Der Blaue Planet

Wie ein Bild im Zusammenspiel von Technik und Kultur das globale Bewusstsein prägte. Zur Genese einer Visiotype. Von Frank Hartmann

Online seit: 05. Oktober 2019

Wer kennt nicht dieses Bild der Erde aus kosmischer Perspektive – eine ungewöhnliche Fotografie vom Blauen Planeten, die unser Weltbild nachhaltig beeinflusst hat. Für Life Magazine zählt es zu den 100 Fotos mit weltverändernder Wirkung. Es ist eines jener Bilder, das ohne Code auszukommen scheint, also von jedermann sofort verstanden wird. Seine  Botschaft ist eindeutig und planetarisch: Es führt die fragile menschliche Existenz auf dieser Erde inmitten eines schwarzen Nichts vor Augen.

Genau deshalb wurde es zur zentralen Ikone des Umweltbewusstseins. Natürlich ziert es das Cover entsprechender Publikationen, etwa von Al Gore,  und wird überhaupt gern eingesetzt, wenn irgendwie Ökologie gemeint sein soll. Gerade aus dem apokalyptischen Schreckensszenario der Klimakrise ist das Bild der frei im Weltall flottierenden Erde nicht mehr wegzudenken. Es handelt sich um die Signatur einer bis ins letzte technisierten Kultur und damit um die  Präsentierung eines Weltbildes, welches – Heidegger paraphrasierend – die Eroberung der Welt als Bild, als Gebilde des vorstellenden Herstellens auf den Punkt bringt. Wie aber kam es zu „Astronaut Photography AS 17-148-22727“ und wie wurde daraus das vermutlich meistverbreitete Bild überhaupt, das Bild vom Blauen Planeten, dieser visuellen Stereotype der Globalisierung?

Das Auge Gottes

In der Moderne verändern technische Instrumente radikal das menschliche Sehen: Brille und Fernrohr, Teleskop und Mikroskop, Fotoapparat und Filmkamera. Das Regime der optischen Medien überformt den Augenschein, der selbst mehr und mehr zum Konstrukt der Technik wird. Denken wir nur an die populären „Schnappschüsse“ von Galaxienhaufen und Sternennebeln, die das Hubble-Teleskop aus dem Weltall auf die Erde sendet. Solche bildgebenden Abstraktionen werden wie selbstverständlich in den massenmedialen Diskurs gespeist, sie bestimmen unsere Auffassung vom Universum. Ganz so, als könne man dieses wirklich in Augenschein nehmen, ganz als ob über Wochen und Monate hinweg komputierte Bilder, auf denen Milliarden von Galaxien zu sehen sind, menschlichen Verstand und Einbildungskraft nicht hoffnungslos überfordern würden. Was sieht man denn da eigentlich?

Neue Instrumente, wie Wilhelm Herschels Riesenspiegeteleskop, erschlossen die Welt der Fixsterne und öffneten somit den kosmischen Raum für die menschliche Vorstellung. Gegen 1840 wurde es möglich, verlässliche Angaben zu den Fixstern-Entfernungen zu machen. Der geschätzte Umfang des Universums vergrößerte sich immer mehr, gewaltige Distanzen wurden aus den neuen Beobachtungen errechnet. Immer verlorener schien die Erde in den unendlichen Weiten des Alls. Aber mit den verbesserten Apparaten, die noch Hunderttausende von Lichtjahren entfernte Objekte ausmachen konnten, erblickte man ja nicht ihren gegenwärtigen, sondern einen früheren Zustand. Wie bereits Alexander von Humboldt in seinen Kosmos-Vorträgen (1827/28) sinniert: „Der Anblick des gestirnten Himmels bietet Ungleichzeitiges dar.“

Die Entwicklung fotografischer kosmischer Perspektiven lässt sich bis 1840 zurückverfolgen.

So wundert denn kaum jene 1846 zunächst anonym publizierte Schrift Die Gestirne und die Weltgeschichte, mit der ein gewisser Dr. Felix Eberty ein Gedankenexperiment anstellte: Beobachter auf entfernten Gestirnen könnten die Erde in ihrer Vergangenheit sehen. Könnte man, rein theoretisch, einen beliebigen Beobachterstandpunkt einnehmen und diesen auch wechseln, dann käme dies einer Reise durch die Weltgeschichte gleich, indem man die von der Erde abgestrahlten „Lichtbilder“ als Archiv visueller Informationen der irdischen Vergangenheit betrachten würde.

