Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs

Über die Anfänge des europäischen Archivwesens, die Selbsthistorisierung von Autoren und die Wohnung der Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Von Klaus Kastberger

Online seit: 30. Mai 2020

Übersah ich nun öfters die große Masse, die vor mir lag, gewahrte ich das Gedruckte theils geordnet, theils ungeordnet, theils geschlossen, theils Abschluß erwartend, betrachtete ich, wie es unmöglich sei, in späteren Jahren alle die Fäden wieder aufzunehmen, die man in früherer Zeit hatte fallen lassen, oder wohl gar solche wieder anzuknüpfen, von denen das Ende verschwunden war, so fühlte ich mich in wehmüthige Verworrenheit versetzt, aus der ich mich, einzelne Versuche nicht abschwörend, auf eine durchgreifende Weise zu retten unternahm. Die Hauptsache war eine Sonderung aller der mir ziemlich ordentlich gehaltenen Fächer, die mich mehr oder weniger, früher oder später beschäftigten; eine reinliche ordnungsgemäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf mein schriftstellerisches Leben beziehen, wobei nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte. (Goethe: Archiv des Dichters und Schriftstellers, 1823)

„Nachlassbewusstsein“1 ist kein schönes Wort, aber ein perfekter Begriff, um der Beforschung literarischer Hinterlassenschaften eine neue Leitlinie zu geben. Gut platziert ist der Imperativ, der in der Bezeichnung steckt: Der Nachlass muss als eine epistemologische Formation gesehen werden!

Allein, dass eine solche Forderung erhoben wird, lässt darauf schließen, dass es innerhalb unserer Disziplin eine gewisse Rückständigkeit gibt. Tatsächlich scheint dies der Fall: Allzu oft setzen Literatur- und Editionswissenschaft das konkrete Vorhandensein von Nachlassbeständen und deren spezifisches Erscheinungsbild als Apriori voraus. Vielfach geht der Literaturwissenschaftler heute so ins Literaturarchiv, wie der Historiker vor 150 Jahren in seine Archive gegangen ist. Von den versammelten Materialien erwartet er sich authentischen Einblick in literarische Schaffensprozesse, unentdeckte Texte, biographische Auskünfte über den Autor und neue Interpretationsmöglichkeiten am Werk. Auf dem Platz, der ihm zur Benutzung der Bestände zugewiesen wurde, atmen derweil die aus Archivboxen oder ähnlichen Behältnissen genommenen Originale ihren historischen Geist. Wie die Blätter dorthin gekommen sind, und warum sie so sind, wie sie sind, wird kaum hinterfragt und auch das Gefühl, dem Autor in den Materialien, die er von sich hinterlassen hat, nahe zu sein, eher genießerisch hingenommen als reflektiert.

Der Nachlass muss als eine epistemologische Formation gesehen werden!

Anders als vergleichbare Disziplinen, denen im 19. Jahrhundert aus der Emergenz des Archivs gleichfalls eine Gloriole erwuchs, ist die Literaturwissenschaft von einer kritischen Reflexion ihres methodischen Begründungszusammenhanges eher weit entfernt. Historiker haben erkannt, dass der Aussagewert des Dokuments von der Formation des Archivs abhängt, in dem es steckt und aus dem es gezogen wurde. Wissenschaftstheorie gründet sich heute in weiten Bereichen auf eine Topologie des Wissens. Nicht die leitende Prämisse, sondern der konkrete Ort, der – eingebunden ins soziale Feld – für die Wissensproduktion geschaffen wurde, bringt die Ergebnisse hervor, also das Arrangement des Experiments und die Meublage des Labors.2

Literarische Nachlässe hingegen tun innerhalb der Szenarien, in denen sie stecken, meist noch immer so, als wären sie unschuldige Kinder. Aber auch sie haben eine spezifische Geschichte und spezifische Formationsprinzipien. Die Geschichte des literarischen Nachlasses führt über Goethe und Dilthey zum modernen Literaturarchiv und seine inneren Strukturgesetze sind ohne die Hintergründe des allgemeinen Archivwesens nicht begreifbar.3 Nicht Goethe, so könnte man pointiert sagen, hat, indem er einen eigenen Nachlass schuf, die Formation des literarischen Nachlasses erfunden, sondern jener Teil in Goethe, der ein Beamter in Weimar und als solcher ein ausgesprochener „Aktensportler“4 war. Verschlungene, manchmal aber auch offen zutage tretende Verbindungslinien knüpfen (gesamt weitgehend unerforscht) den literarischen Nachlass an die Paradigmen staatlicher Verwaltungstätigkeit und wohl auch privatwirtschaftlicher Buchführung. Ohne den Begriff des modernen Archivs aber, der sich daraus entwickelte, ist der Begriff des modernen Nachlasses nicht denkbar.

