Philosophen auf dem Podium

Julian Nida-Rümelin im Gespräch mit Frank Hartmann über den kommenden XXII. Deutschen Kongress für Philosophie und die Hinwendung der Zunft zu praktischen Fragen.

Online seit: 05. November 2019

FRANK HARTMANN Kommenden Herbst findet der XXII. Deutsche Kongress für Philosophie statt, das Generalthema lautet „Welt der Gründe“. Was werden auf diesem Kongress, den Sie dieses Jahr in München ausrichten, für Fragen gestellt? Gemäß dem Hegel’schen Diktum ist „Philosophie ihre Zeit in Gedanken gefasst“; nun scheint mir der Kongress nicht nur ein deutscher Kongress für Philosophie zu sein, sondern vor allem auch ein Kongress für deutsche Philosophie und für abendländische Fragen. Und mit Blick auf diese Fragen muss man doch – um provokant zu formulieren – nachhaken: Haben Philosophen überhaupt noch die richtigen Gedanken zu unserer Zeit?

JULIAN NIDA-RÜMELIN Der diesjährige Kongress ist auch international ausgerichtet. So ist etwa auch die japanische Philosophie mit Tanehisa Otabe, Shigeto Nuki und Ryosuke Ohashi vertreten, die angelsächsische mit u.a. Robert Pippin, Robert Brandom, Al Mele und Seyla Benhabib, auch Slavoj Zizek wird einen Vortrag halten. Aber natürlich ist der Kongress auch eine Präsentation der deutschsprachigen und damit wohl auch der deutschen Philosophie, die alle drei Jahre mit ihren führenden Vertretern stattfindet.

HARTMANN Meine Tochter frage mich einmal „Was ist eigentlich Philosophie?“ und ich antwortete „Das ist, wenn alte Männer über tote Männer sprechen“. Danach interessierte sie sich nicht mehr besonders dafür. Aber Ihr Anliegen mit diesem Kongress scheint zu sein, auch die Allgemeinheit zu erreichen. Ich habe bemerkt, dass Sie Bürger aus München mit einbeziehen wollen und nicht nur Experten. Wird das funktionieren?

NIDA-RÜMELIN Ich habe bereits vor Jahren in der Münchner Muffathalle das so genannte „Philosophische Nachtgespräch“ ausgerichtet. Einmal im Monat saßen Jugendliche ab 16 Jahren von neun bis elf Uhr abends – teilweise am Boden, weil der Veranstaltungsraum voll war – und diskutierten mit Wissenschaftlern über philosophische Fragen. Und dabei war das Format durchaus nicht „philosophy light“, also eine unstrukturierte Diskussion, in der niemand auf den anderen hört. Stattdessen mussten die Vortragenden in 20 Minuten eine klare These vorstellen – etwa zu der Frage, was Glück ist –, und im Anschluss wurde über diese gestritten. Diese Veranstaltung ist sehr gut gelaufen, ebenso wie die Vorträge, die ich von Zeit zu Zeit an Schulen halte. Diese Erfahrungen haben mich dazu gebracht zu sagen: Jetzt haben wir schon einmal so viele kluge Philosophinnen und Philosophen nach München gebracht, warum sollten davon nicht auch das philosophisch interessierte Bürgertum ebenso wie die Schülerinnen und Schüler der Stadt profitieren? Herausgekommen ist das Programm „PhilosophInnen in der Stadt“ mit einer Vielzahl von Vorträgen an Schulen, in Stadtteilkultureinrichtungen, an Theatern und so weiter. D.h. dieses Angebot ist voll angenommen worden in München.

HARTMANN Aber neigt die Philosophie nicht – wie auch andere wissenschaftliche Disziplinen – zu einer zunftartigen Struktur, wie man vielleicht auch an der Ausrichtung der Sektionen ablesen kann?

NIDA-RÜMELIN Der Kongress selbst richtet sich, als wissenschaftlicher Kongress, natürlich an die akademische Philosophie. Aber er ist offen hinsichtlich des erwähnten Begleitprogramms, auch hinsichtlich der Abendvorträge, die am Montag, Dienstag und Donnerstag stattfinden werden. Der letzte dieser Abendvorträge ist von Jürgen Habermas, am Donnerstag, den 15. September.

HARTMANN Wenn man sich andere Gebiete ansieht: Die Literatur wird teilweise definiert über die freie Literaturkritik, die Kunstgeschichte wird herausgefordert vom Iconic Turn bzw. von der Bildwissenschaft. Im Vergleich dazu wirkt die Philosophie, vor allem in ihrer akademischen Ausprägung, etwas selbstgenügsam. Ein lebendiger philosophischer Diskurs findet eher in Frankreich als in Deutschland statt.

