der Rezeption der neueren wissenschaftlichen Entwicklungen in Europa kritisch und skeptisch eingestellt waren, durch eine empirisch besser abgestützte ersetzt. Ein Typ wissenschaftlicher Kategorien wurde durch einen anderen abgelöst. Das mythologische Weltbild früherer Jahrhunderte war für die konfuzianischen Gelehrten längst entzaubert. Die von naturwissenschaftlichen Annahmen freie alte konfuzianische Ethik ließ sich von der neokonfuzianischen Konzeption des Universums außerdem leichter trennen als die Ethik des Aristoteles von dessen Philosophie der Natur. Es handelte sich um eine spätere Zutat ohne Vorlage bei den achsenzeitlichen Klassikern. Mit dem Aufkommen naturalistischer, evolutionspsychologischer Erklärungen des menschlichen Moralbewußtseins hat die konfuzianische Ethik, wie sie von Meng Zi vertreten wurde, zudem eine explanatorische Unterbauung erfahren, die ihr als Ergänzung und Bestätigung ihrer rein deskriptiven moralischen Analysen nur willkommen sein kann. Manche europäische Ethiker haben dagegen mit ihrem „kulturalistischen“ Menschenbild und mit ihrer innerhalb der Naturwissenschaften längst überholten eliminativen Konzeption des Naturalismus weiterhin Mühe, zwischen einer genetischen (Ursachen anführenden) Erklärung und einer (Gründe nennenden) Rechtfertigung von ethischen Überzeugungen kein antagonistisches, sondern ein komplementäres Verhältnis zu sehen.

Konfuzianische Zivilreligion in ihren klassischen Zeiten und heute

Überzeugte Konfuzianer können sich heute wohl leichter, mit geringerem Interpretationsaufwand, mit den klassischen Konzeptionen ihrer zivilreligiösen Philosophie identifizieren als gläubig gebliebene Juden, Christen oder Muslime mit dem Inhalt ihrer heiligen Schriften, so wie diese von ihren Verfassern selbst und von den Autoritäten, die sie zu kanonischen Schriften erklärt haben, verstanden worden sind. Als Menschen mit „modernen“ wissenschaftlichen Vorstellungen brauchen Konfuzianer an weniger zentralen naturtheoretischen Vorstellungen ihrer Klassiker tiefgreifende Nichtigkeitserklärungen vorzunehmen als Anhänger der drei „westlichen“ Offenbarungsreligionen. Natürlich gibt es dafür einen einfachen Grund. Die konfuzianischen Klassiker enthielten sich, von wenigen unwesentlichen Ausnahmen abgesehen, Aussagen über nicht sinnlich erfahrbare Dimensionen der Wirklichkeit und über den Anfang und das Ende der Welt. Bekennende „aufgeklärte“ Juden, Christen oder Muslime müssen sich mehr als bekennende „moderne“ Konfuzianer fragen, ob die von ihnen vorgenommenen metaphorischen Interpretationen nicht doch historisch unhaltbare Uminterpretationen sind. Jedenfalls müssen sie eher darauf gefaßt sein, von Glaubensgenossen, die sich selbst als orthodox bezeichnen, als nicht rechtgläubig angesehen zu werden.

Dagegen kann man halten, daß Konfuzianer, wenn sie sich zu „modernen“ Konzeptionen des menschlichen Individuums, der Familie, der Gesellschaft und des Staates bekennen, gerade im Kernbereich der überlieferten Moral- und Staatsphilosophie einschneidende Änderungen vorzunehmen haben. Man denke an die fehlende Gleichberechtigung der Besitzlosen und der Frauen, an den Paternalismus und an die obrigkeitsstaatliche Konzeption des Staates. Die mangelnden gesellschaftlichen Freiheitsräume und -rechte der Individuen vertragen sich schlecht mit dem heutigen Verständnis des urchinesischen (daoitischen wie konfuzianischen) Ideals der Selbstkultivation eines jeden Menschen. Heute als unhaltbar angesehene „vormoderne“ soziale und politische Verhältnisse sind allerdings auch den heiligen Schriften und gar vielen historischen Autoritäten der Offenbarungsreligionen nicht fremd. „Die Freiheit des Christenmenschen“ war primär eine Freiheit vor Gott und gegenüber nicht biblisch legitimierten kirchlichen Institutionen. Selbst bei Martin Luther, dem neuzeitlichen Herold dieser Freiheit, vertrug sie sich sehr wohl mit der Einordnung in die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen und mit der Unterordnung unter eine undemokratische staatliche Obrigkeit. Judentum und Christentum können sich jedoch etwas darauf zugute halten, daß sich in der Bibel neben zeitbedingten gesellschaftlichen Ansichten griffige Motive zu den neuzeitlichen Sozialreformen und politischen Revolutionen finden. Von den biblischen Schriften genährte Idealvorstellungen haben häufig zu Revolutionen und Reformen und zu ihrem andauernden Erfolg beigetragen.