Historiker haben erkannt, dass der Aussagewert des Dokuments von der Formation des Archivs abhängt, in dem es steckt und aus dem es gezogen wurde.

Erst dadurch, dass der literarische Nachlass zum „Bestand“ von Institutionen wurde, prägte er sich als solcher aus. Dazu gehört eine Verschiebung in der Verfügungsmacht. Nicht mehr die Familie oder andere meist noch vom Nachlasser selbst eingesetzte Verwalter entscheiden fortan über ihn. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren, sofern literarische Papiere überhaupt aufgehoben und gesammelt wurden, Privatpersonen die alleinigen Herren der Nachlässe. Noch Goethes letzter Enkel Walther Wolfgang vermachte im Jahr 1885 den handschriftlichen Nachlass seines Großvaters nicht etwa dem Staat Sachsen-Weimar und Eisenach (an den Staat ging lediglich das Haus am Frauenplan), sondern übergab die Papiere als persönliches Geschenk der Großherzogin Sophie.

Als anerkannte Kulturgüter, an denen staatliche Stellen direkte Eigentumsrechte übernehmen (ein frühes Beispiel ist die Übernahme des Grillparzer-Nachlasses durch die Stadt Wien im Jahr 1878),5 unterliegen literarische Nachlässe per se anderen, nämlich staatlich festgeschriebenen Gesetzen. Die Definition dessen, was ein Nachlass ist, und wie mit ihm verfahren wird, erfolgt jetzt nicht mehr im Bereich des privaten Ermessens, sondern in einem völlig neu definierten Raum. Die Prinzipien seiner Aufarbeitung, Ordnung, Ablage und Verzeichnung werden in Regelwerken festgeschrieben und Zugänglichkeiten sowie alle anderen Lizenzen, die der Benutzer hat, in Ordnungen festgelegt, die allgemein gelten.

Das „Nachlassbewusstsein“ des Autors, also all das, was er selbst an seinen literarischen Papieren unternimmt oder seinen Erben durch Verfügungen oder andere Nahelegungen aufgibt, damit diese Materialien einst zu seinem „Nachlass“ werden, reicht nur sehr indirekt in diesen Raum. Sicher: Die Urheberrechte am Werk verbleiben bei der Übernahme von Nachlassbeständen im Normalfall bei den Erben. Das hat aber keinerlei Einfluss darauf, wie im Archiv mit den Materialien verfahren wird und wie das Archiv in den jeweiligen Übernahmeakten aus den Mengen von Material, die jeder Mensch hinterlässt, den literarischen Nachlass des Autors destilliert.

Rein theoretisch lassen sich in den Verträgen, die solche Übernahmen regeln, freilich auch individuelle Zusatzvereinbarungen treffen. Da und dort haben auch die Archive selbst berechtigte Interessen, ungewöhnliche Materialien und Materialgruppen zum Nachlass zu nehmen, beispielsweise dann, wenn sie in Ausstellungen oder angeschlossenen Museen Kuriosa zeigen wollen. In der Definition dessen, was ein literarischer Nachlass ist, verfügen die Nachlass-Institutionen jedenfalls über einen bedeutend größeren Spielraum als die Nachlasser selbst. Das Archiv, eingebettet in Annahmen über literarische Qualität, kulturelle Wertigkeit und mögliche Forschungsinteressen an den Beständen, entscheidet, was ein literarischer Nachlass ist und welche Nachlässe den eigenen Beständen einverleibt werden. Dabei bleibt das Archiv als Institution auf sich selbst bezogen: abhängig von Ausstattung, eigen-repräsentativen Zwecken und (forschungs-)politischen Zielen.

Ökonomische Gesetzmäßigkeiten spielen in der Konstitution von Nachlässen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Was die Definitionsmacht über künftige Bestände betrifft, befinden sich Autoren, die einen hohen Rang und den Vorsatz haben, ihre Materialien einem Archiv zum Geschenk zu machen, in der besten Position. Im Fall Friedrich Dürrenmatts gingen die Auflagen, die der Autor mit der Schenkung seines Nachlasses verband, so weit, dass damit die Gründung eines „schweizerischen Literaturarchivs für literarische Nachlässe von nationaler Bedeutung“ verknüpft war. Auch Katharina Fröhlich machte die Schenkung von Grillparzers Nachlass von Bedingungen abhängig, die Literaturarchive nicht ohne Weiteres erfüllen können. Nicht nur die literarischen Papiere, sondern auch die Möbel aus des Autors Arbeitszimmer und die Verpflichtung, diese in ihrem ursprünglichen Arrangement zu erhalten und zugänglich zu machen, mussten übernommen werden.

