Kleiner denken

Hans Blumenbergs Geistesgeschichte der Technik als Einübung in die Entideologisierung. Von Martin Mittelmeier

Online seit: 30. September 2019

Meist kann man sich angesichts eines Textes von Hans Blumenberg einer gewissen Verblüffung nicht erwehren: denn hat dieser Philosoph nicht Denkbewegungen mit geprägt, die mindestens im akademischen Diskurs in den letzten Jahrzehnten haltlos modisch wurden, ohne dass man Blumenberg mit diesen Moden wesentlich in Verbindung bringen würde? Eine der dekonstruktivistischen Hauptthesen etwa, dass sich an der Sprache nicht vorbeidenken lasse – hat Blumenberg das nicht mit seiner Metaphorologie sprachtheoretisch begründet und an Zentralmetaphern wie der Lesbarkeit der Welt mit stupender Belesenheit exemplifiziert? Und hat er nicht mit dem Narrativ von dem Lachen der Thrakerin, das dem in den Brunnen fallenden Sterngucker gilt, jegliche Kritik an der abendländischen ratio als festen Bestandteil im Repertoire ebenjener ratio geflissentlich untersucht?

So ist die Hoffnung der Herausgeber völlig berechtigt, die aus Blumenbergs Nachlass zu einer Geistesgeschichte der Technik zusammengestellten Aufsätze aus den späten 1960er-Jahren könnten etwas beitragen zu den aktuellen Desideraten einer Historiografie des Technischen. Ob die editorische Redlichkeit der Herausgeber der Erfüllung dieser Hoffnung den bestmöglichen Dienst tut, mag dahingestellt sein. Denn der nicht aus dem „Technik“-Komplex des Nachlasses stammende Aufsatz „Ordnungsschwund und Selbstbehauptung. Über Weltverstehen und Weltverhalten im Werden der technischen Epoche“ verortet zwar schlüssig das Technikprojekt in Blumenbergs Anthropologie und macht aus der „technischen Implikation“ des menschlichen Geistes einen reizvollen Seitenstrang der Bestimmung des Selbstverständnisses des neuzeitlichen Menschen. Aber zugleich drängt er in den Hintergrund, was das Technikprojekt genuin aus sich selbst heraus leistet: eine Einübung in die Entideologisierung der Geschichtsschreibung dieses Selbstverständnisses und seiner es bedingenden Realien. Diese beiden Möglichkeiten – klassische Anthropologie versus konstruktiv gewendete Zerstörungskunst – spiegeln sich in der jeweiligen Rhetorik der beiden Aufsätze aus dem Nachlass, die vom Stoff und den Fundstücken her einander stark ähneln. Wo der eine nach klassischer Manier das darzustellende Projekt an der Besprechung seiner Problematik entwirft, zieht der zweite (und glücklicherweise auf beigelegter CD als Radiosendung überlieferte) daraus die Konsequenz und demonstriert, auf welche Weise die Chancen dieses Projekts gerade in der unerbittlichen Maximierung seiner Probleme liegen.

Falsche Alternative

Denn sehr schnell scheint von dem Miteinander der drei Begriffe Geist, Geschichte und Technik nicht mehr allzu viel übrig zu bleiben. Geschichtsschreibung verstrickt sich laut Blumenberg immer ideologisch, wenn sie zwischen Handlungen und Zuständen Kausalverknüpfungen erstellt, egal, in welche Richtung. Gerade am vermeintlichen Gegenpol von Geist, der Technik, zeigt sich die falsche Alternative von Idealismus und Materialismus deutlich: Geist wird entweder als Verursacher, als Wirkkraft technischen Fortschritts oder als dessen nachträgliche Begründung bzw. Ideologisierung verstanden. Blumenberg macht die unterschiedlichen, ständig variierenden Entfernungen zwischen der realen Technik und dem technischen Geist stark und setzt gegen die einfache kausale Folge so etwas wie eine Ziehharmonika. An einem kleinen Text von Nikolaus von Cues zeigt Blumenberg beispielsweise, dass unterhalb der konzeptionellen Wahrnehmungsschwelle schon immer technischer Fortschritt stattgefunden hat, von dem aber nur in Demutsformeln „gesprochen“ werden konnte, mittels der Figur des Laien etwa, der Löffel, Schalen und Töpfe herstellt – wahrlich etwas gänzlich Neues, fernab von bloßer Naturimitation, aber irgendwie dann eben doch noch nicht auf der Höhe der „menschlichen Findkraft“, wie es so schön heißt.

