Spaltet sich die Mitte?

Über soziale und politische Stabilität. Von Herfried Münkler

Online seit: 30. Oktober 2019

Die Mitte gilt als langweilig. Nichts ist hier besonders, herausgehoben oder gar extrem. Deswegen verwundert es auch nicht, dass die Mitte in der sozialwissenschaftlichen Literatur kaum Aufmerksamkeit gefunden hat. Wiewohl sie ein Schlüsselbegriff der politischen Sprache ist, gibt es so gut wie keine monografischen Studien zur Mitte. Dem stehen Myriaden von Büchern über die Extreme auf der Linken wie der Rechten gegenüber, ebenso wie Hunderte von Studien zur Ober- oder Unterschicht. Die Peripherie des politischen Spektrums und die Randzonen der Gesellschaft sind sehr viel genauer untersucht worden als die politische und soziale Mitte. Das kann schwerlich etwas mit der Größe der sozialen Gruppen zu tun haben, denn in Deutschland, Österreich und vor allem in der Schweiz rechnen sich seit Jahrzehnten weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Mitte zu. Und noch weit mehr optieren bei Wahlen für die Parteien der Mitte. Doch die Veränderungen, die für Aufmerksamkeit und Aufregung gesorgt haben, haben sich während der letzten Jahrzehnte nicht in der Mitte, sondern an den sozialen wie politischen Rändern abgespielt. Gebannt durch die Veränderungen und Bewegungen an den Rändern haben Publizistik wie Wissenschaft die Mitte aus dem Blick verloren. Das könnte sich nunmehr ändern: Die Mitte ist zum Problem geworden, denn es ist nicht mehr sicher, ob es diesen Stabilitätsanker der Gesellschaft in einem Jahrzehnt noch geben wird, zumindest nicht in der vertrauten Form, bei der die Mitte den größten Platz in der gesellschaftlichen und politischen Ordnung einnimmt. Die Frage, ob sich die Mitte spaltet oder ob es gelingt, sie gegen die starken zentrifugalen Tendenzen zu verteidigen, dürfte das zentrale politische Thema dieses Jahrzehnts werden.

Die Erfahrung von Weimar

Die soziale und politische Mitte in Deutschland war der Stabilitätsanker der Bonner Republik; sie sorgte dafür, dass Bonn nicht Weimar wurde, wie eine berühmte Formel des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann lautete. Die Weimarer Republik war eine Republik der politischen Extreme und der sozialen Polarisierung, womit sie im Übrigen vielen Ländern in Europa nach dem Ersten Weltkrieg ähnelte. Dass die politische Ordnung der Demokratie in Mittel- und in Südeuropa keine Chance hatte, war auch eine Folge dessen, dass die Mitte hier schwach oder durch den Krieg geschwächt worden war. Die Inflation hatte die Vermögen der Mittelschichten zerstört und deren Einkommen entwertet, und die massive Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung führte dazu, dass man sich entweder in die Vergangenheit zurücksehnte oder auf eine utopische Zukunft setzte. Der Gegenwart wurde wenig Kredit eingeräumt. Genau das aber ist eines der zentralen Merkmale sozialer und politischer Mitten: Dass sie die Gegenwart wertschätzen und nicht so ohne weiteres bereit sind, sie für ungewisse Zukünfte dranzugeben oder durch eine ausufernde Nostalgie trüben zu lassen. Die Mitte ist der entscheidende Ort für die Selbstanerkennung der politischen Ordnung, während man an den Rändern notorisch auf Desinteresse, Vorbehalte oder dezidierte Ablehnung dieser Ordnung stößt. Gibt es diese Mitte nicht oder zerfällt sie in die Extreme, so kommt es nicht zur Selbstanerkennung der politischen Ordnung, und genau das war in der Weimarer Republik wie in vielen anderen der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Demokratien Mitteleuropas der Fall. Die Mitte wurde zwischen den Extremen zerrieben.