Heterogene Materialien

Die Möglichkeiten von Autoren und Erben zur Einflussnahme auf konkrete Details der Bestandskonstitution sinken gemeinhin genau in dem Maß, als in Verhandlungen zur Übernahme von Vor- und Nachlässen die Preisfindung im alleinigen Vordergrund steht. Im Allgemeinen legen die Archive fest, welche Materialien sie haben wollen und welche Summe sie dafür (im Idealfall: basierend auf Gutachten) zu zahlen bereit sind. Durch Vergleich und Selbsteinschätzung entwickeln Nachlasser oder deren Erben meist schon im Vorfeld relativ klare Vorstellungen, was ihre Materialien wert sind und welche Materialgruppen das Archiv am höchsten bewertet. Gesetzmäßigkeiten in der Konstitution von Nachlässen entstehen solcherart innerhalb von Regelungsmechanismen im kulturellen Feld. Dazu gehört wesentlich, dass über den Sinn und Zweck literarischer Nachlass- und Vorlasspflege öffentliche Debatten geführt werden.6

Nicht Goethe hat die Formation des literarischen Nachlasses erfunden, sondern jener Teil in Goethe, der Beamter in Weimar und als solcher ein ausgesprochener „Aktensportler“ war.

Für Außenstehende, die sich im Sinn der Definition früherer Handschriftensammlungen unter einem literarischen Nachlass nur Werke, Werkmaterialien und Briefe vorstellen, ist es oft erstaunlich, welch heterogene Materialien ein moderner Nachlass in einem modernen Literaturarchiv umfassen kann. Die Regeln zur Aufarbeitung von Nachlässen und Autographen (RNA), die der heutigen Erschließungspraxis zugrunde liegen, zählen unter anderem auf: Akten, Ausweise, Ausgabenbücher, Diplome, Zeugnisse, Formulare, Haarlocken, Landkarten, Medaillen, Pässe, Privatfotos, Prospekte, Quittungen, Rechnungen, Rezepte, Speisekarten, Tabellen, Kalender, Tonbänder, Cassetten, Schallplatten, Verträge und Zeichnungen. Auch Fragmente von Joghurtbechern (von Erich Fried als Lesezeichen verwendet), Bleistiftstummel (von Peter Handke auf kaum einen Zentimeter zugespitzt) oder leere Büromaterialien, die ein Autor (Andreas Okopenko) hortete, um in seinen Materialien irgendwann einmal Ordnung zu schaffen, können Teil literarischer Nachlässe sein. Vor allem in den archivalischen Ordnungsgruppen „Lebensdokumente“ und „Sammlungen“ wuchert heterogenstes Material. Bei Archivaren besonders gefürchtet sind sogenannte Sachkonvolute, die vom Nachlasser gebildet wurden, ohne dass sich aus ihrer Zusammenstellung irgendein Sinn erschließt: Kraut und Rüben in Aktenordnern, Mappen, Schachteln und Kisten.

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Aus der Natur des Nachlasses bedeutender Schriftsteller wird der Charakter und das Gesetz der Archive sich entwickeln, die ihnen gewidmet sind. Ein eigener Geist muß in den Räumen wehen, die das vertrauliche und intime Leben der ersten Schriftsteller unseres Volkes umschließen; eine eigene Art von Beamten muß für solche Archive sich ausbilden. (Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur, 1889)

„Nachlassbewusstsein“ also: Woher kommt es, und wer hat es? Beim Wort „Bewusstsein“ geht man ja eher davon aus, dass es Subjekte sind, denen ein solches zugeschrieben werden kann. Ein Bewusstsein von ihrem Nachlass als dem künftig Vergangenen der eigenen literarischen Papiere aber nehmen die Nachlasser nicht aus sich selbst. Wenn der Nachlass eine epistemologische Formation ist, muss auch das „Nachlassbewusstsein“ in diese eingebettet und damit in Zusammenhänge gestellt sein, die über das Bewusstsein des einzelnen Autors hinausgehen. „Nachlassbewusstsein“ ist eine spezifische Verhaltensweise im Umgang mit sich selbst. Eine Lesart der eigenen Papiere, die so tut, als würden diese schon jetzt der eigene Nachlass sein.

„Selbsthistorisierung“ und „Obsorge für den Nachruhm“ sind Funktionalisierungen dieser Lektüreform. Wesentlich an ihr ist, dass der Autor an seinen Materialien hier in einem quasi testamentarischen Akt eine Art von Autorschaft und damit eine singuläre Definitionsmacht übt, sich aber dabei gleichzeitig selbst so liest, als wäre er als Autor gar nicht mehr vorhanden. So findet in dem Augenblick, in dem der Nachlasser seinen Nachlass entstehen lässt, eine Transferleistung hin zu künftigen und potenziellen Lesern des Nachlasses statt. Denen, die nach dem Autor kommen, wird vom Autor in einem letzten Akt seiner Autorität vorgemacht, wie man den Nachlass in seinem Sinn liest. Dieser Akt findet an einem unmöglichen Ort statt, nämlich dort, wo der Autor selbst sich seinem Vorlass entwindet und aus ihm einen Nachlass zu Lebzeiten macht.