Natürlich hat diese Vorstellung mit der Faszination für die gerade erst öffentlich gemachte Technik der Fotografie zu tun, mit der sich unglaubliche Einblicke nehmen ließen, auch im Bereich der Astrofotografie. Die Entwicklung fotografischer kosmischer Perspektiven lässt sich bis 1840 zurückverfolgen, als der amerikanische Astronom John W. Draper die erste bekannte Daguerreotypie des Mondes anfertigte. William C. Bond lichtete 1850 die Wega ab, den nächsten Stern außerhalb unseres Sonnensystems; eine „Photoheliographie“ der Sonne folgte 1858 durch Warren de la Rue, und 1862 machte Lewis M. Rutherford Aufnahmen von den Sternen nach Spektralklassen.

Die Schrift von Eberty ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, weil sie den forschenden Blick umkehrt: ihn nicht hinaus in die Weiten des Alls, sondern von dort aus zurück auf die Erde lenkt. Die Geschichte der Geovisualisierungen in Form von Globen ist freilich viel älter und kann bis in die Antike zurück verfolgt werden, allein in diesem Fall geht es um den extraterrestrischen Blick auf das Ganze der Erdoberfläche, der eigentlich nur dem Auge Gottes möglich ist – oder eben dem Menschen, der mit all seinen  Hilfsorganen zum Prothesengott wird (Sigmund Freud).

Der charmante Gedanke Ebertys, dass Bildinformation auf ätherischer Ebene ewig erhalten bleibe, hält der physikalischen Wirklichkeit nicht stand. Wenn auch das Weltall kein „Lichtbildarchiv“ sein kann, so bleibt seine Schrift doch ein Lehrstück dafür, wie bildliches Denken technische Möglichkeiten antizipiert. Im Fall der Reise entlang des Lichtstrahl waren das medientechnische Wahrnehmungserweiterungen wie Zeitlupe und Zeitraffer. Ebertys auf Englisch und Deutsch erschienene Schrift bot entsprechend Anregungen für Science-Fiction Autoren wie für visionäre Wissenschaftler.1

Weltkommunikation

Es scheint, als gingen mit jeder neuen Medientechnik unweigerlich Vorstellungen von Völkerverständigung und Weltfrieden einher. Bereits das transatlantische Telegraphenkabel im 19. Jahrhundert schien ein neues, planetarisches Bewusstsein mit sich zu bringen. So schwärmte die Publizistik anlässlich des ersten, obwohl nur kurzzeitig funktionierenden Transatlantikkabels von einer alles versöhnenden Weltkommunikation: „It is impossible that old prejudices  should longer exist, while such an instrument has been created for the exchange of thought between all the nations of the earth.“2 Um 1900 war die Welt dann bis in alle Ecken und Enden verkabelt, doch den Weltfrieden hat das bekanntlich nicht gefördert.

Der damals populären Gleichsetzung der elektrischen Reizweiterleitung in Telegrafenkabeln und in menschlichen Nervenbahnen zufolge wundert es nicht, dass die Weltverkabelung die Vorstellung von einem Weltgehirn beförderte: ein Mensch und Technik versöhnender Kommunikations- und Wissensapparat, der das geistige Potenzial der Menschheit auf eine neue evolutionäre Stufe heben würde. Ab den 1920er-Jahren wurde diese Vorstellung Teil einer neuen Weltwahrnehmung, die heute als ökologisch bezeichnet wird und die neben dem Ansatz Jakob Johann von Uexkülls (Biosemiotik) von so unterschiedlichen Figuren wie dem englischen Science-Fiction-Autor H.G. Wells (World Brain), dem russischen Geologen Wladimir I. Wernadski (Biosphäre) und dem jesuitischen Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin (Noosphäre) propagiert wurde, um schließlich noch Marshall McLuhans elektronische Vernetzungs-Metapher (Global Village) zu stimulieren.

Sowohl bei den diese Konzepte begründenden Technologien wie bei der sie begleitenden Rhetorik geht es um die Welt als Ganzes, um Weltprojekte: Welt-Telegraphenverein (1865), Weltpost (1874) und diverse Weltsprachenprojekte stehen für das Bestreben, eine international standardisierte, globale Kommunikationsstruktur zu schaffen. Grenzenlose Kommunikationsverhältnisse aber verändern die Weltwahrnehmung. Der britische Astronom Sir Fred Hoyle, der übrigens die Bezeichnung vom Big Bang (Urknall) prägte, äußerte 1948 die Hoffnung, es wäre einst möglich, die ganze Erde von außen zu sehen. Einem solchen Blick, der später Overview-Effekt3 genannt wurde, käme ein einheitsstiftender Effekt zu, da die durch Weltkriege politisch in Ost und West geteilte Sphäre wieder als gemeinsamer menschlicher Lebensraum wahrzunehmen wäre. Tatsächlich verschwimmen vom Weltall aus betrachtet die nationalen Grenzen und die menschengemachten Unterschiede; entgegen jener falschen Behauptung, die 1923 im National Geographic publiziert wurde, ist noch nicht einmal die chinesische Mauer von dort aus sichtbar.