NIDA-RÜMELIN Diese Auffassung erscheint mir ein wenig aus der Zeit gefallen. Wer ist denn beispielsweise in der Kommission, die sich mit den Fragen der Medizintechnik oder mit dem Umgang mit menschlichem Leben kümmert? Oftmals Philosophen. Wenn es darum geht, wie wir mit den neuen Medien umgehen sollen, werden Philosophen angefragt für die Diskussion auf dem Podium. Wenn diskutiert werden soll, wie man mit der Umwelt umgehen, wie eine ökologische Ethik aussehen oder wie man die intrinsischen Werte der Natur achten sollte, sprechen Philosophen. Es gibt zwar die Legende von der Philosophie als der Wissenschaft des Elfenbeinturms, aber diese ist mit der Realität nicht mehr im Einklang. Ich würde sogar behaupten, dass es von allen Geisteswissenschaften gerade die Philosophie ist, die anschlussfähig ist und den Anschluss sucht. So etwa an die Physik zur Interpretation ihrer Befunde oder auch an die Neurowissenschaften. Wer diskutiert denn mit den Neurowissenschaftlern – auf Podien, in den Feuilletons – über die Implikationen jüngster Forschungsergebnisse?

Die Philosophie ist gegenwärtig so präsent wie schon lange nicht.

HARTMANN Ich habe selbst im Diskurs mit dem Ansatz einer Medienphilosophie teilweise heftigen Widerstand aus der Zunft erfahren. Es hat ein Jahrzehnt gebraucht, um für diese Fragen Akzeptanz zu finden bei den jüngeren Kollegen und mittlerweile gibt es mehr Technik- und Medienphilosophie. Dennoch ist ein Medienphilosoph wie McLuhan, der dieses Jahr 100 geworden wäre, kein Thema für Philosophen. Hier merkt man deutlich den Unterschied zwischen dem, was man früher Schul- und Weltphilosophie nannte. Zwar findet sich immer einmal wieder ein Professor oder Dozent, der den Dialog wagt, aber letztlich scheint es eine Abschottungstendenz zu geben gegen die offenen, die anschlussfähigen Diskurse.

NIDA-RÜMELIN Dies scheint mir ein Zerrbild zu sein. Die Philosophie wird gegenwärtig massiv herausgefordert von der Praxis und antwortet auf diese Herausforderung. Dies darf man nicht verwechseln mit einem tatsächlich bestehenden Richtungsstreit innerhalb der Philosophie. Es gibt gerade in der Medienphilosophie einen radikalen Konstruktivismus. Ein Beispiel hierfür ist Nobert Bolz, der behauptet, dass die Philosophie so, wie wir sie bislang verstanden, zu Ende, da zu logozentrisch ist. Nach dieser Auffassung spielen Argumente keine Rolle mehr, ebenso wenig wie Rationalität oder Vernunft. Über diese Fragen, d.h. über diese extreme Variante eines Idealismus, die aktuell modern ist, gilt es inhaltlich zu streiten. Aber es ist eine andere Frage, ob sich die Philosophie abkoppelt und zurückzieht. Und das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Eine Situation, wie wir sie aktuell haben, in welcher die Philosophie so präsent ist, gab es schon lange nicht mehr. Ein Beispiel hierfür wäre, neben den Debatten in den Feuilletons, das Wirken der Aristotelikerin Martha Nussbaum und des Ökonomen und Philosophen Amatya Sen. Deren Beiträge waren entscheidend für den Kurswechsel der Politik der Vereinten Nationen gegenüber der so genannten Dritten Welt. Dass eine bestimmte Art von Medienphilosophie oder ein bestimmter postmoderner Diskurs in der akademischen Philosophie – vor allem im angelsächsischen Raum – nicht breit rezipiert wird, darüber gilt es inhaltlich zu diskutieren. Doch dies darf man nicht als Zeichen dafür sehen, dass die Philosophie insgesamt nicht nach außen wirksam wird.

HARTMANN Ich lese gerade das Buch von Philipp Blom über „Böse Philosophen“ aus der Zeit der Encyclopédie und der französischen Aufklärung. Brauchen wir nicht mehr von diesen bösen Philosophen? Wir leben in einer Art Zeitenwende, die dem vorrevolutionären Frankreich nicht unähnlich ist. Auch wenn man keine direkte Parallele ziehen kann, scheint uns doch die halbe Welt um die Ohren zu fliegen und in der politischen Weltordnung verändert sich einiges. Die Frage ist also: Was könnten böse Philosophen hier für eine Rolle spielen?

NIDA-RÜMELIN Meiner Ansicht nach spielen sie bereits eine große Rolle. Ein Beispiel wäre Thomas Pogge, der nach seiner Zeit als Assistent von John Rawls an der Harvard University nun ganz konkrete und ökonomisch fundierte Modelle entwickelt für eine faire Weltordnung, etwa für einen fairen Umgang mit medizinischen Ressourcen. Dieses Projekt ist sehr radikal, wird aber dennoch von Regierungen nachgefragt. D.h. da ist ein Philosoph, dem die Ungerechtigkeit der Weltordnung – etwa die Art und Weise, wie wir mit Krankheiten umgehen, hinter denen keine Kaufkraft steht – zu denken gibt und der auf der Basis einer spezifischen Gerechtigkeitstheorie ein Konzept entwickelt, gegen diese vorzugehen. Dies ist relevanter als die Rolle der Philosophie in Mediensalons.