Die politische Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik lautete für die Deutschen (und alle anderen Mitteleuropäer, denen es ähnlich ergangen war und die nun die Chance hatten, ohne Vorgaben einer Siegermacht oder einer politischen Partei eigene Lehren zu ziehen) also, dass man die Mitte stärken müsse, zunächst politisch, aber dann auch gesellschaftlich. Die zentrale Botschaft der politischen Mitte lautete also, dass der Aufstieg in die gesellschaftliche Mitte tendenziell für jeden möglich sei, wenn man bei der Wahl die Extreme meide. Das hat in der Bonner Republik gut geklappt, in der sich schließlich mehr als 60 Prozent der Bürger der sozialen Mitte zugerechnet haben. Parallel dazu sind die Parteien der politischen Extreme im Verlauf der 1950er-Jahre verschwunden, teilweise durch Verbot des Bundesverfassungsgerichts, dem im Grundgesetz die Rolle eines „Hüters der Mitte“ zugewiesen worden ist, teilweise aber auch infolge des Desinteresses der Wähler an den Parteien auf den äußersten Flügeln des politischen Spektrums.

Doch diese Mitte als Garant einer vielleicht in vieler Hinsicht langweiligen, aber doch zuverlässig funktionierenden Demokratie ist seit geraumer Zeit gefährdet, und zwar sowohl als politische als auch als soziale Mitte. Hier geht es nicht um einen aufgeregten Alarmismus, der vor der unmittelbar bevorstehenden Spaltung der Gesellschaft warnt oder rechtspopulistische Parteien auf dem Sprung an die politische Macht sieht. Eine Spaltung der Gesellschaft lässt sich an den sozialstatistischen Daten bislang noch nicht ablesen. Doch in der Gefühl- und Vorstellungswelt der Menschen macht sich die Vorstellung breit, dass die Gesellschaft in eine obere und untere Hälfte zerfalle. Wo vor kurzem noch das Bild einer mächtigen, die Gesellschaft zusammenhaltenden Mitte dominierte, herrscht nun die Sorge vor, man müsse darauf achten, dass man zur oberen Hälfte der Gesellschaft gehöre und nicht in die untere Hälfte abrutsche. Es ist ein Merkmal mittedominierter Gesellschaften, dass in ihnen diese Sorge keine Rolle spielt. Wenn sie inzwischen in breiten Kreisen anzutreffen ist, so zeigt dies, dass der Erwartungshorizont der Menschen nicht mehr durch eine dominante gesellschaftliche Mitte bestimmt wird.

Die Mitte ist der entscheidende Ort für die Selbstanerkennung der politischen Ordnung.

Auch in politischer Hinsicht hat sich der Fokus von der Mitte nach rechts verschoben. Bemerkenswerterweise ist das nicht in Deutschland der Fall, wo rechtspopulistische Parteien bei Bundestagswahlen bislang keine Chance hatten. Die Deutschen spielen ein wenig mit dem Rechtspopulismus, indem sie den Thesen von Thilo Sarrazin applaudieren, aber wenn es zur Wahlurne geht, orientieren sie sich doch lieber an den Parteien der Mitte – oder aber sie gehen erst gar nicht zur Wahl. Das ist in den Nachbarländern anders, wo rechtspopulistische Parteien zum Teil spektakuläre Wahlerfolge erzielt haben und bis in die Regierung vorgestoßen sind. So manches Land, das den Deutschen in der politischen Bildung als Muster und Vorbild an Liberalität und Toleranz vorgehalten worden ist, hat sich inzwischen zum abschreckenden Beispiel gewandelt. Das tut manchem Deutschen in der sozialen und politischen Mitte gut, hat er sich früher doch oft genug dafür geschämt, dass die Mitte in Deutschland nicht ganz so liberal und tolerant war wie die der Nachbarn. Aber es macht ihn zugleich besorgt, weil man sich nicht sicher sein kann, dass es nicht doch noch zu einem plötzlichen Ruck in Richtung der Extreme kommt, wenn nur die geeigneten politischen Leitfiguren auftauchen. Noch wirkt das Warnschild mit der Aufschrift „Weimar“, aber man kann sich nicht sicher sein, dass das auf Dauer so sein wird.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist die zuvor feste und widerstandsfähige Mitte fragil geworden, und es steht zu erwarten, dass es in dem jetzt angebrochenen Jahrzehnt zu einem Kampf um die richtige Ordnung kommen wird, bei dem die mittedominierte Ordnung nur noch eine Option unter mehreren darstellt und die Parolen von den Rändern eine unvergleichlich größere Bedeutung haben werden als in der Vergangenheit. Der Kampf um die politische Mitte wird sich wohl an der Stabilität der sozialen Mitte entscheiden: Die soziale Mitte zu wahren und zu verteidigen wird teurer werden, als es bislang gewesen ist. Das hat mit der globalen Konkurrenz zu tun, gegen die die europäische und insbesondere die deutsche Industrie ihre Position behaupten muss, gleichzeitig aber auch mit den Veränderungen im demografischen Aufbau der Gesellschaft. Zwar kann eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit das wachsende Transfervolumen begrenzen, das zur tendenziellen Aufrechterhaltung des Rentenniveaus bei weiter wachsender Lebenserwartung der Menschen vonnöten ist. Faktisch läuft eine solche Verlängerung jedoch auf eine Rentenkürzung hinaus. Ähnliche Kürzungen wird es an vielen Stellen geben, und sie sind unverzichtbar, wenn es nicht zu einem Riss kommen soll, der durch die Mitte der Gesellschaft geht. Das heißt: Die Transfers, die erforderlich wären, um das gegenwärtige Niveau zu halten, würden die Bereitschaft der oberen Mittelschicht überfordern und zu permanenten Steuerrebellionen führen. Und bei der anzustrebenden Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Transfervolumens ist eine Streckung dessen unvermeidlich, was bislang als gesellschaftliche Mitte bezeichnet worden ist.

