Vom soziologischen Neugründungs-Pragmatismus zur „Anti-Soziologie“

Helmut Schelskys Position in der Nachkriegsgeschichte des Faches.* Von Karl-Siegbert Rehberg

Online seit: 18. April 2020

1. Ausgangslage

Nach der als Katastrophe empfundenen Niederlage in dem von Hitler ausgelösten Weltkrieg wurde vielfältig „das Schicksal“ beschworen und zugleich nach Möglichkeiten des Überlebens durch einen Neuanfang gesucht. Eine Reaktion lag in geschichtsphilosophischen Versuchen der Verarbeitung dieser historischen Situation, etwa durch viel diskutierte Thesen, wie sie Karl Jaspers, Alfred Weber, Eugen Rosenstock-Huessy oder Hans Freyer entwickelten.

Eine andere, entscheidende Neuorientierung führte zu der – besonders durch amerikanische Besatzungsoffiziere geförderten – schnellen Reorganisation der Soziologie. Weil die westlichen Alliierten auf diese Disziplin als Re-education-Wissenschaft setzten, kam es dazu, dass unter der Militärregierung die Deutsche Gesellschaft für Soziologie als erste Wissenschaftsgesellschaft wiederbegründet wurde. Die zwei wichtigsten Akteure waren dabei der amerikanische Universitätsoffizier Howard P. Becker, ein Übersetzer und Bewunderer Leopold von Wieses, sowie der in Hessen stationierte Yale-Soziologe Edward Y. Hartshorne, der in Harvard ein Schüler des von Wiese-Freundes Pitrim Sorokin gewesen war.

In dieser Situation reüssierten zwei einstmals in Leipzig lehrende Wissenschaftler erstaunlich schnell: Auf den ersten Soziologie-Lehrstuhl in den westlichen Besatzungszonen wurde der bis zu seiner Amtsenthebung als „reichsdeutscher Professor“ im Jahre 1945 in Wien als Philosoph lehrende Arnold Gehlen an die von der französischen Militärregierung neugegründete École Supérieure d’Administration, die spätere Verwaltungshochschule und heutige Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, berufen. Zwei Jahre nach seinem philosophischen Lehrer erhielt Helmut Schelsky an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft einen ebenfalls neugeschaffenen Soziologie-Lehrstuhl.

Gehlen hatte in seinem Gutachten für dieses Berufungsverfahren vom 4. Februar 1949 für den einstigen Schüler und in dieser historischen ‚Auszeit‘ wichtigsten Gesprächspartner herausgehoben, dass Schelsky sich in einer Situation, in der in Deutschland die „moderne Soziologie […] nur als Postulat“ existiere, „mit erheblicher Energie und Umsicht“ wichtige Teile angloamerikanischer Kulturanthropologie und Soziologie angeeignet habe, etwa „Gurvitch, Talcott Parsons, Veblen, Boas, Malinowski, Allport, Drucker, Gerald Heard, G. H. Mead, Ogburn, R. Benedict und wie sie alle heißen“. Gehlen wusste das so genau, weil er – wie Schelsky mir erzählte – in Kooperation mit diesem seit 1947 Schlüsselwerke der US-amerikanischen Forschung in der heute der Stadtbibliothek eingegliederten American Library Karlsruhe gelesen und exzerpiert hatte, wobei beide ihre Mitschriften auch ausgetauscht hatten. Dabei mag Schelskys Anteil der größere gewesen sein, denn er wohnte in der Nähe der einstigen badischen Residenzstadt und Gehlen sah damals wohl immer noch den Assistenten in ihm.

So verfügten beide bald über einen enormen Wissensvorsprung gegenüber den meisten der – wie es gemütlich hieß – „Daheimgebliebenen“ und vielleicht sogar gegenüber manchem der aus dem Exil Zurückkehrenden. Viele von ihnen hatten im fremden Umfeld und in der eigenen Sprache gefangen, sofern sie überhaupt wissenschaftlich weiterarbeiteten, ihr eigenes Werk nur in Isolation vorantreiben können. Jeder der beiden Ex-Leipziger zog aus dieser sofortigen und intelligenten Rezeption anglo-amerikanischer Literatur einen Vorteil: Schelsky erhielt die dringliche und erfolgreiche Empfehlung durch seinen Lehrer, ihn nach Hamburg zu berufen, für Gehlen hingegen erschloss sich zum ersten Mal das reiche Material für sein ein Jahrzehnt später erscheinendes Institutionenbuch Urmensch und Spätkultur.

In der von den Vereinigten Staaten dominierten Neuorientierung in den Westzonen wurde es zu einem Erfolgsmerkmal, dass beide schon früher (wohl auch durch Eduard Baumgarten vermittelt) auf den amerikanischen Pragmatismus gestoßen waren. Gehlen hatte, wie die gesamte deutsche Philosophie, diesen ursprünglich auch mit dem amerikanischen Nützlichkeitsdenken und einer intellektuellen „Uniformierung und Nivellierung“ in Verbindung gebracht, dieses Urteil jedoch bereits in der ersten Fassung seiner „elementaren Anthropologie“ und noch entschiedener nach dem mit Schelsky absolvierten Karlsruher ‚US-Literatur-Schnellkurs‘ nachhaltig revidiert. Später schrieb Gehlen, die weitverbreitete Ablehnung des „praxisbezogenen Einschlags“ seiner „empirischen Philosophie“ betonend, sogar enthusiastisch: „Für die deutsche Philosophie ist Sokrates von Plato verschlungen worden, haben Hobbes und Hume, W. James und Dewey vergebens gelebt.“ Und in diesem Sinne betonte er in dem Gutachten für Schelsky: „Soziologisch hängt das zentralste aller Probleme, das Ideologie-Problem, genau von der Frage ab, wie sich Bewusstsein und Handlung der Menschen (z. B. einer Klasse [!]) gegenseitig bestimmen.“