Autorschaft selbst überträgt sich in diesem Prozess vom Werk des Autors auf seinen Nachlass, denn der Nachlass ist der Raum, in dem für die Zeit danach seine künftigen Werke schlummern. Realisiert werden diese Werke von Stellvertretern, die der Autor dazu direkt ermächtigt hat oder die sich ihre Ermächtigung aus dem Nachlassbestand holen. Dass sie auf der Basis von Nachlässen und unter Umkehrung methodischer Prämissen, die sie von der Altphilologie nahm, im Namen des Autors agieren konnte, ohne dazu von ihm eine direkte Ermächtigung zu benötigen, machte die Stärke der Neuphilologie im 19. Jahrhundert und macht bis heute die Kraft aller philologischen Richtungen aus, die sich darauf berufen. Kein Wunder, dass Dilthey dazu aufrief, die dazu benötigten Materialien an zentralen Orten zusammenzustellen und kein Wunder auch, dass jene Richtungen der Literaturwissenschaft, die bis heute im Namen von Autoren arbeiten, bislang kaum eine Bereitschaft gezeigt haben, das Archiv und seine Formationen kritisch zu hinterfragen. Möglicherweise ist es nur eine Mythe des Archivs und des literarischen Nachlasses, aus der sie ihre Legimitation beziehen, nämlich in den Beständen von Archiven wie in ursprünglichen Werkstätten der literarischen Produktion und in den hinterlassenen Materialien des Autors gleichsam wie dieser selbst agieren zu können.

In der Werkstatt des Dichters

Wer jemals ein modernes Literaturarchiv betreten und dort nach heute geltenden Prinzipien geordnete Bestände eingesehen hat, weiß, dass die Ablageformen dieser Bestände mit der ursprünglichen Lage und den Ordnungszusammenhängen der Materialien an realen Orten literarischer Produktion nicht das Geringste zu tun haben. Vielleicht hat sich Dilthey die künftige Tätigkeit von Archiven und Archivaren anders vorgestellt. In modernen Archiven jedenfalls erschließt sich die Werkstatt des Dichters in ihrer Topologie nicht. Völlig unterschiedliche Ordnungsprinzipien sind am Werk, selbst dort oder gerade auch dort, wo Autoren ihre Materialien vorab in Ordnung bringen und zur Übergabe präparieren. Auch dabei agiert kein Autor im luftleeren Raum: Seit es Literaturarchive und Nachlassbewusstsein gibt, blickt der Archivar dem Schriftsteller in jedem singulären Akt des Schreibens über die Schulter. Alles, was geschrieben wird, ist jetzt potenzieller Teil des Archivs.

Die Grenze zwischen Werk und Werk-Außerhalb kann in einem Nachlass niemals genau bestimmt werden.

In der Werkstatt des Dichters ist die Ordnung funktional: Topologien des Hauses, der Wohnung, des Arbeitsraumes, des Schreibtisches und der inneren Architektur des Computers geben literarischen Materialien ihre Lage und ihre Ablagemöglichkeiten vor. In Schränken, Regalen, Kästchen, Hängeordnern, Schubladen, Fächern, Aktenordnern, Mappen, Boxen und Schachteln landen Papiere meist dann, wenn der Autor mit einem Werk zu Ende ist oder sich zu größeren Aufräumaktionen entschließt. Materialien, die aktuell gebraucht werden, stapeln sich meist auf offenen Flächen oder liegen einfach nur herum. Kaum eine Spur dieser vielfältigen Ordnungen findet sich im Archiv. Ein einziges Foto des Arbeitszimmers sagt über die Werkstatt des Dichters oft mehr aus als sein gesamter Nachlassbestand im Zustand der Ordnung von Archiven.