Das marxistische Polarisationstheorem und das Leiden der Konservativen an der Mitte

In der marxistischen Theorie ist die Mitte ein sozialer Ort, der prinzipiell der Vergangenheit angehört. Die Mitte hat keine Zukunft, weil die Zukunft sich auf den Extremen befindet, die aus der Spaltung der Gesellschaft hervorgehen. Diejenigen, die sich sozial wie politisch noch in der Mitte befinden, müssen sich entscheiden, auf welche Seite sie sich schlagen wollen: auf die Seite der Bourgeoisie oder die des Proletariats, auf die Seite der Revolution oder die der Reaktion. Unter dem Eindruck der Revolution von 1848 war Marx der Auffassung, dass diese Entscheidung unmittelbar auf der politischen Tagesordnung stehe, und deswegen hat er der politischen wie sozialen Mitte nicht die Aufmerksamkeit gewidmet, die sie als eine sich immer wieder neue transitorische Gesellschaftsformation hätte erwarten können. Die Entwicklungsrhythmik der Gesellschaft entschied sich auf den Extremen, und die Mitte war bloß ein Spielball dessen.

Die politischen Parteien der Linken sind lange dieser Vorstellung gefolgt und haben den von einer empirisch arbeitenden Sozialwissenschaft erbrachten Nachweis, dass die gesellschaftliche Mitte im Laufe der Zeit keineswegs verschwand oder marginalisiert wurde, sondern durch die Entstehung neuer Mittelschichten sogar an Gewicht gewann, als ein Übergangsphänomen abgetan. Dabei bestätigten die sozialwissenschaftlichen Statistiken nur, was Marx’ Zeitgenossen Lorenz von Stein und Hermann Schulze-Delitzsch entgegen dem marxistischen Polarisierungstheorem vorhergesagt hatten: Dass die Industrialisierung nicht zum Verschwinden, sondern zum Wachsen der Mittelschicht(en) führen werde. Entgegen der marxschen Erwartung sank die Mittelschicht nicht ins Pro-letariat ab, sondern in wachsendem Maße stiegen Proletarier in die Mittelschicht auf.

Allmählich kehrte sich damit auch eine politische Erwartungsperspektive um, die ihren Anfang in der Französischen Revolution hatte und von da an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Vorstellungen der Menschen bestimmt hat: Dass die Mitte der Ort der Unentschiedenen, der Uneindeutigen und Schwachen sei, und man sich politisch zwischen rechts und links entscheiden müsse. Dabei war für viele die Radikalisierung eine Form der Klärung, und aus dieser Form der Klärung erwuchs eine Vorstellung von Avantgarde, die den wohl schärfsten Gegensatz zur Mitte bildete. Während die Mitte im Bestehenden verharrte, wusste die Avantgarde, wohin es gehen sollte und in welcher Richtung der Weg in eine „bessere“ Zukunft“ zu finden war. Die Formel von der Spaltung der Gesellschaft war für die, die diesen Avantgardevorstellungen anhingen, kein Schreckensbild, sondern ein Heilsversprechen, zeigte sich in der Spaltung doch, dass die Anstrengungen der Avantgarde Wirkung zeitigten, dass die Gesellschaft in Bewegung geraten war und ein erheblicher Teil bereit sein würde, dem von der Avantgarde gewiesenen Weg zu folgen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hat sich diese Vorstellung eines avantgardegetriebenen Fortschritts gehalten, bis sich dann das Modell einer auf die Mitte hin ausgerichteten Gesellschaft wieder durchsetzt. Ein Großteil der auf der politischen Linken angesiedelten Parteien folgte dieser Entwicklung und siedelte sich in der (linken) Mitte der Gesellschaft an. Die Spaltung der Gesellschaft wurde für sie damit von einer Verheißung zu einer Bedrohung. Von nun an galten ihre Bemühungen dem Projekt, diese Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden.