Was in den ersten Nachkriegsjahren von einem Universitätssoziologen verlangt wurde, machte der Vorsitzende der (Berufungs-)Kommission der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg klar, als man 1953 darum stritt, ob Schelsky von der Akademie für Gemeinwirtschaft auf das dortige Soziologie-Ordinariat zu berufen sei (was schließlich auch geschah). Gegen das Votum der Philosophischen Fakultät, die Helmuth Plessner bevorzugte (dem übrigens ebenfalls eine Rezeption des pragmatistischen Denkens positiv angerechnet wurde), ging es neben solchen Fragen vor allem um des jungen Schelsky NS-Vergangenheit. Von Seiten seiner Befürworter wurde gelobt, dass er sich durch die Probleme der unmittelbaren Nachkriegszeit auch publizistisch herausgefordert fühle, weil die Aufgabe, welche „die Soziologie in der gegenwärtigen Lage der deutschen Universität“ zu übernehmen habe, darin bestehe, aktuell zu sein. Andererseits müsse er sich um die Nebenausbildung von Juristen, Volkswirten und Betriebswirten bemühen und schließlich dazu beitragen, Anschluss „an die Form der Sozialwissenschaft, die man heute auf der ganzen Welt als Soziologie versteht“, zu finden. Dieser müsse es zuallererst darum gehen, „auch praktische Aufgaben und Forschungen […] für den Aufbau eines deutschen Gesellschaftslebens“ zu übernehmen.

Seit 1947 exzerpierten Gehlen und Schelsky in der American Library Karlsruhe Schlüsselwerke der US-amerikanischen Forschung und verschafften sich so einen enormen Wissensvorsprung gegenüber den Kollegen.

Diese Forderungen erfüllte Schelsky mit Bravour. Er beschrieb seine soziologische Tätigkeit bekanntlich selbst als von einem „Realitätsdrall“ geleitet, der ihn zu einer wachen und sich auf die neuen Verhältnisse einlassenden Suche nach Wirklichkeit gelenkt habe. Schelsky konnte sich zu Recht als einer der Mitbegründer der neuen und bis in die 1970er Jahre hinein enorm expandierenden Soziologie fühlen, weil er sofort mit Entschiedenheit deren Orientierung an empirischer Forschung anstelle aller philosophisch oder ideologisch begründeten Rahmungen betonte. Das stimmte mit der damals allseits geteilten Auffassung von der Aufgabe des Faches und seiner Rolle beim gesellschaftlichen Wiederaufbau überein, die von René König und den Vertretern der jüngeren Generation wie Ludwig von Friedeburg, Ralf Dahrendorf, Hans Paul Bahrdt, Heinrich Popitz, M. Rainer Lepsius bis hin zu Jürgen Habermas geteilt wurde.

Gehlen setzte ebenfalls auf eine derart entzauberte (und entzaubernde) Realitätsnähe, wenn er die Soziologie auf eine „administrative Hilfswissenschaft“ reduzieren wollte und die amerikanische Soziologie dafür geradezu lobte, dass sie „theoretisch sozusagen ungetaufte Einzelstudien über alles Mögliche als bloße Faktenwissenschaft“ betreibe. Dominant war also das Vorhaben, eine – wie König es formuliert hatte – Soziologie zu schaffen, die „nichts als Soziologie“ sein sollte. Schelsky überbot das mit der biografisch selbst schmerzvoll erlernten Skepsis, welche er dann einer ganzen Generation zuschrieb, indem er die Aufgabe des Faches darauf einschränken wollte, zu zeigen, „was sowieso geschieht und gar nicht zu ändern ist“. Nebenbei gesagt könnte das auch ein Motto sein für den durch Schelsky so sehr geförderten Niklas Luhmann und dessen Konstruktivismus einer nun allerdings wieder theoretisierend-sublimierenden Distanznahme zum „Elend der Welt“.

Auch Gehlen hatte sich mittels der von ihm nun als ‚seine‘ Disziplin gewählten Soziologie den Alltagswirklichkeiten wie Bürokratie, industrielle Gesellschaft (ein Starthema des Neubeginns übrigens) und Wohlfahrtsstaat mit kühlem Realismus genähert. Jedoch war dies mit einem Ressentiment gegenüber den eingeschränkten bundesrepublikanischen Verhältnissen nach der verspielten großen Machtchance verbunden, während sich der jüngere Schelsky schneller und soziologisch erfolgreicher an die neuen Gegebenheiten anpasste.

Daraus formte sich übrigens bei aller freundschaftlichen Nähe über Jahre hinweg ein nie ganz aufgehobenes Unbehagen auf Seiten Gehlens, der in Schelskys umtriebigen Aktivitäten (und Erfolgen) wenig Positives zu entdecken vermochte, etwa wenn der Jüngere stolz darauf war, dass er für jede der (damals) drei Parteien für den Deutschen Bundestag hätte kandidieren können. Und erst recht strafte Gehlen es mit Verachtung, dass Schelsky sich – mit welchen Hoffnungen auch immer – dafür hergab, im allgemeinen Niedergang der deutschen Universität derart aktiv in Bielefeld eine Universitätsneugründung voranzutreiben.

Dieser zum Merkmal der Zeit gewordenen empirischen Einstellung entsprachen Schelskys Untersuchungen zu den umwälzenden „sozialen Wandlungen, die der Nationalsozialismus, der Krieg und die Kriegsfolgen“ hervorgerufen hatten, durch welche „ganze soziologische Bibliotheken […] zu Makulatur“ geworden seien.