Manchmal herrscht in der Wohnung des Schriftstellers oder der Schriftstellerin auch nur Chaos. „Ja, es schaut aus wie ein Chaos“, sagt die österreichische Autorin Friederike Mayröcker in einem Film, den die Südtiroler Regisseurin Carmen Tartarotti über sie gedreht hat, „aber es ist kein Chaos. Zu einem Chaos wird das Ganze erst dann, wenn jemand anderer daran rührt.“7 Dass kein anderer an die scheinbare Unordnung rühren darf, die in der Wohnung der Autorin herrscht, ist im Feld des Nachlassbewusstseins ein starkes Statement. In ihm drückt sich die Weigerung aus, die eigenen literarischen Papiere schon zu Lebzeiten so zu behandeln (oder von anderen so behandeln zu lassen), als wären sie ein Nachlass. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, also dem Zeitpunkt, ab dem der Nachlass dann ganz bei sich selbst und ohne die Autorin ist, wird von Mayröcker dabei aber durchaus nicht verdrängt. In den konkreten Lektüren, die sie in ihren Werken an den Materialien unternimmt, die in ihrer Wohnung überall herumliegen, ist der Tod ständig präsent. Als eine Einschreibung an literarischen Texten und nicht als eine reale Ordnungsmacht tritt Nachlassbewusstein hier auf.

Das moderne Archivwesen, das nicht nur ein Phänomen der Verwaltung, sondern immer auch ein Modell privater Lebensführung ist, hat als Verhaltensform einen extremen Gegenpart hervorgebracht. Seit den 1970er-Jahren gibt es dafür (zuerst in den USA und später in allen anderen Teilen der hochentwickelten Welt) einen Begriff, eine Diagnose und Behandlungsmethoden. „Messie“ ist die Bezeichnung, die von den Betroffenen selbst und aus Selbsthilfegruppen stammt. In der psychotherapeutischen Fachliteratur wird heute im Allgemeinen von „Compulsive Hoarding“ (zwanghaftem Horten) oder „Hoarding Disorder“ gesprochen.

Im englischen Wort „disorder“ steckt eigentlich schon alles, was man zum Verständnis braucht, denn dieses Wort meint gleichermaßen „Unordnung“ wie „Störung“ und „Krankheitsbild“. Die Unordnung selbst, die zur sozialen Bürde wird, ist beim Messie die Krankheit. In seiner Wohnung vermag er es nicht, ein Archiv zu schaffen. Ein kurzer Blick zu den Anfängen des europäischen Archivwesens erhellt den Zusammenhang. Expandierende Kanzleiapparate brachten – über die ursprünglich einzig verwahrten Urkunden hinaus – wachsende Aktenberge hervor. Materialien, die die Verwaltung aktuell brauchte und solche, die später nur noch der Dokumentation abgeschlossener Vorgänge dienten, mussten separiert und räumlich getrennt werden. Dabei kamen Fragen der Skartierung, Registratur, Ordnung, Ablage und Verfügbarkeit der vom aktuellen Aktenlauf gesonderten Materialien auf. Die Antwort auf diese Fragen ist das moderne Archiv.8

Bis zu welchem Zettel reicht, und wo endet das geistige Eigentum?

In seiner Wohnung verweigert der Messie sie: Er hortet alles, was ihm zufällt. Wirft nichts weg. Verwendet zur Ablage alle offenen Flächen und dabei auch den Fußboden. Türmt das Gesammelte ohne erkennbare Ordnung meterhoch auf. Im Extremfall braucht es in Messie-Wohnungen Stunden, bis eine einzelne Person (für Fremde sind die Räume dann nicht mehr betretbar) von einem Ende des Raumes zum anderen kommt. Türme von Material werden im Zuge solcher Bewegungen vor sich ab- und hinter sich wieder aufgebaut. Wie eine Wühlmaus bewegt sich der Messie durch seine Materialien, sorgsam darauf bedacht, die komplexe Unordnung nur ja nicht zu zerstören. Die Krankheit, die er hat, ist eine Archivkrankheit, nämlich die Unfähigkeit, sich selbst, seinen Körper und seinen Lebensraum vom Archiv zu trennen.

Messie-artig ist die Wohnung von Friederike Mayröcker, auf Fotos und im Film kann man es sehen. Ein einzelner Gast findet in dieser Wohnung noch ohne Weiteres Platz. Ein schmaler Weg, seitlich bewachsen von Papierstapeln, führt ihn in einen zentralen Raum, wo auf ihn hinter bewachsenen Tischen ein freigeräumter Bereich wartet. Auf dem vorbereiteten Klappstuhl nimmt der Gast Platz und findet auf der Ablagefläche vor sich gerade so viel Raum, dass eine Kaffeetasse und ein Glas Wasser hinpassen. Hinter einer Komposition aus Tischen, die sich in der Mitte des Zimmers befinden und auf denen Papiermaterialien gut dreißig Zentimeter hoch (Stand Februar 2014) flächig aufgeschichtet sind, sitzt ihm im Gespräch die Autorin gegenüber. Andere als solche intime Begegnungen, bei denen der einzelne Besucher stets sorgsam bedacht sein muss, an den Stapeln nur ja nichts zum Einsturz zu bringen, lässt die Wohnung der Autorin nicht zu.