Die Mitte ist für Aristoteles das kluge Vermeiden von Extremen, die sich gern als moralisch höherstehend darstellen, dies aber nicht sind.

Dagegen haben Konservative seit jeher ein engeres Verhältnis zur gesellschaftlichen und politischen Mitte, insofern diese infolge ihrer dominanten Gegenwartsorientierung immer ein starkes Element des Bewahrens und Beharrens enthält. Im Unterschied zu dezidiert reaktionären Autoren, die der Mitte Unentschiedenheit und Feigheit vorwerfen, sind für konservative Denker die mittleren Schichten der Gesellschaft ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen die Parteien des Fortschritts und insbesondere die Parteien der Revolution. Aber die Konservativen leiden an der Mitte, an deren Schwanken und der beständigen Neigung zum Kompromiss, und sie verachten sie ob ihrer Unbeständigkeit, die sie ihr zum moralischen Vorwurf machen. Der Philosoph Arthur Schopenhauer, eine knappe Generation älter als Marx, ist dafür ein Beispiel. Während die Linke aus sozio-politischen Überlegungen heraus gegenüber der Mitte auf Distanz gegangen ist und ihr die Zukunftsfähigkeit abgesprochen hat, ist das Leiden vieler Konservativer an der Mitte eher ethisch-ästhetischer Natur: Das mittlere Leben ist in ihren Augen das Ergebnis einer Resignation: Die großen Ziele, die man angestrebt hat, haben sich als zu groß erwiesen, und mit der Zeit ist man bescheidener geworden und schließlich in der (unteren) Mitte der Gesellschaft angelangt. Vor allem der Malerpoet Wilhelm Busch, ein Schopenhauerianer reinsten Wassers, hat die kleinbürgerliche Lebensführung als ein Sich-Schicken ins Unvermeidliche der Selbstbescheidung begriffen: Nachdem einer, der für „seine Verhältnisse“ zu hoch hinaus wollte, ein ums andere Mal gescheitert ist, sieht er ein, wo sein Platz in der Gesellschaft ist und findet sich damit ab. Mit dieser Selbstbescheidung ist dann, so Wilhelm Buschs Bescheid, das kleine Glück des „Dann und Wann“ verbunden. Dieses kleine Glück der Mitte ist der Trost dafür, dass mehr nicht zu erreichen ist. Die Mitte ist hier ein Sammelplatz der Resignierten.

Einer der wenigen Autoren in der Geschichte des politischen Denkens, der die Mitte als ethisches Ideal und dessen Erreichen als Elitephänomen begriffen hat, war der griechische Philosoph Aristoteles, der die Mitte zum Schlüssel der guten gesellschaftlichen Ordnung erhoben hat. Dabei hat er sich des Bildes der Bogenschützen bedient, für die das Treffen der Mitte mehr zählt als die äußeren Ringe der Zielscheibe. Aber während die Mitte auf einer Zielscheibe leicht zu erkennen, wenngleich schwer zu treffen ist, muss sie in der sozio-politischen Wirklichkeit erst mühsam ermittelt werden. Aristoteles bedient sich dabei der Methode, über die Ermittlung der Extreme die Mitte zu finden: Wenn Feigheit und Tollkühnheit die einander entgegengesetzten Extreme sind, so ist Tapferkeit die Mitte zwischen ihnen, und ganz ähnlich ist Freigebigkeit die Mitte zwischen Verschwendungssucht und Geiz. In diesem Sinne sind auch die Schichten zwischen den Armen und den Reichen die Mitte der Gesellschaft, und wo sie die politischen Angelegenheiten in der Hand haben, da herrschen Vernunft und Augenmaß. Die Mitte ist für Aristoteles also kein Ausdruck von Resignation angesichts der Vergeblichkeit des Strebens nach Höherem, wie bei Schopenhauer und seinen Anhängern, sondern ein kluges Vermeiden der Extreme, die sich gerne als moralisch höherstehend darstellen, dies aber nicht sind. In der Sicht des Aristotelismus sind Gesellschaften immer von der Spaltung bedroht, und deswegen ist es die Aufgabe der Erziehung wie der institutionellen Ordnung, die Mitte stark und stärker zu machen.