Satellitenblick

Ein neues Kapitel in der Geschichte des technischen Sehens wurde im Oktober 1957 aufgeschlagen, als Sputnik 1 mehrere Wochen lang ein weltweit empfangbares Radiosignal aussandte und damit den Beginn einer globalen Mediensphäre markierte. Die Apparatewahrnehmung verortet die Sphäre des menschlichen Aufenthalts neu; die Rede war nun vom Satellitenblick auf das Spaceship Earth (Buckminster Fuller), auf dem wir alle zur Besatzung gehören.

Nun lieferte Sputnik ja noch keine Bilder, wohl aber den imaginären Effekt, und mit den folgenden Raumfahrten wurde dieser auch visuell verstärkt. Die NASA zeichnet 1960 die ersten vom Wettersatelliten Tiros 1 gemachten Bilder der Erde vom All aus auf. 1961 sah Jurij Gagarin bei seiner Erdumkreisung mit Wostok 1 als erster Mensch ihre Oberfläche aus einer kosmischen Perspektive. Aus der Umlaufbahn funkte er seine persönlichen Eindrücke zur Bodenstation, sie bezogen sich auf die „friedliche Schönheit unseres Planeten“ – eine Botschaft aus dem Kalten Krieg, die dessen Ideologie von einer buchstäblich höheren Warte aus zu transzendieren vorgab. Wostok 1 sandte schwarz-weiße Fernsehbilder zur Erde, über deren Aufzeichnung nichts bekannt ist. Erste Farbfotos aber hat German Titov von Wostok 2 aus gemacht.

Es scheint, als gingen mit jeder neuen Medientechnik unweigerlich Vorstellungen von Völkerverständigung und Weltfrieden einher.

Doch die Umlaufbahnen von Wostok lagen zu nah an der Erdoberfläche, um das zu ermöglichen, was in der Folge als Overview-Effekt (Frank White) bezeichnet wurde: die Wahrnehmung der ganzen Erde. Für die kosmische Perspektive waren zunächst einsame Apparate im Weltall zuständig. Die USA schickten in den 1960er-Jahren mehrere Forschungssatelliten in Richtung Mond. Dabei entstand die 1966 von der Mondumlaufbahn des Lunar Orbiter 1 zur Erde gefunkte Aufnahme Earthrise der über dem Mond aufgehenden Erde – ein unerhörter Blick, den es so noch nie gegeben hatte. Das Lichtbild wurde in einer Pressekonferenz der NASA als „Foto des Jahrhunderts“ präsentiert. Am 8. August 1967 entstand das erste schwarz-weiße Bild von der Whole Earth.

Alle nachfolgenden Fotografien, am prominentesten das 1968 vom Astronauten  William Anders von der Apollo 8 aus gemachte Farbbild Earthrise, sollten diesem Muster folgen. Ein Bild überlagert das frühere, und die Astronauten erfüllen ein Programm kultureller Erwartungshaltung: die bis Hubble weitergeführte Idee, wir könnten das auch so sehen, wenn wir dort wären. Doch dies bekräftigt nur die fotografische Wahrnehmungslüge, mit der zuerst noch ganz harmlos die Earthrise-Aufnahme von der (ursprünglichen) Vertikalen in die (publizierte) Horizontale gekippt wird, um menschlichen Sehgewohnheiten auf der Erde zu entsprechen, und mit der zuletzt bei den Hubble-Aufnahmen Daten so visualisiert werden, als wären da Dinge, die es tatsächlich so zu sehen gibt.

True Colors

Gerade die Aufnahme Whole Earth wurde vielfach manipulativ visualisiert, bis sie zum Bild vom Blauen Planeten wurde – es war gewissermaßen die Suche nach einer idealen Form. Im Dezember 1972 entstand beim Flug der Apollo 17 zum Mond die Aufnahme „Astronaut Photograph AS 17-148-22727“ – oben befindet sich der Südpol, im Zentrum ist der afrikanische Kontinent mit Madagaskar sichtbar. Die Aufnahme wurde zur Publikation horizontal gekippt und wurde unter dem Titel The Blue Marble berühmt.