Singuläre Momente räumlicher Inszenierung

Im Arrangement des Zimmers steckt ein Drehbuch für den Umgang mit dem Gast. Wie in einem Dschungel, in dem es nur schmale freigehackte Wege gibt, schränken sich in ihm seine Bewegungsmöglichkeiten ein. Fast könnte man das Gefühl gewinnen, dass der Raum, der einem in dieser Wohnung als Gast gegeben war, sich nach dem Besuch sofort wieder schließt und für den nächsten Besucher, in einigen Tagen vielleicht, dann neu hergestellt werden muss. Offenbarte Geheimnisse hat man an den einsehbaren Oberflächen entdeckt, diese ergaben sich als singuläre Momente der räumlichen Inszenierung. Der Raum selbst und die Einschränkungen, die er mit sich bringt, geben in dieser Wohnung alle Inszenierungsmöglichkeiten vor. Wie unhintergehbar dies ist, zeigt sich im Film. „Ein Team“, sagt Mayröcker dort, „kann ich hier [in dieser Wohnung] nicht aushalten. Bei dieser Enge ein Team, das ist nicht zu machen.“

Mit einer Handkamera und von der Regisseurin allein, also ohne separaten Tonmeister, wurden die Aufnahmen in der Wohnung gemacht. Die Autorin spricht im Film aus dem Off, weil die Regisseurin, die ohne Team war, in der Enge des Raums nicht gleichzeitig mit Kamera und Tonbandgerät unterwegs sein konnte. „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn jemand da ist“, klagt Mayröcker einmal. Und dann kommt ein Satz, der nicht nur das Team und den einzelnen Besucher, sondern auch die Autorin selbst von dem ausschließt, was in dieser Wohnung passiert: „Ich bin selbst schon zu viel fürs Schreiben“. Dass jemand in dem Archiv, das er zum Schreiben braucht, keinen Platz mehr findet, ist die extremste Form der Archivkrankheit. Das Archiv überwuchert den Körper der Autorin und schreibt sich gleichsam selbst. Vor dem realen Hintergrund ihrer Wohnung entwirft Mayröcker im imaginären Raum ihrer Literatur von jenem finalen Stadium allen literarischen Messietums Bilder. Es ist, als ob man das Archiv anziehen und darin völlig verschwinden kann.

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Und wenn ich das ganze Papierzeug verkehrt herum ausziehe, über den Kopf ziehe, sage ich zu Blum, ziehe ich es auch verkehrt herum wieder an am nächsten Morgen, nicht wahr, aber am nächsten Abend, wenn ich es verkehrt herum ausziehe, abermals verkehrt herum ausziehe, ist es auf der richtigen Seite!, so daß ich es auf der richtigen Seite anziehen kann am folgenden Morgen, undsofort, sage ich, seltsam genug, sage ich, du fragst wovon handelt die ganze Sache?, ES HANDELT VON NICHTS, sage ich zu Blum, es ist eine LEIBSPEISE, eigentlich LEIBES SPEISE, nicht wahr, sage ich, während der Morgen eisblau / schöner : eisblumenblau herabtriftet, usw., welche Sequenz die Literaturkritiker dazu veranlassen könnte, diese meine Schrift als „lyrische Prosa“ zu disqualifizieren, was ja schon unzähligemale geschehen ist, usw. Den Freunden, die jahrelang auf Post von mir warten, gestehe ich telefonisch ein, daß ich ALLES VERGESSEN HABE, ich meine daß ich ALLES VERGESSEN MUSS, um diese Schrift zuende schreiben zu können, man muß sich ja einspannen, nein einspinnen lassen können, hat man sich auf 1 Schreib Projekt auf 1 Schreib Diktat einmal eingelassen, da gibt es ja kein Zurück, oder das ganze ist verdorben, nicht wahr, es ist vielleicht 1 Einhaken in das Gewand der Sprache, man hängt sich ein, man hakt sich unter, man hakt sich ein in die Sprache ins MATERIAL in die TEXTUR, usw., gleicherweise scheint auch die Sprache sich einzuhaken, zu henkeln, sie versucht, sich einzuhaken in uns, sobald wir es zugeben, also, man führt man geleitet sich wechselseitig, gleichermaßen, nicht wahr. (Friederike Mayröcker: brütt oder Die seufzenden Gärten, 1998)