Die Pyramide, die Zwiebel und die Sanduhr

Man kann den Aufstieg der gesellschaftlichen und politischen Mitte, der für die (west-)europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg prägend geworden ist, auch als eine Umstellung im Selbstverständnis der mittleren Schichten von Exklusion auf Inklusion beschreiben. Die sozio-politische Mitte ist pluralistisch und heterogen geworden. Sie ist, im Unterschied zur traditionellen Gesellschaft, wo die Mitte durch das Bürgertum und seine Werte markiert wurde, ein sozialer Ort mit weichen Rändern und fließenden Übergängen. Allen Beobachtungen einer „neuen Bürgerlichkeit“ zum Trotz ist der Aufstieg der mittleren Schichten zum dominierenden Faktor der Gesellschaft durch eine „Entbürgerlichung“ der Mitte gekennzeichnet, ja, man wird wohl so weit gehen müssen, diese „Entbürgerlichung“ der Mitte als Voraussetzung für ihre Ausweitung auf mehr als die Hälfte der Gesellschaft anzusehen. Konkret heißt das, dass sich die Mitte der Gesellschaft nicht mehr durch ihren Bezug auf Werte, durch ihr Selbstverständnis als Hüterin der gesellschaftlichen Werte begreift, sondern durch die Fähigkeit zu einem bestimmten Konsum, nämlich dem langlebiger Konsumgüter. Wer dazu fähig ist, gehört zur Mitte der Gesellschaft, mehr ist dazu nicht vonnöten. Bürgerlichkeit und bürgerliche Werte stellen dennoch so etwas wie die „Mitte der Mitte“ dar; sie sind der Anker, der eine aristotelische Mittekonzeption hält. Um ihn herum ist jedoch eine gesellschaftliche Mitte entstanden, die mit den Vortrefflichkeitsvorstellungen des Aristoteles nichts mehr zu tun hat, sondern für die sich die Mitte der Gesellschaft aus einer Kombination von Sicherheitsempfinden und Konsummöglichkeiten ergibt.

Diese Relativierung von Wertvorstellungen und deren Überlagerung durch Sicherheitsempfinden und Konsumchancen ist die Grundlage dessen, was hier als die Umstellung der Mitte von Exklusion auf Inklusion bezeichnet worden ist. Erst durch diese Umstellung konnte die Mitte jene zentripetale Dynamik entwickeln, wie sie für die (west-)europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg charakteristisch ist: Sie bietet eine erreichbare Perspektive des sozialen Aufstiegs, eines Aufstiegs, der innerhalb einer Generation zu bewältigen ist, und knüpft Zugehörigkeit nicht an Voraussetzungen, die durch Geburt oder frühe Sozialisation erfüllt sein müssen und nicht noch später nachgeholt werden können. Das ist das Geheimnis für das schlagartige Anschwellen der gesellschaftlichen Mitte seit den 1950er-Jahren.

Die Mitte der Gesellschaft begreift sich nicht mehr durch ihren Bezug auf Werte, sondern durch die Fähigkeit zu einem bestimmten Konsum.

Die Sozialwissenschaft hat auf diese Veränderungen schließlich mit einer neuen Vorstellung der sozialstrukturellen Ordnung reagiert: War klassisch die Pyramide das Modell der gesellschaftlichen Ordnung – breiter Sockel und schmale Spitze, wobei die Variationen der Gesellschaften über die Breite des Sockels und die Höhe der Spitze erfasst wurden –, so wurde sie nunmehr durch die Zwiebel abgelöst, bei deren Konstruktion unteres wie oberes Ende von eher geringer Bedeutung sind, sondern die Variationen über die unterschiedliche Stärke der Mitte erfolgen. Hatte im sozialstrukturellen Modell der Pyramide die Mitte nur insofern eine Rolle gespielt, als sie das Verbindungsglied zwischen breiter Unterschicht und schmaler Oberschicht darstellte, das im einen Fall größer, im anderen kleiner war, sich bei der geometrischen Konstruktion der Pyramide aber gleichsam von selbst ergab, wenn man die Basis und die Spitze kannte, so ist im Falle der Zwiebel der Umfang der Mitte entscheidend, und die Basis wie die Spitze spielen eine nachgeordnete Rolle.

