Fast ein Verbrechen

Ernst Strouhals Welt der Wissenschaft

Online seit: 15. Oktober 2019

Voriges Jahr hätte ich in der alten Akademie fast ein Verbrechen begangen. Das kam so:

Auf einer transdisziplinären Tagung zu Wissenschaft und Kunst war ein abendlicher Plenarvortrag angesetzt. Der Hörsaal der Akademie war brechend voll. Es war Winter, es dampfte recht.

Die Bühne war karg, ein Pult, der Vortragende sprach eine gute Stunde. Gegenstand war die Mathematik. Es ging, wenn ich das so salopp zusammenfassen darf, um die Endlichkeit unendlicher Prozesse und um die Funktion dieser Endlichkeit unendlicher Prozesse für die schönen Künste. Es war mucksmäuschenstill im Saal. Der Vortrag war brillant, aber ich hatte – es war ein schwerer Tag gewesen – nach einer halben Stunde den Faden verloren.

Vor mir saß eine junge Linkshänderin. Sie machte sich auf einem losen Blatt (kariert, zwecks Ablage vorgelocht) Notizen, nicht allzu viele, aber doch. Statt zuzuhören blickte ich den ganzen Vortrag lang über ihre Schulter und las mit:

Der Mensch ist endlich. endlich sinusförmig, Universum aber unendlich sinus- oder cosinusförmig, Algorithmus lat., von Araber, aber heute Computer. Prozesse sind Algorithmen. Verborgen oft. Al Muhammed, Geboren am Aralsee im heutigen Usbekistan. Fibonacci, 12. Jhdt.: der Algorithmus sagt: gelobt sei Gott der Herr. Nicht Mathematik, aber Kunst im Unendlichen! Noch Computersprache, Technik dominiert heute.

Da ich nun einmal den Faden verloren hatte – es war, wenn ich mich recht entsinne, bei der Passage über die flämische Malerei –, war ich dazu übergegangen, das Notat der Linkshänderin auf kleine Zettel aus meiner Brieftasche zu kopieren. Und als die Diskussion begann und sich die Linkshänderin kurz einem jungen Kollegen zuwandte, träumte mir, das einsame Blatt, das die Autorin vielleicht gar nicht vermissen würde, mit einem schnellen Griff an mich zu nehmen, danach meinen Platz unauffällig zu verlassen, es auf der Akademietoilette in ein Kuvert zu stecken und an den Vortragenden zu schicken. Ich war wohl zu unentschlossen, ich verpasste den Augenblick. Die Linkshänderin drehte sich zurück, faltete das Blatt, steckte es gedankenlos in ihren Rucksack und ging mit ihrem Kollegen, noch während die Diskussion im Gange war. Schade eigentlich, alles, was mir blieb, waren die drei schäbigen Zettel.

Ernst Strouhal ist Publizist und Kulturwissenschaftler in Wien.

Quelle: Recherche 2/2010

Online seit: 15. Oktober 2019