Den wichtigsten Kristallisationspunkt für die Fortsetzung des gestörten gesellschaftlichen und individuellen Lebens fand er treffsicher in den „familiären Verhaltensweisen“, die er sofort auch empirisch am Beispiel von Flüchtlingsfamilien zu erforschen begann. Ganz sicher waren es irgendwelche Angehörigen, selbst wenn man sie nur flüchtig kannte, die im Chaos des Zusammenbruchs zuerst aufgesucht wurden. Und die Sorge um vermisste Familienmitglieder war eine der vordringlichsten in dieser Zeit, wie Schelsky das als einer der Organisatoren des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes lebhaft vor Augen gehabt haben dürfte. Ein zweites entscheidendes Medium der Bewahrung einer eigenen Identität in den Wirrnissen der Zeit war übrigens der Beruf, den Nietzsche ein „Rückgrat des Lebens“ genannt hatte (eine identitätsstiftende Sicherheit, von der heutige junge Menschen sich langsam verabschieden sollen, indem man „Flexibilität“ durch Praktika, die befristete Anstellung in Projekten und ein „lebenslanges Lernen“ durch Umschulungen zum Habitus zu machen versucht).

Ebenso interessierte Schelsky die Nachkriegsjugend, deren Profil später von Heinz Bude als „Flakhelfer-Generation“ noch einmal herausgearbeitet worden ist und die Schelsky aus der eigenen Erfahrung heraus mit dem populär gewordenen Begriff der „skeptischen Generation“ umschrieben hat. Nach den erfolgreichen Mobilisierungen jugendlicher Verführbarkeit führte die tiefe Enttäuschung nach 1945 dazu, dass sie „ihre Aktivität aus den politischen und sozialen Handlungsfeldern in die privaten Lebensbereiche verlagert“ habe und deshalb realitätsnäher und anti-ideologisch sei.

Am durchdringendsten und für die soziologische Zeitdeutung am folgenreichsten waren allerdings – trotz der Aufmerksamkeit, die in jener Zeit sein (ein anthropologisches Fundament suchendes) Sexualitätsbuch fand – Schelskys Thesen über den tiefen historischen Wandel der deutschen Sozialstruktur. Schelsky gelang es – wie später Ulrich Beck, der mit ihm die Begabung zur Erfindung von suggestiven Schlüsselbegriffen der Situationsdeutung ebenso teilt wie die vorschnelle Verabschiedung der Klassenstrukturen – ‚am Puls der Zeit‘ zu sein. So verband er seine scharfsinnigen Beobachtungen der Strukturzerstörungen durch den Krieg mit Kategorien, die das ganz Neue der Nachkriegsgesellschaft vielleicht überbetonten, jedoch einen handlungsbezogenen Orientierungspunkt lieferten.

Zentral war dabei seine These von der Ablösung der Ständegesellschaft (sowieso), aber auch der Klassenstrukturen, wie sie mit dem Industriekapitalismus entstanden waren. Hans Freyer hatte schon 1930 die Soziologie als „Wissenschaft von der Klassengesellschaft des Hochkapitalismus“ in seinem viel be‑ und geachteten Buch Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft durch eine die Zukunft bestimmende Gemeinschaftsbildung und entsprechende Gemeinschaftslehre verabschiedet. Aber Schelsky überbot (gegen den Strukturfunktionalismus gewendet) nicht nur die These vom Ende der Klassenstrukturen, sondern prognostizierte sogar die Überwindung einer die Lebensweisen der Menschen prägenden sozialen Schichtung.

Alle diese für ihn anachronistisch gewordenen Vorstellungen seien in den Köpfen vieler Menschen zwar noch vorhanden, zunehmend aber ein ideologisches Residuum, nämlich eine mit den Tatsachen immer weniger verbindbare Organisationsideologie, etwa der Gewerkschaften oder der aus der Arbeiterbewegung kommenden Parteien. Es mag paradox erscheinen, dass vielleicht gerade Schelsky daran mitwirkte, führenden Repräsentanten der linken Opposition angesichts der unbestreitbaren Verbesserungen der Lebensqualität für die Mehrheit der Menschen zu suggerieren, die Umverteilung des Produktivvermögens sei nicht mehr vordringlich. Jedenfalls wurde die gegenüber dem 19. Jahrhundert unvermindert ungleiche Verteilung des Produktionsmittelbesitzes und der damit verbundenen Machtpotenziale aus ihrer Programmatik zunehmend verdrängt; allerdings hat sich die SPD erst dadurch regierungs- und mehrheitsfähig gemacht.

Schelsky war stolz darauf, dass er für jede der (damals) drei Parteien für den Deutschen Bundestag hätte kandidieren können.

Der Mittelstandsbegriff verband diese Überzeugung von einer ganz neuen gesellschaftlichen Lage zugleich mit einer Integrationshoffnung, die man jugendbewegt einstmals in der (sei es bündischen, sei es nationalsozialistischen) Gemeinschaft hatte verwirklichen wollen, die nun aber unter den Bedingungen einer – wie früh auch schon Freyer und bald ebenso Gehlen postuliert hatten – systemischen Welt durch strukturelle Nivellierungsprozesse möglich zu werden schien. Schelskys These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ wurde allzu oft nur pauschal kritisiert. Auch ich stimme ihr keineswegs zu, soweit sie ein Verschwinden der Klassenstrukturen oder der von den Strukturfunktionalisten dann so eingehend behandelten Schichtenlagen betrifft. Jedoch wird dabei oft übersehen, dass Schelsky die tiefgreifenden Folgen der Erosion geordneter Verhältnisse durch den Hitler-Krieg sehr scharfsichtig beobachtet hat, insbesondere (worauf er allerdings nur am Rande eingeht) die durch die Abtrennung der ostelbischen Gebiete zu verzeichnende Vernichtung größter Teile des adeligen Großgrundbesitzes mit seiner (bereits von Max Weber analysierten) Verbindung von Feudalität mit Aspekten einer modernen kapitalistischen Arbeitsweise. Das gilt auch für die durch Krieg, Inflation und Vertreibung bedingten Vermögensverluste, die unvollständigen Familien, die unterbrochenen Karrieren – vor allem aber auch die Dezimierung einer ganzen Generation durch den Massentod „im Felde“. Für das bedeutende Bürgertum verband er allerdings nie dessen nachhaltige Schwächung mit der durch die Nazis vollzogenen Vertreibung und Ermordung seines jüdischen Teiles.