Die Furcht vor einer Spaltung der Gesellschaft in ihrer Mitte, also dort, wo sie nach dem Zwiebelmodell am breitesten ist, hat inzwischen im Gegenmodell der Sanduhr ihren Ausdruck gefunden, für das charakteristisch ist, dass die Mitte die schmalste Stelle bildet und hier ein Oben und Unten durch eine deutliche Verjüngung voneinander getrennt ist. Die Sanduhr ist die modelltheoretische Bejahung der Frage nach der möglichen Spaltung der Gesellschaft. Als Modell ist sie auch darum interessant, weil sie keine Rückkehr zur Pyramide als sozialstrukturelle Ordnung anzeigt, sondern eine Variation der mittedominierten Gesellschaft darstellt, für die nicht die Wiederentstehung einer breiten Unterschicht, sondern die Trennung der oberen von der unteren Mittelschicht charakteristisch ist. Man könnte auch sagen, dass die Sanduhr für die Schließung der Aufstiegsmöglichkeiten von der unteren zur oberen Gesellschaftshälfte steht.

Mittebildung durch Industriegesellschaft und Wohlfahrtsstaat

Bei der Veränderung der Gesellschaften vom Modell der Pyramide zu dem der Zwiebel haben zwei Faktoren eine entscheidende Rolle gespielt: Die vollständige Entfaltung der Industriegesellschaft und der Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Beides hängt aufs engste miteinander zusammen: Ohne die Entfaltung der Industriegesellschaft hätte der Wohlfahrtsstaat nicht finanziert werden können, und vermutlich hätte es auch nicht den sozialen wie politischen Druck zur Entwicklung der erforderlichen Transfermechanismen gegeben; ohne wohlfahrtsstaatliche Absicherung wiederum hätte die industrielle Produktion niemals so reibungslos funktionieren können, wie das tatsächlich der Fall war und ist. Industriegesellschaft und Wohlfahrtsstaat haben sich „Hand in Hand“ entwickelt, sie haben für das gewaltige Wachstum der Mitte gesorgt – und deswegen stellt sich zu Recht die Frage, ob es mit der zu beobachtenden Deindustrialisierung von Teilen Europas zu einem dramatischen „Rückbau“ oder gar zum Verfall des Wohlfahrtsstaates und damit zur Spaltung der Mitte kommen wird, wie dies im Modell der Sanduhr vorgegeben ist.

Seit dem späten 19. Jahrhundert lässt sich ein Trend zur Annäherung der Einkommen bzw. zu einer vermehrten Einkommensbildung im Umkreis des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens beobachten. Die gewaltigen Vermögens- und Einkommensunterschiede, die für die vorindustrielle Gesellschaft charakteristisch waren, verlieren an Bedeutung. Zwar ist die Industriegesellschaft gerade in ihren Anfängen durch Pauperismus und Massenelend auf der einen und die Entstehung gewaltiger Vermögen auf der anderen Seite gekennzeichnet, aber mit der Herausbildung des industriellen „Normalarbeitsverhältnisses“ gewinnen die Gewerkschaften an Einfluss und können die Entlohnung des Durchschnittsarbeiters immer weiter verbessern. Der industriell produzierte Reichtum kann, da er massenhaft ist, zur Mitte hin verteilt werden. Diese Phase einer zentrierten Einkommensentwicklung dauert in den westlichen Gesellschaften bis zur Mitte der 1970er-Jahre an, um von da an durch eine Tendenz wachsender Einkommensspreizung abgelöst zu werden. Für diese „Trendumkehr“ sind unterschiedliche Faktoren verantwortlich gemacht worden: Zunächst der „Ölpreisschock“ von 1973, in dessen Folge es zum kontinuierlichen Anstieg der Rohstoff- und Energiekosten kam, die strukturelle Massenarbeitslosigkeit im Gefolge dessen, und sodann die Umgestaltung der Industrie- in Dienstleistungsgesellschaften, die einen Bedeutungsverlust des „Normalarbeitsverhältnisses“ zur Folge hat. Wie auch immer der Einfluss dieser Faktoren im Einzelnen zu gewichten ist: Die zuvor dynamische Entwicklung zur Mitte hin, also der kollektive Aufstieg von unteren Schichten, ist seitdem gebremst, und schließlich hat sich mit der Entwicklung von Leiharbeit, Minijobs und zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen ein Segment der Gesellschaft entwickelt, dem die Erfahrung sozialer Sicherheit, eines der Definitionskriterien von Mitte, völlig abgeht und für das inzwischen die Bezeichnung „Prekariat“ Verbreitung gefunden hat.