Nun sind nicht nur Kulturen von der Größenordnung Chinas komplex, auch die Jahrtausende zurückreichende Geschichte dieser Kulturen ist es. Man findet in ihr nicht ausschließlich Ansichten, die mit den heutigen Konzeptionen von Mensch, Gesellschaft und Staat unverträglich sind. Immer wieder stößt man auf solche, mit denen sich die vom „Westen“ propagierten Konzeptionen durchaus von der eigenen Tradition her motivieren oder zumindest nachträglich legitimieren lassen. Häufig begegnet man ihnen freilich in dissidenten Kreisen oder in solchen, die über Jahrhunderte wirkungslos blieben. Aber im Fall der drei Offenbarungsreligionen sind die vorhandenen Motive für die modernen gesellschaftlichen Reformen ebenfalls allzu lange folgenlos geblieben. Sie sind in diesen jedoch früher virulent geworden, und dazu mit Auswirkungen rund um die Erde.

Das mag einer der Gründe sein, weshalb man heute in China Akademikern begegnet, die sich als „Kulturchristen“ (wenhua jidutu) bezeichnen. Sie übernahmen diese Bezeichnung von Europäern und Amerikanern, die in einem christlichen Milieu aufgewachsen sind, jedoch an die ontologischen Lehren der Kirche (Exis-tenz Gottes, seine Offenbarung in der Bibel und seine Menschwerdung in Jesus, Unsterblichkeit der Seele, Himmel und Hölle) nie geglaubt haben oder den Glauben im Verlauf der Jahre über Bord geworfen haben. Europäer und Amerikaner, die sich als Kulturchristen bekennen, sondern sich mit dieser Selbstbezeichnung von den gläubig gebliebenen „Kirchenchristen“ ab. In ihrem Denken und vor allem in ihrem Fühlen sind sie jedoch weiterhin von den kirchlichen Lehren geprägt und stehen auch zu dieser Prägung. Sie halten an zentralen Wertvorstellungen des Christentums fest. Ebenso versuchen sie, sich ihr kulturell (spezifisch katholisch oder evangelisch) geformtes Sensorium für das Unergründliche in der Natur des Menschen und des Universums zu erhalten. Sie schätzen die kulturellen Leistungen des Christentums hoch ein und möchten diese als Erbe der Menschheit bewahrt wissen. Diese kulturellen Leistungen sind am sichtbarsten in der Kunst und, obschon weniger monokausal erklärbar und phasenweise gegen kirchlichen Widerstand durchgesetzt, in den Wissenschaften und in den „modernen“ Konzeptionen des freiheitlichen Rechtsstaates und der Menschenrechte. Die Chinesen, die sich als Kulturchristen bekennen, bewundern die geschichtlichen Leistungen des Christentums und sind der Ansicht, daß es sich lohnt, die Wertvorstellungen, denen sie diese Leistungen zuschreiben, auch in einer nichtchristlichen Umgebung zu pflegen. Der einzige Unterschied besteht darin, daß sie nicht mit ihnen aufgewachsen sind, sondern sie zusammen mit der Bezeichnung „Kulturchristentum“ adoptiert haben.

Stellen wir uns einen Nichtostasiaten vor, der die konfuzianische Moral- und Staatsphilosophie kennen und schätzen lernt, so sehr, daß er geneigt ist, sich mit ihren Wertvorstellungen ähnlich zu identifizieren und ihre geschichtlichen Leistungen und ihr Zukunftspotential ähnlich hochzuachten, wie es ostasiatische Kulturchristen dem traditionellen Christentum gegenüber zu tun pflegen. Zu den zentralen konfuzianischen Wertvorstellungen, die er schätzt, gehören Selbstkultivation, ästhetische Sensibilität, die gesellschaftliche Verantwortung der Intellektuellen und Meng Zis Auffassung, daß bei aller Wertschätzung des Lebens dieses doch nicht der Güter höchstes ist. Theologischen Religionen gegenüber hegt er ein gelassenes Verhältnis, soweit sie sich in einen säkularen Staat fügen. Ein solcher Nichtostasiate wird sich, wenn er sich in der Geschichte auskennt, nicht als ein besonders „moderner Mensch“ vorkommen. Sein „Kulturkonfuzianismus“ ist keine Errungenschaft einer neuzeitlichen Aufklärung, gerade gute 300 Jahre alt. Sein Verständnis einer von einer numinosen Ordnungsmacht unabhängigen Moral- und Staatslehre reicht in die vorchristliche Achsenzeit zurück, wenn nicht bis zu Kong Zi selbst, so doch mindestens bis zu Xun Zi. Wovon er sich innerhalb der noch immer lebendigen konfuzianischen Tradition distanziert, ist kein theologisch oder auch nur religionsphilosophisch hochentwickelter „Kirchen-“ oder, angemessener gesagt, „Kultkonfuzianismus“, sondern eine Volksreligion mit mehr anthropologisch als ontologisch faszinierenden Glaubensüberzeugungen und Riten. Für die Mehrzahl der konfuzianischen Gelehrten in der Geschichte Ostasiens war der „Konfuzianismus“ nie etwas anderes als ein „Kulturkonfuzianismus“.