Wenig beachtet wurde auch seine Warnung vor einer „Ideologisierung“ (selbst der Klassenlosigkeit), die er mit Blick auf die marxistisch-leninistische Orthodoxie unter dem Gesichtspunkt von Robert K. Mertons self-fulfilling prophecy diskutierte. Er erkannte, dass dies mit der Prägung des sozialen Bewusstseins der Menschen durch analytische Kategorien der Sozialwissenschaften zusammenhing. Schelsky sah darin eine Besonderheit der modernen, sich „mehr und mehr wissenschaftlich“ begreifenden Zivilisation. Dabei könne sich eine, für eine bestimmte historische Lage zutreffende Analyse (wie das mit Blick auf Karl Marx zum allgemeinen Topos geworden ist) zu einer Wirklichkeitsvorstellung verfestigen, die jeden diagnostischen Wert verliere. Allerdings gebe es – etwa in den USA – durchaus verdeckte Klassenstrukturen, die George Lichtheim auf die intellektuelle Dominanz der „Mittelklasse“ in dieser Gesellschaft zurückgeführt habe, der bekanntlich die meisten Soziologen wiederum selbst entstammen. So schien es in der Bundesrepublik auch eine geradezu normativ verordnete ‚Klassenlosigkeit‘ zu geben, deren Beziehung zur „Ideologie“ der „Volksgemeinschaft“ Schelsky durchaus reflektiert hat. Das gilt auch für das Erlebnis einer selbst wieder ideologisierbaren „individuellen Wahl“ sowie aus seiner Sicht für harmonistische Konzepte wie „soziale Partnerschaft“, „Mitbestimmung“, die Neigung zu „Parität“ oder „Proporz“. Gegen all dies optierte Schelsky mit Ralf Dahrendorf und David Lockwood (und in Opposition gegen die Integrationstheorie von Talcott Parsons) für eine Konflikttheorie, welche die Analyse jeweiliger Herrschaftsformen einbeziehen sollte.

Wie Gehlen war auch Schelsky an „Erstmaligkeiten“ interessiert. Die Soziologie bot ihnen Einblicke, welche (schul-)philosophisch nicht mehr zu gewinnen waren. Radikal neuartig erschien auch der Gedanke, dass man sich – gegen alle revolutionäre oder gar anarchistische Programmatik – die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen inzwischen als Systemeffekt vorstellen konnte (eine Überlegung, die noch in Luhmanns Fehlentscheidung nachwirkt, „Macht“ als Code für das politische System zu reservieren und deren Allgegenwärtigkeit auf diese Weise beiseite zu schieben).

2. Institutionalisierungsprozesse

Vor diesen Ausgangsbedingungen entwickelte Schelsky nun das zentrale und gerade in der Konfusionslage nach 1945 drängende Problem der Institutionen, also ein Durchdenken von Ordnungsformen, die zumindest versprechen, sinnbezogene Reduzierungen der Weltkomplexität und Entlastungen von unaufhebbarem Entscheidungsdruck auf Dauer zu stellen. Die Dringlichkeit des Themas lag (vielleicht sogar für Gehlen, sicher aber für Schelsky) nicht so sehr in einem konservativen Beharren als eben in der Riskiertheit des Menschen und der auch durch ihn geschaffenen Bedrohlichkeiten. Dieses Denken wurde erneut aktualisiert in einer Situation, in der viele der faschistischen Neuinstitutionalisierungen, für die auch Schelsky optiert hatte, schon nach der kurzen Aufstiegsphase dieser politischen Hypertrophie mit dem NS-System untergegangen waren.

Im Erschrecken vor den damit verbundenen Staatsverbrechen floh man in beiden deutschen Nachkriegsstaaten – allerdings in entgegengesetzter Weise – aus der geschichtlichen Kontinuität. In der Bundesrepublik suchte man institutionelle Genealogien durch unmittelbare Anknüpfung an die Weimarer Republik oder an die demokratischen Traditionen bis zurück in die preußische Reformzeit, den Vormärz oder an die Paulskirchenversammlung zu finden. Zugleich schufen politisch-militärische und kulturelle Formen der Westbindung eine nun zeitgemäße Legitimation für die eigene Staatlichkeit und Gesellschaftsentwicklung. So konnte eine neue Ordnung entstehen, von der man meinen konnte, sie sei vom Barbarismus der Nazis nur kurz unterbrochen worden. Da war die Frage nach der Funktion institutioneller Ordnungen wohl insgesamt naheliegend.

Schelsky hat bereits 1949 – übrigens mit rechtssoziologischem Bezug auf die Bedeutung von Verfassungen (dies in belehrter Ernüchterung und noch ohne den später durch Jürgen Habermas karrieremachenden Gedanken Dolf Sternbergers von einem „Verfassungspatriotismus“) – seine kulturanthropologischen Gedanken über die Stabilität von Institutionen entwickelt. Darin legte er aus biografischer Erfahrung dar, dass es vielleicht „des Erlebnisses der Unstabilität unserer eigenen sozialen Umwelt, des Zusammenbruchs oder wenigstens der Gefährdung nahezu aller überkommener Institutionen“ bedurft hätte, um diese Frage „zu einem allgemeinen Bedürfnis der Besinnung zu machen“.