Doch die definitive Variante kommt ganz anders zustande. Erst 2002 liegt ein spektakuläres Bild vom Blauen Planeten vor. Es sieht den früheren Aufnahmen der Erde sehr ähnlich, ist aber eine kategorial andere Visualisierung, die aus einer Serie von Satellitenaufnahmen zusammengesetzt wurde. Aus den Oberflächenanalysen von MODIS, mit einem Spektroradiometer aus 700 km Höhe, setzt ein Team von Visualisierungsexperten der NASA in monatelanger Arbeit „the most detailed true-color image of the entire Earth to date“ zusammen, nun freilich mit dem nordamerikanischen Kontinent im Zentrum.4 Damit der Blaue Planet wirklich der Erwartungshaltung entspricht, werden Wasseroberflächen und Vegetationsdichte, Schneedecke und Wolkentage aus tausenden Aufnahmen zu einer gefälligen Variante, einem „seamless true-color mosaic“ kombiniert.

Man kann also behaupten, dass unser Blauer Planet überhaupt nicht so zu sehen ist, wie man ihn uns zu sehen gibt. Wenn man ihn uns denn zu sehen erlaubt, denn die ersten Bilder der Whole Earth hielt die NASA aus militärstrategischen Gründen zunächst unter Verschluss. „Why haven‘t we seen a photograph of the whole earth yet?“ – fragte 1966 eine Kampagne zu deren Freigabe.5 Und hier, in ihrer Symbolik für ein Projekt der Gegenkultur, liegt eine weitere Bedeutungsschicht der Abbildung.

Whole Earth Catalog

Stewart Brand, Computeringenieur und ein Merry Prankster, soll unter LSD-Einfluss auf dem Hausdach sitzend eine von Buckminster Fuller inspirierte neue Wahrnehmung des menschlichen Lebensraumes imaginiert haben. Er startete also eine Kampagne zur Freigabe des magischen Bildes, von dem er annahm, dass seine popkulturelle Verbreitung eine bewusstseinsverändernde Wirkung auslösen würde – und hatte Erfolg: Im Herbst 1968 zierte das Bild des Blauen Planeten das Cover seiner Publikation The Whole Earth Catalog. Es symbolisierte damit mehrschichtig den in diesem Druckwerk manifestierten ganzheitlichen Effekt.

Der Whole Earth Catalog entsprach dem Selbstverständnis nach einem Werkzeug, das frühere, etwa in Form von Enzyklopädien realisierte Weltprojekte überbieten und eine Verstärkerfunktion für ein globales ökologisches Bewusstsein bilden sollte. Er enthielt Hinweise auf brauchbare Dinge und deren Bezugsquellen, was einem selbstbestimmten Leben in den entstehenden Hippie-Landkommunen diente. Die Idee war ganz einfach, eine Navigierbarkeit durch vorhandenes Wissen zur Nachhaltigkeit zu schaffen. In der Eigenbezeichnung hieß der Katalog „an evaluation and access device“, und so lässt er sich als ein kulturtechnisches Werkzeug betrachten, welches die computertechnischen Möglichkeiten wie Browser und Suchmaschinen antizipiert hat. Tatsächlich erinnert sich Steve Jobs (Apple Inc.) in einer 2005 gehaltenen Rede an das Google seiner Generation: „When I was young, there was an amazing publication called The Whole Earth Catalog, which was one of the bibles of my generation … It was sort of like Google in paperback form, 35 years before Google came along. It was idealistic and overflowing with neat tools and great notions.“

Das Bildmotiv vom Blauen Planeten entspricht einem ganzheitlichen oder auch systemischen Denken, jenem „understanding whole systems“, das Gregory Bateson in Rahmen der kybernetischen Kommunikationstheorie entwickelte.6 Als Symbol für ein neues Denken und für die ökologische Sensibilisierung wird es ab 1970 als Bildmarke für den Whole Earth Day eingesetzt, den der US-Kongress für den 22. April als nationalen Aktionstag beschlossen hat und der seit 1990 auch international als Tag der Erde gefeiert wird.7