Es ist in diesem Zusammenhang auf einen bemerkenswerten Unterschied in der Geschichte der drei großen „Gedankenreligionen“in Ostasien und in derjenigen der drei großen Offenbarungsreligionen im westlichen Teil der „Alten Welt“ hinzuweisen. Die drei Offenbarungsreligionen begannen als genuin religiöse Glaubenslehren. Theologische Reflexionen führten dann mit der Zeit zu einer Anlehnung an philosophische Gedankengebäude, die man im eigenen Umfeld vorfand, und schließlich zu mehr und mehr rein philosophischen Konzeptionen der Glaubenslehren. In der Folge davon kam es zu einer Aufspaltung in orthodox-orthopraktische und liberale Strömungen innerhalb von Judentum, Christentum und Islam und innerhalb des Christentums seit geraumer Zeit zur gerade vorgestellten Unterscheidung zwischen Kirchenchristen und Kulturchristen. Die Kulturchristen pflegen weltanschauliche Überzeugungen und führen ein Leben, das jeder Mensch, der seine Vernunft zu gebrauchen weiß, mit ihnen teilen kann. Sie unterscheiden sich von anderen Agnostikern oder Nontheisten allein dadurch, daß sie sich in ihren Überzeugungen und in ihrer Lebensführung von einer langen christlichen Tradition gefördert und geprägt glauben und zu ihr entsprechend ein Zugehörigkeitsgefühl pflegen.

In den drei „Gedankenreligionen“ Rujia, Daojia und Buddhadharma/Fojia (Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus) verlief die Entwicklung umgekehrt. Sie begannen als atheistische oder atheologische, d. h., positiv formuliert, als säkulare, weltliche, auf das „Diesseits“ zentrierte Philosophien. Im Lauf der Zeit kam es unter ihren Anhängern zur Ausformung volksreligiöser Vorstellungen und Praktiken, meistens in Verbindung mit polytheistischen Volksreligionen in ihrem Umfeld. Bei allen dreien kann man seither mehrere Stränge unterscheiden, rein philosophische, rein volksreligiöse und eine Vielzahl von Zwischen- und Mischformen. Terminologisch am gängigsten ist die Unterscheidung zwischen „daoistischer Philosophie“ (Daojia) und „daoistischer Volksreligion“ (Daojiao). Vor allem die buddhaitischen Philosophen haben zu den volksreligiösen Varianten der Lehre Buddhas ein durch und durch tolerantes Verhältnis. Man ist versucht, von einer hegelianischen Einstellung zu sprechen. Die volksreligiösen Riten und Mythen werden als entwicklungspsychologisch zu verstehende und pädagogisch zu beachtende Vorstufen interpretiert, über welche die Menschen schrittweise, den einzelnen Schulrichtungen, die (von einem chronologischen Standpunkt aus willkürlich) hierarchisch geordnet werden, folgend zur wahren Erkenntnis gelangen.

Das zur Zeit in China neu erwachte Interesse an der konfuzianischen Philosophie ist verständlich. Es fällt heute leichter, sich mit ihr zu identifizieren, als vor hundert Jahren. Damals wurde die konfuzianische Lehre mit der Ideologie und der Wirklichkeit des altersstarren Kaiserreiches gleichgesetzt, mit autoritärer Staatsführung, fehlenden Freiheitsräumen für die Mehrheit der Bevölkerung, erstickter Mobilität zwischen den sozialen Schichten, verbotenen Kontakten mit anderen Kulturen und einem Wust an Normen und Ritualen, die anders als in früheren Zeiten, nicht mehr den gewandelten Lebensbedingungen angepaßt wurden und das Gegenteil von dem bewirkten, was mit den Regeln der Lebensführung von Kong Zi beabsichtigt war. Es ist keine Überraschung, daß sich chinesische Intellektuelle nach dem Sturz des Kaiserreiches zur Neuorientierung nicht nur bei „westlichen“ Philosophen umsahen, sondern sich auch wieder der buddhaitischen Denktradition im eigenen Land zuwandten. Heute ist die Erinnerung an die letzte Kaiserdynastie und ihre Assoziation mit der konfuzianischen Moral- und Staatslehre verblaßt. Sie wirkt bei Chinesen wie bei Nichtchinesen einer erneuten Annäherung und Identifikation mit der konfuzianischen Philosophie nicht mehr entgegen.