Mit Gehlen ging er davon aus, dass die „von Natur aus“ kulturelle Lebensweise des Menschen Institutionen voraussetze und schaffe, damit der Mensch durch sie „seine Antriebe in die Hand“ bekomme, um sie „seiner Führung und Zucht“ zu unterwerfen. Aber im Gegensatz zu seinem Lehrer stellte er sofort die (auch von diesem nicht geleugnete) Wandlungsdynamik von Institutionen in den Mittelpunkt und verwendete früh schon den Prozessausdruck „Institutionalisierung“. Der Unterschied liegt also in der Akzentuierung und ganz gewiss auch in Schelskys Annäherung an Evolutionsbegrifflichkeiten, also der Entfaltung der inneren Komplexitätssteigerung durch die – etwa von Bronislaw Malinowski beschriebene – Aufstufung von Bedürfnisbefriedigung, der Erzeugung neuer Bedürfnislagen, der Befriedigung wiederum auch dieser etc. Gerade im Zusammenhang mit Verfassungen (seien sie ungeschrieben oder kodifiziert) wird dann das Problem eines „stabilen Institutionenwandels“ vordringlich, womit Schelsky sich von allen kulturkritischen Dekadenz- und Niedergangsvermutungen abnabelte.

Aufgabe der Soziologie ist es, zu zeigen „was sowieso geschieht und gar nicht zu ändern ist.“

Früh hatten beide, Gehlen und er, bereits die Tatsache der Differenzierung nicht nur von Wertsphären (die am Anfang des Jahrhunderts etwa von Karl Mannheim noch als „Krise“ oder in der Kulturanalyse Georg Simmels sogar als „tragisch“ empfunden worden war), sondern auch der Funktionsbereiche der Gesellschaft gesehen; Luhmann wird das später analytisch radikalisieren. Schelsky hielt bei der berühmten, der Institutionentheorie gewidmeten Münsteraner Tagung im Jahre 1970 in dem von ihm gegründeten und zum Zentrum der Bielefelder Universität werden sollenden, damals noch in Schloss Rheda residierenden, Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) ausdrücklich fest: Gesellschaft mag zunehmend durch Systemspezifikationen geprägt sein, aber: „Gesellschaft ist kein System“ (und auch bei Luhmann wird diese ja sozusagen nur noch logisch als solches bestimmt, woraus man heute situationsadäquate „Weltgesellschafts“-Begriffe abzuleiten sucht).

Schelskys Interesse an Institutionen hing damit zusammen, dass er die menschlichen Handlungen mit den Systemstrukturen in Verbindung halten wollte (wie es noch Parsons versucht hatte), denn die Konfrontation personaler Lebenswelten mit systemischen Zuständen war (nicht nur im Werk von Jürgen Habermas) ein Schlüsselthema der Zeit. Den Hintergrund dafür bildete – wie Schelsky 1948 an Carl Schmitt schrieb – die Suche nach einem „biologisch-anthropologischen“ Ausgangspunkt für die Soziologie. Schelsky bereitete dazu eine eigene Monografie vor, sei es als Popularisierung der Gehlen’schen Thesen (die er schon in seiner Habilitationsschrift zumeist ohne Verweise auf ihre Herkunft sozusagen for granted genommen hatte), sei es als eigenständige Weiterentwicklung der Philosophischen Anthropologie. Und das Sexualitätsbuch war eine Anwendung derselben – übrigens (bei allen uns heute schon fremd gewordenen Ontologisierungen der Heterosexualität) ein radikales Buch über Gender-Konstruktionen, ohne dass diese durch feministische Autorinnen durchgesetzte Unterscheidung vom biologischen Geschlechtsbegriff ihm schon zur Verfügung gestanden hätte.

Aber letztlich lag seine Stärke nicht in diesem Feld – zugleich wollte er eine soziologische Analyse der bildenden Künste vorlegen –, sondern im seismografischen Blick für die Zeitumstände. Und wenn diese aus den (bürgerlichen) Fugen gerät, verliert man – nicht nur interessengeleitet, sondern weil damit ganze Weltbilder einzustürzen drohen – leicht auch den Überblick und phantasiert sich in Untergangsstimmungen, wie Schelsky das erst im Rückblick auf sein Lebenswerk tat.

3. Kritik-Kritik

3.1 Der „Anti-Soziologe“ – Ein Abschied in Bitterkeit

Manches, was Schelsky prognostiziert hatte, bewahrheitete sich: etwa die erwähnte Orientierung der Bundesrepublik an Normvorstellungen mittlerer Soziallagen. Seine zugespitzte Formulierung prägte für lange Zeit auch die bundesrepublikanische Ungleichheitsforschung, etwa die (was die Strukturen der von ihm treffend so genannten Risikogesellschaft betrifft, äußerst hellsichtigen, aber der Ausblendung grundlegender Strukturfolgen kapitalistischer Vermögensverteilung nicht weniger Vorschub leistenden) Arbeiten von Ulrich Beck und der an ihn anschließenden Autoren. Und was Schelskys Vision vom Ende der ideologischen Kämpfe betrifft, hatte er eine nicht länger an Weltdeutungsdifferenzen orientierte Politik durch den „technischen Staat“ prophezeit, d. h. die administrative Sachzwangerledigung. Durch solche Thesen wurde er mit Gehlen zu einem der Hauptvertreter des „technokratischen Konservatismus“. Damals galt das (nicht nur in Marburg) als ungeheuer reaktionär, während die Bundeskanzlerin Angela Merkel heute als sozusagen unpolitische ‚Notarin‘ der „Alternativlosigkeit“ von allen geliebt wird.