Visiotypen

Seither brannte sich das Bildmotiv des „Globalen“ ins kollektive Bewusstsein ein, doch die Symbolik dieses Technobildes half nicht nur zur Verbreitung ökologischen Sentiments, sondern war bald auch einer Art von gestalterischem Wildwuchs ausgesetzt – in Werbung und Umweltbroschüren, auf Postkarten und ökologiebewegten Webseiten gerät der Blaue Planet zum verkitschten Devotionalienmotiv einer postmodernen Öko-Volksfrömmigkeit.8 Im Dokumentarfilm An Inconvient Truth (2006), der Al Gores Kampf gegen die globale Erwärmung zeigt, ist das Motiv fast fünfzig Mal zu sehen. Ursprünglich eine Multimedia-Produktion, steckt diese überhaupt voll suggestiver Visualisierungen, so ziemlich alles missachtend, was gute Informationsgrafik leisten sollte. Der Blaue Planet wurde zu einer visuellen Stereotype.

Wer heutzutage präsentiert, setzt auf die Macht der grafischen Beispiele.9 Sollen diese verständlich sein, müssen in der visuellen Kommunikation bewährte Symbole verwendet werden. Der amerikanische Publizist Walter Lippman, der in seinem Buch Public Opinion 1922 für solche feststehenden Bedeutungen den Begriff „Stereotype“ geprägt hat, meinte damit „pictures we wear in our heads“ – Bilder in unseren Köpfen, die immer schon da sind, wenn wir Wahrnehmungen machen. Die Kulturwissenschaft spricht inzwischen von Visiotypen, um jene Art der Veranschaulichung zu bezeichnen, die in Form von Figuren und Zahlen- oder Instrumentenbildern etwas zeigt, das es in Wirklichkeit so nicht gibt oder nicht geben kann, das aber unsere Wahrnehmung prägt.10

Die Visiotype entspricht einem leicht lesbaren Muster, dem noch lange kein Realitätsgehalt entsprechen muss. Es handelt sich vielmehr um eine bedeutungsschwangere Inszenierung. Ein Beispiel ist der Eisbär auf der Scholle, mit dem Besorgnis erregende Folgen des Klimawandels gern illustriert werden. Es scheint Konsens zu sein, dass dieser Bär in seinem Lebensraum bedroht ist. Weder gibt es dafür einen wissenschaftlichen Beweis noch ist es ungewöhnlich, dass diese Bären sich schwimmend oder auf einer Eisscholle treibend fortbewegen, sondern das gehört zu ihrem ganz normalen Verhalten. Nicht das Bild des treibenden Eisbären zeigt etwas, sondern die Absicht, mit der es eingesetzt wird, und die erst entschlüsselt gehört. So  erweist sich die oberflächlich leichte Lesbarkeit der Visiotype als eine komplexe kulturelle Codierung von Sichtbarkeit.

Inwiefern ist nun die Ikone vom Blauen Planeten eine Visiotype? Nun, indem sie visualisiert, was mehr der Ideologie als der Wirklichkeit unserer Weltwahrnehmung entspricht. Denn was man der Visiotype nicht ansieht, das ist eine kulturelle, politische und ökonomische Wirklichkeit, die aus Macht und Gewalt, aus menschlicher Gier und religiöser Verblendung, aus Ausbeutung, Grenzen und Konflikten besteht. Die Visiotype verführt zu einer naiven Komplexitätsreduktion. Schon auf der phänomenologischen Ebene ist die Konnotation der Ganzheit falsch – wie bereits Buckminster Fuller trocken bemerkte: In der Fotografie der Whole Earth ist nie die ganze, sondern immer nur eine halbe Erde zu sehen.

Mediale Existenz

Die technischen Bilder (Vilém Flusser) lassen uns vergessen, dass wir uns längst im Jenseits des traditionellen Weltbildes mit seinem Vertrauen in die bildliche Evidenz befinden. Die Wissenschaft operiert fast ausschließlich mit Daten, die Bilder hingegen sind für Presse und Publikum gemacht, um Akzeptanz zu generieren. Sie geben sinnliche Nähe zu Objekten vor, doch diese überall um sich greifenden Visualisierungen und Animationen sind nichts als die exoterische Maske der Unsichtbarkeit (Hartmut Boehme), in die unsere technologische Kultur vorgestoßen ist.