Der Nachlass ist das Werk plus das Werk-Außerhalb minus dem Autor. Nachlassbewusstsein ist die Fähigkeit, diesen Zustand zu denken, bevor es soweit ist. Verbunden damit tritt die Bestrebung auf, in den eigenen Materialien schon zu Lebzeiten eine Ordnung herzustellen, in der sich das Werk und das Werk-Außerhalb genuin verbinden. Funktionen von Autorschaft gehen auf diese Formation über und behaupten sich so auch außerhalb des Werks. Die Grenze zwischen Werk und Werk-Außerhalb aber kann in einem Nachlass niemals genau bestimmt werden. Laut Jacques Derrida ist das ein Apriori aller Nachlassphilologie und Textgenetik.9 Wo fängt in den Nachlassmaterialien das Werk an? Welche der frühen Notizen gehören dem genetischen Konvolut gerade noch an und welche nicht mehr? Wo verliert sich der erste eigene Gedanke, wenn es so etwas wie einen ersten eigenen Gedanken überhaupt gibt? Bis zu welchem Zettel reicht und wo endet das geistige Eigentum? Das moderne Urheberrecht, das in seinen wesentlichen Gründungsakten zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst einer Emergenz des bedruckten Papiers und des Archivs folgt,10 schützt das besondere geistige Band, das zwischen dem Autor und seinem Werk herrscht. Als Beweis für die kreative Leistung gilt die spezifische sprachliche Ausprägung des Werks. Wohin aber bindet der Autor das geistige Band, das ihn mit seinem Werk verbindet, in seinem Nachlass zurück? Wo enden seine Besitzrechte und damit die Fundamente seiner Autorschaft? In einer Lücke, die das moderne Archiv setzt, um sich selbst zu setzen?

Regelmäßig kommt eine Putzfrau in die Wohnung, die am Staub nur ganz oberflächlich rühren darf.

Das Vorlass-Chaos (auch dies kein schönes Wort) lässt zwischen dem Werk und dem Werk-Außerhalb keine Lücke. Alle Materialien, die sich in Mayröckers Wohnung befinden, sind kontingent. Ein Gesetz der Berührung, das die Papiere neben- und aufeinander liegen lässt, steuert hier die Ablage und die Sedimentation der aneinandergrenzenden Schichten ins Archiv. Für ihre Materialien hat die Autorin keine geschlossenen Behältnisse. Keine Schublade, kein Schrank, kein Kästchen, keine Box und keine Schachtel finden sich für sie. In der Wohnung liegt alles offen zutage, stapelt sich auf und macht sich, in dem es im Anwachsen langsam das Untenliegende verbirgt, im Laufe der Zeit selbst unzugänglich. Nur einmal, so erzählt Mayröcker im Gespräch,11 habe ihr das Chaos auf einem der Tische gereicht, woraufhin sie darüber ein Flanelltischtuch gebreitet hat.

Unter Schichten neuen Materials kann man den geblümten Stoff bis heute erkennen. Das eigentliche Drama, so die Autorin weiter, bestehe durchaus nicht darin, dass dieser eine Schnitt eine klare Unterscheidung setzt. Das Drama des Schnitts ist ein allgemeines Sinnbild für das kontinuierlich erlebte Drama in dieser Wohnung. Material verschwindet in ihr und versinkt. Papiere, an denen die Autorin vor Zeiten entflammt war, hauchen ihren Geist aus und trocknen (metaphorisch gesagt) ein. Bald (nämlich spätestens dann, wenn die Schreibarbeit an dem einen Buch abgeschlossen ist und es an das nächste geht) entbehren all die Zettel, die es gebraucht hat, ihrer unmittelbaren Aktualität. Sie haben kein Fieber mehr und archivieren sich selbst, indem Neues auf sie zu liegen kommt. Da und dort taucht später aus den unteren Schichten aus Zufall oder Berechnung vielleicht noch die eine oder andere Notiz auf. Vorsätzlich gewühlt wird in den alten Materialschichten aber nicht, Papier altert hier in Würde.

„Nachlassbewusstsein“ ist eine spezifische Verhaltensweise im Umgang mit sich selbst.

Wer Mayröcker liest, kennt diese Vorgänge, denn in ihrem Schreiben reflektiert die Autorin die eigene Poetik und macht diese zu einem unverzichtbaren Teil ihres Werks. Im Prozess der Textproduktion muss das Material zähflüssig gehalten werden wie ein Teig. Wenn es zu lange abliegt, ist es nicht mehr zu gebrauchen. Zu den aktuellen Zetteln und Notizen, die die Autorin auf der Maschine dann meist in kauernder Haltung zu Typoskriptfassungen macht, unterhält sie einen hochemotionalen und manchmal geradezu euphorischen Bezug. Als oberste Schicht lagert dieses Material in der Nähe des Schreibplatzes, der im Arbeitszimmer der Autorin selbst nichts anderes als ein gerade einmal leergeräumter Fleck ist. Die aktuelle Keimschicht des Schreibens liegt obenauf, gleichwohl ist auch ihr schon ihr künftig Vergangenes, nämlich die Patina des Archivs, eingeschrieben.