Aber trotz vielfältiger Bestätigungen und großen professionellen Erfolges bildete sich bei Schelsky am Ende seiner Laufbahn eine zum Ressentiment aufgeladene Enttäuschung heraus, wohl auch darüber, dass er zwar die Möglichkeit früh erörtert hatte, wonach der „skeptischen“ (also weder „revolutionär“ noch „konservativ“ auftretenden) Jugend durchaus eine nächste Generation folgen könne, welche gegen die im Pragmatismus erstickenden Eltern revoltiere. Aber die mit „1968“ eruptiv auftretende erneute Ideologisierbarkeit der Jugend überraschte ihn doch, besonders deren geschichtsphilosophische Emphase, etwa die Forderung nach „Revolution“. Möglich, dass Schelsky vielleicht sogar zu jenen gehörte, die ihres eigenen nationalsozialistischen Jugendaufbruchs wegen ein Moment des Verstehens und halber Sympathie mit den protestierenden Studenten empfanden. Aber im Vordergrund stand doch die schroffe Abweisung des Rückfalls in überwunden geglaubte Klassenkampf-Rhetoriken.

Das gesellschaftlich nun weit verbreitete Begehren nach Mitbestimmung vertiefte den Schock, besonders die „Drittelparitäts“-Forderungen in den Universitätsgremien. Durch diese von Studenten formulierte und vor allem von Assistenten betriebene Hochschuldemokratisierung sah er „seine“ Bielefelder Universitätsgründung und die Hoffnung auf eine mindestens im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) verwirklichbare neue Einsamkeit und Freiheit zerstört. So kam es zu seiner schroffen Gegenreaktion, zuerst zum Rückzug aus Bielefeld und damit aus der von ihm gegründeten und in der Bundesrepublik einzigen Fakultät für Soziologie in die Juristische Fakultät der Universität Münster und schließlich sogar zur Konstruktion einer „Anti-Soziologie“ – verfasst von einem der wichtigsten Soziologen der Nachkriegszeit.

Schelsky hatte mit dieser Formel bereits 1975 den IV. Teil seiner Kampfschrift Die Arbeit tun die Anderen überschrieben, was belegt, wie eng sein Aufbegehren gegen Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen mit der Ablehnung des von ihm vermuteten soziologischen Mainstreams verknüpft war. Es handelte sich, um hier Gehlen zu zitieren, der das ganze Schelsky-Buch allerdings für ein Plagiat seiner eigenen Ideen hielt, um den „Kampf zweier Aristokratien“, wobei sich auf der Seite einer radikalen Kritik „die Meinungsträger und Moralisten, die progressiven Geister, sehr viele unter den Publizisten, Künstlern, Schriftstellern, Studenten, Theologen, Politologen und Soziologen“ (nicht zu vergessen, wie Schelsky ergänzte: Pädagogen) befänden. Darin kam vor allem die Ablehnung der intellektuellen Hypertrophie einer mit dem Empirischen sich nicht länger bescheiden wollenden Soziologie zum Ausdruck.

Bei Schelsky hatte die Ablehnung des Anspruchs auf jedwede „Priesterherrschaft“ (welche der platonischen der Philosophen hätte folgen sollen) schon früh eingesetzt, nämlich in seiner 1939 in Königsberg eingereichten, 1941 („im Felde“) überarbeiteten und erst vierzig Jahre später publizierten Habilitationsschrift über Thomas Hobbes. Die Behandlung dieses Autors eröffnete ihm die Möglichkeit, vor allem die Gegner von dessen Staatsphilosophie zu benennen, nämlich die presbyterianische Geistlichkeit, die Sekten, selbstverständlich auch die Papisten, sodann die Gebildeten und Humanisten, den aufblühenden Großhandel ebenso wie „sozial und moralisch entwurzelte Elemente“ und schließlich die „Unkenntnis des Volkes von den Notwendigkeiten eines Staatswesens“. Insbesondere aber waren es die Intellektuellen und die Priester, in denen man die Feinde einer wissenschaftlich fundierten Lehre von einer Sicherheit versprechenden Vergesellschaftung sehen müsse. So schrieb schon der Ordnungstheoretiker des 17. Jahrhunderts: „Staatsgefährlich […] sind alle Gebildeten, die aus ihrer Bildung unmittelbar einen Herrschaftsanspruch herleiten.“ Auch sei der „Standesfehler“ der Gelehrten, Priester und Pädagogen bereits von Hobbes in De Homine (XIII, 6) in aller Klarheit benannt worden: „Sie halten den Staat für schlecht regiert, der nicht nach ihrem Wunsch regiert wird, und sind infolgedessen mehr als andere zum Umsturz geneigt.“

Die mit „1968“ eruptiv auftretende erneute Ideologisierbarkeit der Jugend überraschte Schelsky, insbesondere deren geschichtsphilosophische Emphase, etwa die Forderung nach „Revolution“.

Die politische Gefährlichkeit des „Intellektualismus“ stand für Schelsky, bezogen auf Hobbes wie auch auf dessen politische „Anwendung“, schon damals außer Frage. Das entsprach übrigens ganz dem Zeitgeist. So kann man in Akten des „Amtes Rosenberg“ eine Bemerkung des Reichsamtsleiters Alfred Baeumler lesen, der 1940 über Schelsky (mit Verweis auf dessen Schelling-Arbeit) schrieb: „Ich hatte den Eindruck eines völlig zuchtlosen, wildwuchernden Intellekts.“ Im gleichen Aktenkonvolut, das – neben einem von Schelsky für die Parteischulung verfassten und von den nationalsozialistischen Ideen-Hütern abgelehnten Entwurf über den Liberalismus – noch mehrere negative Beurteilungen enthält, findet sich auch der Satz: „Ich füge hinzu, dass der von mir gekennzeichnete Intellektualismus Dr. Schelskys sich auch auf das weltanschauliche Gebiet erstreckt.“

Hatte Schelsky sich 1941 neben Philosophie auch für Soziologie habilitiert und noch während des Krieges einen Ruf für dieses Fach an die Reichsuniversität Straßburg erhalten, ohne dass er dieses Extraordinariat noch antreten konnte, ist es nach „1968“ doch gerade diese Disziplin, deren Erfolg ihm zum Problem der Gesellschaft wurde, welche sie eigentlich nur beobachten sollte. Soziologie erscheint dann als Medium eines Funktionalismus und Kollektivismus, wie ihn auch Friedrich H. Tenbruck als „impliziten Marxismus“ gebrandmarkt hat, welcher „den Mutterboden für das Wachsen der Sozialreligion […] der Sinnvermittler“ geliefert habe.

