Doch ein Fest für EUropa?

Nach 200 Jahren ist der Wiener Kongress reif für eine Image-Korrektur. Er könnte Stoff liefern für einen nüchternen Gründungsmythos eines mühsam zusammengefügten Europas. Von Hazel Rosenstrauch

Online seit: 10. Dezember 2019

Es gibt keine attraktive Erzählung über ein vereintes Europa. Ein lüsterner Stier, der eine phönizische Prinzessin vergewaltigt oder ein Wirtschaftsverband, der sich um den gemeinsamen Abbau von Kohle und Stahl zusammenfindet, laden nicht dazu ein, Gefühle für diesen „asiatischen Wurmfortsatz“ zu entwickeln. Das ist sicher nicht das einzige Problem der EU, aber es ist gewiss nicht unwichtig, wenn man bedenkt, wie ernst allerorten über Herkunft und Zugehörigkeit geredet wird und was Nationalisten damit anstellen. Auch zweitausend Jahre vorwiegend autoritäres, lustfeindliches Christentum und die ständigen Kriege regen kaum zur Identifikation mit dem Kontinent an. In Festreden eingestreute Bemerkungen über „die Kultur“, Antike, Renaissance, Aufklärung etc. wirken wie Streusel auf einem alten Kuchen, sie schmecken fade, schon weil die Protagonisten eines vereinten oder zu vereinigenden Europas weit von der Schönheit und den Versprechungen dieser Epochen entfernt sind.

Beim Wiener Kongress (1814-1815) entstand das moderne Europa.

Politiker können eine Fahne und eine Hymne und eines Tages vielleicht sogar eine Verfassung beschließen, ein Gründungsmythos lässt sich nicht erfinden. Aber es gibt eine Geschichte, die sich als Stoff für eine Erzählung vom gemeinsamen Europa anbietet und die gut ins 21. Jahrhundert passt, weil sie nur multiperspektivisch erzählt werden kann, weil sie nicht zu Sentimentalität verführt und weil sie dazu reizt, gewohnte Zuordnungen zur Seite zu schieben. Das moderne Europa entstand 1814–1815, beim Wiener Kongress, und neben den großen Staatsaktionen geschahen dort Dinge, die europäische Politik bis heute ausmachen und durchaus als Geburtsmale eines mit Mühen geeinten Europas gelten können. Regenten und Diplomaten aus (fast) allen europäischen Ländern, Klein- und Kleinstfürstentümern, Bistümern und zur Verteilung anstehenden Landstrichen reisten mit ihrem Gefolge an – Polen fehlte, das beanspruchte der Zar für sich. Manche europäische Staaten wurden damals erst gegründet, andere neu arrondiert. Dieser Wiener Kongress hat aus guten Gründen kein gutes Image, er gilt als Inbegriff der Restauration. Aber nach 200 Jahren und den Erfahrungen mit nationalen Leidenschaften – die damals noch als modern galten – lassen sich auch andere Aspekte hervorkramen.

Der Kongress begann in dem Jahr, in dem Beethoven jene 9. Symphonie schrieb, deren Schlusschor seit 1985 als Europahymne intoniert wird; er fand in Wien statt und war trotzdem ein europäisches Ereignis. Die zuvor verfeindeten Souveräne, die kleinen und die großen Länder, Bischöfe, Fürsten und Lobbyisten hatten unterschiedliche Interessen, gönnten einander wenig und sprachen doch miteinander. Man schlug sich seither nicht gleich die Köpfe ein, sondern verhandelte. Es wurden Absprachen getroffen, die Europa immerhin 40 Jahre in Frieden ließen. Es war ein kluger Schachzug Metternichs, die Alliierten nach Wien einzuladen. Österreich hatte ein Imageproblem, weil Kaiser Franz I. vier Jahre zuvor seine Tochter Marie-Louise dem Kaiser von Frankreich zur Frau gegeben und Napoleon dadurch legitimiert hatte. Österreich war hochverschuldet und trotzdem richteten der Kaiser (beziehungsweise dessen Zeremonienmeister) und sein Außenminister, nunmehr Fürst Metternich, opulente Feste auf Staatskosten aus (die etwa 100.000 Gulden pro Tag kosteten). Die gekrönten Häupter tanzten und unterhielten sich bei Schlittenfahrten, im Theater und bei vielen Jagden im Prater oder in Lainz. Das Interesse aller Beteiligten, inklusive Steuerzahlern wurde auf die Feiern gelenkt, verhandelt wurde hinter den Kulissen. Heute heißt das „Eventisierung der Politik“. Bei diesen Events wurde geflirtet, beigeschlafen und intrigiert; auf Staatskosten, aber auch in eigenfinanzierten Salons, wurde gegessen und getrunken, was die Tische und Lakaien zu tragen vermochten. Außerdem wurde bei all diesen lustigen Veranstaltungen für dies oder jenes geworben, sie boten Gelegenheit, um die Stimmung zu testen, geheime Absprachen zu treffen oder vorzubereiten, und immer waren auch die Spitzel dabei, die dem Kaiser Bericht erstatteten. Für die Überwachung wurden keine Kosten gescheut, die Steuern wurden erhöht, die Lebenshaltungskosten stiegen rasant, aber die Feste waren immer glänzend.