Mit dieser Entwicklung hat sich auch die Aufgabenstellung des Wohlfahrtsstaates verändert: Hatte er zuvor die Funktion, die Effekte der Industriegesellschaft je nachdem zu verstärken und zu begrenzen, um soziale Sicherheit nicht bloß bei Arbeitslosigkeit, sondern auch im Alter bzw. für die Hinterbliebenen herzustellen, so muss er nunmehr gegen den makroökonomischen Trend arbeiten. Aus einem Begleiter, Verstärker und Moderator der Entwicklung ist er zu einer Art Wellenbrecher geworden, was zur Folge hat, dass sich die Summe der Transfers deutlich erhöht hat, ohne dass deren Effekte noch dieselben wären wie vordem. Der Wohlfahrtsstaat, dessen Umfang am Sozialetat und dem Schuldendienst im staatlichen Gesamthaushalt ablesbar ist, ist fett und fetter geworden, aber er hat keine Muskeln und Sehnen mehr. Was aber noch bedeutsamer ist: Er hat die Grenze seines möglichen Wachstums inzwischen erreicht, müsste aber weiter wachsen, um das gegenwärtige Niveau sozialer Sicherheit in Zukunft aufrecht zu erhalten. Das ist das Problem der Mitte und der Grund dafür, warum sich die Frage nach einer möglichen Spaltung der Mitte nicht so ohne weiteres zurückweisen lässt. Dabei sind die Nuancen der Formulierung zu beachten: Es geht hier nicht um die Spaltung der Gesellschaft, wie sie zeitweilig im Begriff „Zweidrittelgesellschaft“ annonciert worden ist; zur Debatte steht die Spaltung der Mitte, die in sozialer wie politischer Hinsicht der Stabilitätsanker der europäischen Nachkriegsgesellschaften war.

Dafür, dass diese Verteidigung der Mitte gelingt, werden verschiedene Faktoren ausschlaggebend sein: Man muss davon ausgehen, dass das steuerliche Belastungsniveau tendenziell gleich bleiben muss. Deutliche Steuersenkungen würden zum Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaats, deutliche Steuererhöhungen zur dauerhaften Verweigerung der oberen Mittelschicht führen. Die Folge dessen ist, dass – auch unter dem Druck des demografischen Wandels – das Niveau der sozialen Sicherheit maßvoll abgesenkt werden muss. Dazu bedarf es eines neuen Gesellschaftsvertrags, in den die relevanten gesellschaftlichen Gruppen eingebunden werden müssen. Dieser neue Gesellschaftsvertrag ist nicht durch eine Basta-Politik zu ersetzen. Für ihn muss geworben werden, und dabei muss eine faire Lastenverteilung nachvollziehbar sein. Schließlich wird dies alles nur möglich sein, wenn es nicht zur vollständigen Deindustrialisierung der entsprechenden Gesellschaften kommt, sondern Industrieproduktion und Facharbeiterschaft nach wie vor ein erhebliches Gewicht behalten. Nur wo diese drei Bedingungen gegeben sind, besteht eine Chance, die Spaltung der gesellschaftlichen und politischen Mitte erfolgreich abzuwenden.

Herfried Münkler, Jahrgang 1951, ist Professor für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Politische Theorie und Ideengeschichte, Politische Kulturforschung, Theorie und Geschichte des Krieges, Risiko und Sicherheit. Zahlreiche Publikationen zur politischen Ideengeschichte, u.a. Die neuen Kriege (Rowohlt, 2002), Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten (Rowohlt, 2005), Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie (Velbrück Wissenschaft Verlag, 2006) und Die Deutschen und ihre Mythen (Rowohlt, 2009), für das er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung (Rowohlt, 2010).

Quelle: Recherche 1/2011

Online seit: 30. Oktober 2019