3.2 Anti-soziologische Traditionen

Diese Vorbehalte gegen die Soziologie haben allerdings eine lange Tradition und wurden zuerst 1859 von dem Historiker Heinrich von Treitschke in seiner von Wilhelm Roscher betreuten Habilitationsschrift vorgetragen, die sich gegen den liberalen Verfassungsdenker Robert von Mohl und dessen Forderung nach einer „Gesellschaftswissenschaft“, aber auch gegen Lorenz von Stein, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und sogar die konservative Gesellschaftslehre eines Wilhelm Heinrich Riehl richtete. Schon Treitschke sah es als „verhängnisvollen Irrtum“ an, „die ‚Gesellschaft‘ als maßgebendes Organ für menschliches Zusammenleben an die Stelle von Staat und Kirche setzen zu wollen“; eine Position, die sein Fachkollege Dietrich Schäfer 1908 in einem Denunziationsbrief schärfer zusammenfasste, mit dem er die Berufung Georg Simmels nach Heidelberg verhindern wollte und, trotz Max Webers Eintreten für diesen, auch verhindert hat.

Und ganz in dieser Linie wurde die soziologische Infragestellung herrschaftlicher Ordnung auch von Georg von Below befürchtet, der sich 1919 gegen die Pläne des späteren preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker wandte, an allen Universitäten soziologische Lehrstühle errichten zu wollen, obwohl auch dieser zugegeben hatte, dass die Soziologie „nicht dem deutschen Denken entspreche“, weil sie „überhaupt nur aus Synthese besteht“. Aber gerade deswegen wollte Becker sie den Universitäten als „Erziehungsmittel“ verordnen. Dies nun lehnte von Below mit Entschiedenheit ab, der die Soziologie mit Alfred Doves witzigem Wort als „Wortmaskenverleihinstitut“ klassifizierte und ihr jede Fruchtbarkeit absprach. Zu vermuten sei ein „Sprung in den Dilettantismus“, welcher nicht zur Professur führen solle. Allenfalls mochte er zugeben, dass man „ohne Mißbrauch der Sache“ vielleicht „ein Privatkolleg über Soziologie herauskonstruieren könne“, aber dann stelle sich die Frage: „Was […] soll der Professor der Soziologie in den anderen Semestern lesen?“

Als die Soziologie im Umfeld der 1968er-Ereignisse für kurze Zeit zur „Schlüsselwissenschaft“ (Tenbruck) wurde und die Diskurse unterschiedlichster Fächer zu beeinflussen begann (der Verlust dieser Position wird heute gebetsmühlenartig gerade von jenen beklagt, die damals keineswegs froh darüber waren), also in der Phase ihrer höchsten Wirksamkeit, kam es zur Neuauflage jener früheren drastischen Fachkritik – nun aber von wichtigen Soziologen wie Helmut Schelsky und Friedrich Tenbruck formuliert. Diesen „Zauberlehrlingen“, die ihr Werk nicht mehr zu bändigen wussten, ging es jedoch nicht mehr um Gott und Staat, sondern eher um die Entmündigung des Menschen, die Beruhigung der Massen darüber, dass sie ohnehin nur Rollen spielten, die Entlastung von Verantwortlichkeiten, weil prägende Milieubedingungen keine Wahl ließen. Darin sahen sie die Gefahr ihres eigenen Faches. Ins Zentrum der Kritik geriet nicht die soziologische Methode, sondern – und das bestätigt die Vermutung eines politisch motivierten Theoriestreits um bestimmte Deutungen der Gesellschaft – die „Führungsrolle der Soziologie für den ‚Zeitgeist‘“. In den 1960er und 1970er Jahren hätten soziologische Thesen das Selbstverständnis breiter Schichten in einer Weise geprägt, wie das für die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert gegolten hatte. Schelsky insistierte mit dramatischem Zungenschlag, dass von der Allgegenwart sozialer Determinationen eine Bedrohung der persönlichen Freiheit, sogar die Gefahr einer „Auflösung der Person“ ausgehe. Darin Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno ähnlich, schilderte er, dass die Menschen zunehmend aus ihren sozialen Verhältnissen heraus beschrieben und alle Normenbegriffe einer personenhaften Ethik durch soziale Erwartungs- und Relationierungsvorstellungen verdrängt würden.

In den 1960er und 1970er Jahren hätten soziologische Thesen das Selbstverständnis breiter Schichten in einer Weise geprägt, wie das für die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert gegolten hatte.

Anders als 1959 setzte er sich nun allerdings vom Rollenkonzept ab und suchte seine These von den verhängnisvollen Wirkungen der Soziologie – wie erst recht der Pädagogik – illustrativ zu stützen: Friedensforschung als Heilslehre, Konflikttheorie, Bildungsplanung und politisierte Theologie waren Beispiele, die eine allgemeine Intellektuellen- und Soziologiekritik notwendig machten. Als prominente Fälle in der „Gefolgschaft der Soziologen“ werden beispielsweise Der Spiegel als (Intellektuellen‑)„Klassenkampfblatt“ und das selbstinszenierte „Martyrium“ Heinrich Bölls behandelt.