Wie hat es Kaiser Franz I. bewerkstelligt, trotz leerer Kassen all die Feste und Jagden zu finanzieren? Das Volk murrte, wurde aber in die Feste auch einbezogen und gut unterhalten, ganz abgesehen von den Nebenerwerbsmöglichkeiten, die sich durch die Anwesenheit so vieler Exzellenzen samt Dienern und Köchen und wegen des großen Bedarfs an Zuträgern anboten.

Niemand will heute noch feiern, dass die alten Privilegien der blaublütigen Reichen wiederhergestellt, fortschrittliche Gesetze abgeschafft, Verfassungen verhindert wurden. Aber in den Berichten und Protokollen, Tagebüchern und abgefangenen Briefen sind die Fußabdrücke einer europäischen Geschichte aufbewahrt, die viel Material für nüchtern-hoffnungsfrohe Erzählungen – jenseits des Pathos vom untergegangenen Abendland und ohne die Illusionen von 1990ff. – bieten.

Wenn man den Lichtkegel auf die Nebenbühnen richtete, ein paar Glaubenssätze fahren ließe und andere Melodien unterlegt, könnte der Wiener Kongress nach neuen Rhythmen tanzen. Wir zweifeln heute an so vielen Kategorien, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden und im 20. Unheil angerichtet haben, dass es auch der europäischen Geschichte (oder gar „Identität“) nur gut tun kann, wenn ein bisschen Unordnung in die Erzählung von ihrem Wohl und Wehe gebracht wird.

Gewöhnung an Krisen

Im vorigen Jahrhundert gab es gute Gründe, die Moderne mit der Französischen Revolution oder der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beginnen zu lassen. Inzwischen sind nüchternere, pragmatische Sichtweisen gefragt. Nach den Erfahrungen mit großen Leidenschaften und weltumfassenden Theorien und wegen der allmählichen Gewöhnung an Krisen bietet die nahende 200-Jahr-Feier dieses Kongresses viel Stoff für unpathetische gemeinsame Geschichten über ein mühsam zusammengefügtes Europa. Auch wenn Helmut Kohl gerne davon sprach, muss nicht falsch sein, dass die Zukunft denen gehört, die über die Vergangenheit verfügen.

Es gehört zur Vorgeschichte, dass die Verhandlungen zäh waren und ständig neue Kommissionen gegrün- det wurden; dennoch wurde u. a. die Schweizer Neutralität festgeschrieben, der Sklavenhandel nicht ganz abgeschafft, aber doch verurteilt, die freie Schifffahrt, das Urheberrecht und der Umgang der Diplomaten untereinander geregelt. Und man muss nicht monarchistisch sein, um zu würdigen, dass Dynasten nicht national dachten. Besonders viel Sitzfleisch beanspruchte die fast unlösbare deutsche Frage, die den Kongress beinahe zum Platzen brachte. Mich würde interessieren, wie Esten oder Basken, Bewohner des einstigen Kurlands oder Illyriens die damaligen Debatten um Nationalstaat, Bundesstaat oder Staatenbund heute betrachten, als über die Frage gestritten wurde, wie viel Souveränität, wie viel Unterordnung unter gemeinsame Gesetze, wie viel Autonomie die einzelnen Länder bekommen und behalten sollten. Erst recht sind die Diskussionen und Verhinderung von Diskussionen über eine Verfassung für nachideologische Europäer interessant. Geeinigt haben sich die Herren (natürlich nur Herren) erst in der Krise, als Napoleon von der kleinen Insel flüchtete und in Frankreich mit offenen Armen empfangen wurde.