Wer sich gegenwärtig mit Visueller Kommunikation beschäftigt, ist vor wesentliche neue Herausforderungen gestellt. Diese betreffen nicht mehr nur Drucktechnik, Farbe, Licht und Beschaffenheit des Datenträgers, auch nicht die Zeichensysteme des Sichtbaren, die Bildlichkeit oder die kulturellen Ausdrucksmodalitäten. Vielmehr bestehen sie darin, mit den neuen Oberflächen umzugehen, die uns die Welt begreifen lassen. Anders als die traditionellen Bilder schieben sich diese Oberflächen nicht zwischen uns und die Welt, als Abbild oder Repräsentation, sondern sie sind Produkte einer algorithmischen Gestaltung von Welt. Wieder, oder immer noch, ein Weltprojekt: als technische Synthese. All die Benutzeroberflächen, ohne deren Simulation kaum eine Medienanwendung mehr zu bedienen ist.

Mit diesen medialen Interfaces aber ist die Unterscheidung zwischen Sein und Schein hinfällig geworden. Sie erzeugen nämlich eine ontologische Zweideutigkeit (Günther Anders), die sich einfacher Kritik des Scheins als Auflösung der Differenz zwischen Ding und Zeichen entzieht. Zweideutig ist nicht die Wirklichkeit im Bild, sondern das Medien-Bild als Wirklichkeit, als neue Form, die uns nicht die Welt begreifen lässt, sondern die Welt bedeutet: Es gibt kein Außerhalb von Medien. Die kritische Erforschung dieser medialen Existenz ist ebenso schwierig wie problematisch, abzulesen an Vilém Flussers Versuch, dies mit einem phänomenologischen Zugang zur Medienkultur ein letztes Mal noch zu leisten.

In der Medienkultur treten die Defizite geisteswissenschaftlicher Ansätze (einschließlich der Bildwissenschaft) mit ihrer philologischen Zugangsweise immer deutlicher hervor. Ihre traditionelle Herstellung von Textbezügen lässt keine hinreichende Orientierungsleistung für Probleme der Medienkultur mehr erkennen. Sie bleiben auf der formal ästhetischen Ebene und kreisen in idiosynkratischen Diskursen, deren Ergebnisse langweilen. Ein Problembezug ergibt sich erst dann, wenn man einen gewissen Perspektivenwechsel hin zu einer materialen Ästhetik vollzieht und dabei statt auf „Diskurse“ auch auf die Gebrauchskulturen und damit auf Prozesse achtet, welche die neuen Medientechniken hervorbringen, verstärken und diesen erst ihre kulturelle Bedeutung geben, weil Technik stets in Anwendungen zur Geltung kommt, deren Dimension kaum zu prognostizieren ist (das gilt für heute alltägliche Praktiken wie E-Mail, SMS, Twitter etc., die eigentlich parasitären Ursprungs sind).

In seinen Philosophischen Untersuchungen gab Ludwig Wittgenstein für den Schritt weg von der begriffs- und hin zur gebrauchstheoretischen Bedeutung von Worten einst die Maxime aus: „Denk nicht, sondern schau!“ Nur das „Hinschauen“ auf den tatsächlichen Gebrauch erschließt die kulturellen Aspekte mit ihren je eigenen Codes und Praktiken.

1 Karl Clausberg: Zwischen den Sternen. Lichtbildarchive, Berlin 2006

2 Briggs/Maverick: The Story of the Telegraph, 1858, zit. nach Tom Standage: The Victorian Internet, London 1999

3 Frank White, Ulf Merbold: Der Overview-Effekt, München 1991

4 http://visibleearth.nasa.gov/view_rec.php?id=2429

5 Fred Turner: From Counterculture to Cyber-
culture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2006

6 Gregory Bateson: Ökologie des Geistes, Frankfurt am Main 1985

7 http://www.earthday.de/geschichte.html

8 Wolfgang Sachs: Satellitenblick, in: Ingo Braun (Hg.): Technik ohne Grenzen, Frankfurt am Main 1994, S.305ff

9 Nancy Duarte: slide:ology, The Art and Science of Presentation Design, O‘Reilly Media 2008

10 In Anlehnung an Steven J. Gould, vgl. Uwe Pörksen: Weltmarkt der Bilder, Stuttgart 1977

Frank Hartmann, geboren 1959, ist Professor für Theorie und Geschichte der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar. Zuletzt erschienen Globale Medienkultur. Technik, Geschichte und Theorien (Facultas WUV, Wien 2006), Multimedia (Facultas WUV, Wien 2008) und Medien und Kommunikation (Facultas WUV, Wien 2008). Der hier abgedruckte Beitrag beruht auf seiner am 28. Oktober 2009 gehaltenen Antrittsvorlesung.

Quelle: Recherche 4/2009

Online seit: 05. Oktober 2019