Legitimierungsschübe

Auf der anderen Seite führt die Entdeckung des immer schon Stattgefunden-Habenden dann gleich zu dessen Idealisierung als menschlicher Selbstbehauptung, ja Selbsterschaffung. Dieser Beschreibung der Legitimierungsschübe des Technischen liegt zwar so etwas wie eine lineare Erzählung zugrunde: von dem Fehlen einer genuin technischen Sprache (im Unterschied etwa zu den Selbstbeschreibungsexzessen der ästhetischen Künste) über den Demonstrations-Charakter der Technikausstellungen und über das Projekt der Enzyklopädisten, die dem Technischen nun endlich zu sprachlichem Selbstbewusstsein verhelfen, bis zum Geist, der sich schließlich als technischer, konstruktiv in die Welt eingeifender versteht, scheint eine ansteigende Linie des Technikbewusstseins zu führen. Und doch demonstriert Blumenberg mit beeindruckender Selbstverständlichkeit die ständigen, komplizierten Rückkopplungseffekte im Verhältnis der technischen Realität und deren Konzeptionalisierung. Aus diesem „System der gegenseitig gerichteten Wirkungen zwischen Idee und Realität“ und der nie exakt feststellbaren Distanz zwischen den beiden generiert er ein reizvolles strukturelles Argument, das geradewegs zum so fruchtbaren Blumenberg’schen Skeptizismus führt. Denn all das vergiftet die Quellenlage, macht die Dokumente, die Zeugnis geben von einer Geistesgeschichte der Technik, unsicher und fragwürdig. Deswegen muss die Haltung angesichts dieses Projektes von vorneherein darin bestehen, Ideologeme, festgefahrene Ideen von Technik so lange zu befragen, bis sie den Charakter des Gemeinplatzes verlieren und das Produktive ihres komplexen Problemes herausgeben. „Die leitenden Fragen müssen gewissermaßen kleiner gestellt werden“, schreibt (und sagt) Blumenberg programmatisch, ein Motto, das man sich als post-it sogleich auf den Schreibtisch kleben möchte. Das Kleiner-Stellen reichert die Basis der Erkenntnis an, hält die Interpretation möglichst weit offen, anstatt die Beschreibung des jeweiligen technischen Phänomens einem Großkonzept zu opfern. Die Durchsetzung des Wolkenkratzers beispielsweise mag durch die Bodenknappheit wesentlich bedingt sein. Und Blumenberg selbst macht die soziologische Argumentation vom Wandel der Arbeitsstruktur von der Horizontalen in die Vertikale stark. Und dennoch muss die Möglichkeit des vertikalen Bauens vor dessen Notwendigkeit aufscheinen, und dazu gehört etwas so vermeintlich Zufälliges, sich in keine Großerzählung so recht Einfügendes wie das „reine Luxus– und Spielebedürfnis, der appeal-Charakter“ technischer Attraktionen, die zu einem Ausprobieren der Aufzug-Technik führen, auf die dann die „Notwendigkeit“ des Wolkenkratzers zurückgreifen kann.

Und dennoch muss die Möglichkeit des vertikalen Bauens vor dessen Notwendigkeit aufscheinen.

Blumenberg plädiert für die Wertneutralität in der Befragung des Technischen zu einem Zeitpunkt, wo die Kämpfe um das Für und Wider, die Befeierung und die Dämonisierung von Technik so stark sind, dass sie zwar zarte, aber doch deutliche Spuren im Text hinterlassen. Ja, am Ende eines Aufsatzes malt Blumenberg ein fast adornitisches Schreckensbild, wenn er die Möglichkeit eines derartigen Forschreitens der Technik unterstellt, dass für deren Idee gar kein Platz mehr bleibt: „Eine Technik, die uns nur noch dem Zwang der funktionstüchtigen Anpassung und der aufmerksamen Beachtung ihrer Signale unterwerfen würde, müßte in der Chronik ihrer Fortschritte ganz und gar aufgehen. Ob es sich dann immer noch lohnte, der Frage forschend nachzugehen, wie es zu diesem Zustand gekommen ist, brauche ich zu meinem Glück in diesem Augenblick nicht mehr zu entscheiden.“

Heute haben sich die ideologischen Zuspitzungen dieses Kampfes beruhigt, die extremen technischen Utopien und Exzesse sind ihrerseits historisch geworden. Insofern stehen die gegenwärtigen Historiografien des Technischen automatisch in der Traditionslinie des Blumenberg’schen Ansatzes einer möglichst dichten Beschreibung – die Geschichte der Eisenbahn, des Fahrstuhls, der Elektrifizierung und dergleichen mehr schöpfen ganz selbstverständlich aus dem Arsenal verschiedener, manchmal konkurrierender Erklärungsansätze.

Und dennoch möchte man die Exzesse des „Großdenkens“ nicht missen, die die Schieflage einer allein geistig geprägten Geistesgeschichte durch ein bravourös einseitiges Betonen des Technischen auszugleichen versuchten. Die mit der Möglichkeit provozierten, dass das Geistige nur ein technischer Effekt sein könnte und dabei „technisch“ im buchstäblicheren Sinne als bloß „konstruktiv“ verstanden haben, wie etwa Kittlers Untersuchung der Systeme der Geistgenerierung, des Aufschreibens. Womöglich sind diese großdenkerischen Versuche ja nicht ganz unschuldig an der „gegenwärtigen Konjunktur der Historiographie naturwissenschaftlicher und technischer Entwicklungen“, von der die Herausgeber des Blumenberg-Bandes sprechen, und die die Herausgabe von Texten zu einem Projekt der Geistesgeschichte der Technik auf interessierten Boden fallen lassen. Was dann schon wieder so ein Rückkopplungseffekt wäre, der Blumenberg möglicherweise gefallen hätte.

Martin Mittelmeier, geboren 1971, ist Komparatist und Lektor des Luchterhand Verlages.

Quelle: Recherche 3/2009

Online seit: 30. September 2019

Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. 151 Seiten, € 25 (D) / € 25,70 (A).