Wie bereits erwähnt, griff auch Tenbruck, dem Schelsky vollständig zustimmte, die Soziologie als „Bewußtseinsführungswissenschaft“ des 20. Jahrhunderts frontal an, wobei er sich insbesondere gegen die gesellschaftlichen Folgen des Strukturfunktionalismus wandte. Mit seinem vielbeachteten Essay „Der neue Turm zu Babel“, der 1980 im Rheinischen Merkur / Christ und Welt publiziert worden war, zielte er, wie Schelsky, auf ein breites Publikum. Tenbruck nahm dessen Gedanken auf, dass die außer Kontrolle geratenen Sozialwissenschaften „erst jene Krankheiten fördern, zu deren Heilung sie sich berufen fühlen“. In engem Kontakt mit der westlichen „Kultur-Revolution“, durch welche die Bildungsanstalten und großen Institutionen der Wissenstradierung nachhaltig verunsichert worden seien, habe man viele Sozialwissenschaftler dabei beobachten können, dass sie „den Aufbruch der unruhigen Jugend bejubelt oder geführt“ hätten. So seien neue Mythen geschaffen und – zum Beispiel durch Sozialarbeit – folgenreich verbreitet worden. Das produziere Ratlosigkeit: „[…] jahrzehntelang wurde die Gesellschaft als Stätte rational auszutragender Konflikte dargestellt, jede Art von Überlieferung und Gemeinschaftsbedürfnis ridikülisiert, wurden alle Institutionen auf bloße Herrschaft reduziert, Werte in Zumutungen umgedeutet“.

4. Ein ernüchterter Rückkehrversuch?

Wer die Selbstbezeichnung Schelskys als „Anti-Soziologe“ in seiner 1981 veröffentlichten kleinen Streitschrift beim Wort nimmt, bemerkt zugleich, dass deren motivierender Kern in der Indignation über M. Rainer Lepsius’ Darstellung der „Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie“ zu finden ist. Obwohl an „facharchivarischen Fragen nie interessiert“, erhob Schelsky Einspruch gegen die Ausblendung der gesamten, mit Leipzig verbundenen Denkrichtung und überhaupt gegen dessen Darstellung der Soziologie während der NS-Diktatur. Obgleich Schelsky die Venia Legendi für dieses Fach erworben hatte, schrieb er nun, dass man (schon seit 1931!) Soziologie gar nicht als „wissenschaftliche Disziplin“ studiert habe, sodass sie – wie er schon in seiner These von 1959 ausgeführt hatte – nicht „gleichgeschaltet werden musste“. Aber es ging nicht nur um eine Selbstrechtfertigung des einstmalig jungen Nationalsozialisten Helmut Schelsky, sondern auch und vielmehr um die Suche nach einer eigenen Genealogie, in die er sich eingefügt sehen wollte. Besonders nach dem Bruch Gehlens mit ihm im Jahre 1970 suchte er neue Verbindungslinien zu legen, in die er sein Werk eingeordnet sehen wollte, dabei besonders den Einfluss Hans Freyers aufwertend.

Deshalb regte er auch eine, 1982 von mir in Aachen veranstaltete Tagung an, in welcher viele Zeitzeugen, darunter Hans-Georg Gadamer, Alfred Heuß, Hans Linde und er selbst, Erinnerungen beitrugen. In einer Nachbemerkung zum Protokoll dieses Treffens von Fachgelehrten aus verschiedenen Wissenschaften, Generationen und politischen Positionen, das Schelsky als „später Abglanz“ einer einstmaligen „‚Universitas‘, zumindest der Geistes- und Handlungswissenschaften, ja thematisch selbst der Naturwissenschaften“ erschien, hielt er für die Leipziger nicht so sehr an dem Begriff „Schule“ fest, zeichnete aber eine Generationenfolge, in welcher die Älteren die Existenz einer Schule eher verneinten, die Jüngeren hingegen eine „Mumifizierung der Väter und Großväter“ vornähmen – die er allerdings nicht ablehnte, sondern im Gegenteil empfahl. Jedenfalls ging es ihm darum, dass die Leipziger Soziologie „vielleicht nicht nur in der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsgeschichtsschreibung mehr Beachtung verdiente“.

Zugleich wandte sich Schelsky von der von ihm mitbewirkten Professionalisierung des Faches deutlich ab, hier wiederum Gehlen folgend, welcher die Soziologie eine „Wissenschaft der zweiten Etage“ genannt hatte, die einen Unterbau von konkret angeeignetem Wissen brauche, um fruchtbar zu werden, und deshalb nicht als Hauptfach tauge. Schelskys Abschied von seinem Lebenswerk sollte gerade durch eine Distanznahme zu seinen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen gerettet werden. Und als er das in Gefahr sah, lag der Kurzschluss nahe, mit seiner eigenen Emeritierung die der ganzen Disziplin zu empfehlen – und dies gerade weil er sich so genuin mit dieser verbunden fühlte.

Anmerkung

* Herzlichen Dank sage ich Michel Kusche für die große Unterstützung bei der Bearbeitung des Manuskripts und Patrick Wöhrle und Matthes Blank für ihre Anregungen.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013

Karl-Siegbert Rehberg, Jahrgang 1943, ist Seniorprofessor am Lehrstuhl für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der TU Dresden. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Geschichte der Soziologie und Kultursoziologie. Zuletzt veröffentlichte er als Herausgeber die Bände Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR als Stellvertreterdiskurs im Prozess der deutschen Wiedervereinigung (gem. mit Paul Kaiser, Berlin/Kassel 2012) und Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa (gem. mit Patrick Ostermann und Claudia Müller, Bielefeld 2012).

Quelle: Recherche 1/2013

Online seit: 28. April 2020

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Alexander Gallus (Hg.): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 272 Seiten, € 24,90 (D) / € 25,60 (A).