Man kann sich mit keiner komplexen kulturellen Tradition schlicht identifizieren. Entweder sieht man über ganze Passagen ihrer Geschichte hinweg, oder man erklärt diese mit den menschlichen Schwächen ihrer Vertreter oder mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen früherer Zeiten und klammert sie aus. Die Aufklärungstraditionen sind keine Ausnahmen, weder die alte ostasiatische noch die junge europäische. Ebensowenig kann man sich mit einer der „großen Religionen“ umstandslos identifizieren. Man liest entweder über ganze Passagen ihrer kanonischen Schriften hinweg oder deutet sie um, oder aber man distanziert sich mit dem Verweis auf ihre geschichtliche Bedingtheit einfach von ihnen. In der Regel finden sich auch interne Gründe, um sie anders zu interpretieren oder auf Abstand zu gehen. Die anstößigen Stellen vertragen sich nicht mit anderen grundsätzlichen Lehren desselben Textkorpus. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen den europäisch-amerikanischen und den asiatischen Zivilreligionen.

© 2009 by Ammann Verlag & Co., Zürich.

Das Buch enthält eine um zahlreiche Anmerkungen und Literaturhinweise erweiterte Version des hier abgedruckten Textes.

1 „Atheismus“ war in den vergangenen Jahrhunderten ein vielfach mit militanten anti-theistischen und zum Teil auch mit amoralischen Konnotationen verbundener Begriff. Ich ziehe ihm daher, einem aufkommenden Usus folgend, den historisch unbelasteten Begriff „Nontheismus“ vor und gebrauche „Atheismus“ nur im Zusammenhang mit entsprechenden Zitationen und wenn bei seinen Vertretern tatsächlich eine antitheistische Einstellung vorherrschend ist.

2 „Ein Bewußtsein von dem, was fehlt: Über Glauben und Wissen und den Defaitismus der modernen Vernunft“, in: Neue Zürcher Zeitung, 10. Februar 2007.

3 Wirkungsstätte von Kong Zi und Meng Zi (Konfuzius und Menzius) im heutigen Shandong in Nordchina.

4 Eine der Wirkungsstätten der achsenzeitlichen Aufklärer Ajita, Buddha, Goshala und Mahavira in Südasien, gelegen im heutigen indischen Bundesstaat Bihar.

5 Eine „postsäkulare Gesellschaft“ zeichnet sich nach Habermas durch eine positive Einstellung zum Fortbestehen religiöser Gemeinschaften aus, im besonderen durch die Anerkennung, daß diese sich mit ihren ethischen Grundhaltungen zugleich als individuelle Lebenshilfe und als staatstragend erweisen können.

6 Kepel, Gilles, 1991, La Revanche de Dieu: Chrétiens, juifs et musulmans à la reconquête du monde, Paris: Seuil.

7 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 1967, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“; zitiert nach dem Reprint in: Recht, Staat, Freiheit: Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006: 92-114.

8 Taylor, Charles, 2007, A Secular Age, Cambridge, MA: Harvard UP.

9 Shamen bujing wangzhe lun („Abhandlung über die Gründe, warum Mönche den Herrschern nicht ihre Ehrerbietung erweisen müssen“), gekürzt wiedergegeben in: Sources of Chinese Tradition I, 1999: 426–429;

10 Ricoeur, Paul, 1965, „Demythiser l’accusation“ (1965), in: Le conflit des interprétations, Seuil, Paris 1969: 330–347; deutsch: „Die Anklage entmythisieren“, in: Hermeneutik und Psychoanalyse, München: Kösel, 1974: 217–238.

11 „Wie können die Religionen friedlich und frei beisammen leben?“, in: Neue Zürcher Zeitung, 23./24. Juni, Nr. 143: B 1–2.

12 1995, „Von welchen Ressourcen leben wir?“, in: Neue Zürcher Zeitung, 20./21. Mai, Nr. 116: 66.

Elmar Holenstein, geboren 1937 in St. Gallen, studierte Philosophie, Psychologie und Sprachwissenschaft in Leuven, Heidelberg und Zürich. Als Professor für Philosophie war er in Bochum, an der ETH Zürich und in Tokyo tätig. Seit seiner Emeritierung lebt er in Yokohama, Japan. Zuletzt erschien sein Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens (Ammann, 2004).

Quelle: Recherche 3/2009

Online seit: 30. September 2019

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Elmar Holenstein. China ist nicht ganz anders. Essays. Ammann Verlag, Zürich 2009. 200 Seiten, € 19,95.