Spannende Seitenblicke

Mit kleinen Retuschen lässt sich der Wiener Kongress in eine Bühne für zeitgemäße Erzählungen verwandeln, um Heroen zu verabschieden und endlich mit den Ambivalenzen der Moderne umgehen zu lernen, wobei, wie so oft, Seitenblicke spannender sein können als die Staatsaktionen. Sie sind anregend, auch befreiend, wenn man etwa die selbstbewussten, klugen Frauen mitberücksichtigt.

Nie zuvor oder danach hat eine Versammlung von Staatsmännern und Politikern … so weitreichend und ausschlaggebend unter dem Einfluss von Frauen gestanden.

Hilde Spiel, die sich ausführlich mit dem Wiener Kongress beschäftigt hat, behauptet, „nie zuvor oder danach hat eine Versammlung von Staatsmännern und Politikern … so weitreichend und ausschlaggebend unter dem Einfluss von Frauen gestanden.“ Und wie wäre es mit Friedrich Gentz als realistischem Modell des modernen Intellektuellen? Nicht nur weil er sich vom Anhänger der Revolution zum Adlatus Metternichs fortentwickelt hat, auch weil er keine Probleme damit hatte, sich seinen Einfluss gut bezahlen zu lassen. Seit wann und wieso verlangt man überhaupt von Politik, dass sie moralisch sei oder seit wann müssen sich Politiker der Moral bedienen? Wie sind die Herrschaften, die Bürokraten, die selbstbewussten und die betrogenen Damen mit ihren Krisen umgegangen, woher haben sie das fehlende Geld genommen? Wie war das damals mit Lobbying und Bestechung, Korruption und Hurerei, einschließlich der von Künstlern und Schriftstellern, die ihre Gaben in den Dienst der meistbietenden oder wenigstens Berühmtheit garantierenden Herrscher und Feldherrn gestellt haben? Staatsverschuldung und Eventisierung der Politik, Intrigen und Überwachung, Bestechung und Protektion, Intellektuelle, die ihren Geist und ihre Feder verkaufen, sind am ehesten noch in der Romanliteratur aufbewahrt worden, die heute keiner mehr liest.

Selbst linke Politiker und Historiker können heutzutage ihre Probleme nicht mehr in saubere Kategorien (Fortschritt und Reaktion, gute und böse Moral, dynastisch oder national) einordnen. Welch hübsches Übungsfeld für europäische Schreibwerkstätten und Geschichtswettbewerbe, in denen junge Leute die ehernen Wahrheiten ihrer Großeltern wegputzen, und ein Leben voller Widersprüche, Vieldeutigkeit und Unordnung lustvoll ausmalen. Für ein Tausendstel des Nobelpreises ließen sich Feste in den Gärten der österreichischen Botschaften in Europa organisieren, Künstler und Autorinnen aus Ländern, die durch den Wiener Kongress entweder erschüttert, neu gegründet, verkleinert, vergrößert oder geteilt wurden, würden sich mit den Brosamen des EU-Etats über diese so historischen wie aktuellen Themen beugen, die zu den Grundfesten europäischer Moderne gehören.

Hazel Rosenstrauch, geboren 1945 in London, aufgewachsen in Wien, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft, arbeitete an verschiedenen Universitäten, für Zeitschriften, Rundfunk und Verlage; bis 2006 war sie Redakteurin der Zeitschrift Gegenworte – Hefte für den Disput über Wissen. Mehrere Publikationen über die Zeit um 1800, zuletzt erschien der Essayband Juden Narren Deutsche (Persona Verlag, 2010) und Karl Huß, der empfindsame Henker. Eine böhmische Miniatur (Matthes & Seitz, 2012). Im November wird Hazel Rosenstrauch mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet. Im Rahmen der BUCH WIEN 12 liest sie am 20. November in der Buchhandlung Orlando.

Quelle: Recherche 2/2012

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