HARTMANN Einige Philosophen entfernen sich also tatsächlich von der Form eines mühsam erarbeiteten Textgespinstes?

NIDA-RÜMELIN Dies ist eine breite Bewegung, die sich seit Jahrzehnten entwickelt hat. Dies ist genau die Hinwendung zu praktischen Fragen, zu Fragen unseres Weltbildes und unseres Umgangs mit der Natur. Da hat sich die Philosophie in letzter Zeit neu positioniert.

HARTMANN Das Überthema des Kongresses ist „Welt der Gründe“. Eine „Ontologisierung von Gründen“ – was soll man sich als allgemeiner Adressat denn unter diesem Thema vorstellen?

NIDA-RÜMELIN Inhaltlich soll dies keine Vorfestlegung sein. Der Titel ist eine Anspielung auf Wilfrid Sellars’ Diktum vom „space of reasons“, der über seine Nachfolger Richard Rorty, John McDowell und Robert Brandom nun endlich breit rezipiert wird. Die These ist, dass Gründe eine ganz besondere Rolle spielen für die Art und Weise, wie unsere alltägliche Verständigungspraxis organisiert ist. Diese Gründe sind nicht einfach soziologisch oder kulturell zu beschreiben, sondern haben einen philosophischen Kern. Sie etablieren normative Regeln, wie wir argumentieren können, wie wir auf eine Frage reagieren sollten. An dieser Welt der Gründe haben wir teil, so wie wir beide jetzt diskutieren – indem Sie Gründe vorbringen und ich mit Gründen entgegne –, aber auch im Alltag. Diese faszinierende, sehr komplexe Welt soll Gegenstand des Kongresses sein. Es wird dabei keine Ontologisierung vorausgesetzt, d.h. man muss nicht Platoniker sein. Es geht um eine Welt geistiger Phänomene, die auf Gründe bezogen sind.

HARTMANN Aber Finanzkrise, ökonomische Krise, Umweltkrise, entgrenzte Technologien – alles Mechanismen, die uns derzeit doch recht spektakulär entgleiten – all dies hat doch Gründe ökonomischer, politischer oder sozialer Natur?

NIDA-RÜMELIN Sie verwechseln Gründe mit Ursachen. Allerdings entfalten die kausalen Theorien, die wir entwickeln, manchmal auch rechtfertigende Kraft, wenn sie etwa herangezogen werden, um eine Überzeugung oder ein Projekt zu rechtfertigen.

HARTMANN Der Beginn der Philosophie war ja sehr stark dialogisch geprägt. Auf einem Kongress kommen die Leute zusammen. Andererseits leben wir in einer Zeit der Vernetzung. Warum soll man dann noch diesem ungeheureren Wissenschaftstourismus folgen? Ist ein solcher Kongress in der Zeit der Vernetzung überhaupt noch zeitgemäß? Ich selbst halte zwar viel davon, zusammenzukommen und sich auszutauschen. Aber man könnte von außen kritisieren: Ihr Philosophen sprecht über die Welt und tragt dann doch mit einem solchen Kongress unnötig zum CO2-Ausstoß bei.

NIDA-RÜMELIN Eine Vermutung, die Medientheoretiker hatten, dass nämlich in Zukunft die Kommunikation größtenteils elektronisch ablaufen wird, hat sich offenbar nicht bewahrheitet. Menschen haben anscheinend das Bedürfnis danach, von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren. Anlässe wie Kongresse reagieren auf dieses Bedürfnis. Und dies findet im Fall des Deutschen Kongresses für Philosophie ohnehin nur alle drei Jahre statt. D.h. nur alle drei Jahre sind alle Personen, die sich in Deutschland für Philosophie interessieren, dazu eingeladen, sich in einer Stadt an einer Universität zu treffen und fünf Tage lang zu diskutieren. Zudem finden in diesem Rahmen ja nicht nur Vorträge statt, sondern die Zeit zwischen den offiziellen Veranstaltungen wird zum Austausch genutzt. Dort entstehen neue Ideen, Pläne für neue Projekte, so dass Veranstaltungen dieser Art auch jenseits des eigentlichen Programms fruchtbar sein können.

Der XXII. Deutsche Kongress für Philosophie findet vom 11.-15. September 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München statt.

Julian Nida-Rümelin, geboren 1954, ist Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2009 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Im Oktober erscheint sein neues Buch Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie (Random House).

Frank Hartmann, geboren 1959, ist Professor für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar.  Zuletzt veröffentlichte er: Medien und Kommunikation (WUV, 2008) und Multimedia (WUV, 2008).

Quelle: Recherche 1/2011

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