Auch im Kontingenz-Archiv gibt es Archivtechniken. Mayröcker nimmt diese aus der Waschküche. In früheren Zeiten hat sie Zettel manchmal auf Wäscheleinen gespannt, auf Styroporplatten gepinnt oder in kleinen Versionen von Wäschekörben gestapelt. Seit einiger Zeit jedoch hat in ihrer Wohnung die Wäscheklammer die alleinige Herrschaft übernommen. Mit Kluppen (wie es in Österreich heißt) fasst die Autorin überschaubare genetische Materialien einzelner Gedichte, meist nicht mehr als fünf bis zehn Blatt mitsamt einzelner Zettel, zusammen und legt sie dann in dieser Form in einem offenen Regal im Vorzimmer ab. Aufgrund der unterschiedlichen Formate der Blätter und wegen der Materialität der Kluppen selbst, kommt es auch in diesem Gedicht-Archiv zu wüsten Verwerfungen. Nichts liegt hier ordentlich auf einem Stapel, die einzelnen Bündel, die ohne äußere Hülle sind, fransen aus, verschieben sich und scheinen heillos ineinander verhakt.

Ein einziges Foto des Arbeitszimmers sagt über die Werkstatt des Dichters oft mehr aus als sein gesamter Nachlassbestand im Zustand der Ordnung von Archiven.

Auch mit der Institution des Archivs hat Mayröcker Erfahrungen gemacht. Nachdem im Jahr 1980 bei Suhrkamp ihr großes Prosabuch Die Abschiede erschienen war, wandte sich die Wiener Stadt- und Landesbibliothek an die Autorin, weil als Cover, ohne nach den Rechten zu fragen, ein Stich aus der Bibliothek verwendet worden war. Um die Gemüter zu beruhigen, die nicht sehr aufgeregt waren, schenkte Mayröcker der Handschriftensammlung der Bibliothek, in der neben Grillparzer auch die Nachlässe von Nestroy und Ferdinand Raimund liegen, eine Box, die sie damals für etwas Ähnliches wie einen Teil eines möglichen Nachlasses hielt. In eine Schuhschachtel packte Mayröcker alle mögliche Materialien aus ihrer Wohnung: Zettel, Gummiringe, Filzstifte, Kluppen, leere Medikamentenschachteln – teilweise von der Autorin beschriftet, teilweise auch nicht. Auch außen beklebte Mayröcker die Schachtel mit Material und schrieb auf sie das Wort „DADA-Box“. Grob gerechnet gingen sich aus den heutigen Wohnungsinhalten einige tausend solcher Boxen aus. Wäre das eine adäquate Form, um einen solchen Bestand ins Archiv zu nehmen und an ihm etwas von seinem genuinen Zusammenhang zu bewahren?

Einige Jahre später gab Mayröcker ihr bisheriges literarisches Gesamtwerk ins Wiener Rathaus. Typoskriptfassungen verwahrt die Autorin bis heute an separaten Orten. Beispielsweise gab es früher einmal einen als „Schlauch“ bezeichneten Gang, in dem sich Typoskripte neben Büchern lose gestapelt fanden. Diese Materialien zu identifizieren, machte bei der Übernahme wenige Schwierigkeiten. Wie jedoch aus den Bergen von Material, die sich auch schon in der früheren Wohnung der Autorin, ein Stockwerk unter der jetzigen, türmten, die den jeweiligen Werken zugehörigen Zettel gefunden wurden, bleibt ein Wunder des Archivs. Tatsächlich ließ sich in den meisten Fällen keine Zuordnung treffen, und die Materialberge blieben unberührt. Lediglich die umfangreichen Materialkonvolute zu den großen Prosabüchern der Autorin wurden in Archivboxen gepackt. Aber auch diese Schachteln stellen in ihren genetischen Relationen zu den jeweiligen Büchern eher grobe Annäherungswerte dar.

Dort, wo aus der damaligen Wohnung der Autorin Material entnommen wurde, wuchsen die Freiräume, die als solche kaum sichtbar waren, sofort wieder zu. Die Wohnung unten, von der es zahlreiche Fotos gibt und die es einmal sogar auf die „Schöner Wohnen“-Seite der österreichischen Tageszeitung Der Standard geschafft hat, vermittelt heute nur noch einen toten Eindruck. Vor einem Jahrzehnt ist Mayröcker von dort aus- und einen Stock höher gezogen. Die Materialberge unten, an denen es für die Autorin nichts mehr zu tun und zu entdecken gibt, vermitteln den Eindruck eines Endlagers. Sie sind abgekühlt und haben Staub angesetzt. Aus dem Kontinuum des Staubes könnte die Geschichte dieser vergessenen Wohnung vielleicht einmal erzählt werden, sofern der Staub der Erzähl-Stoff des Archivs ist.12

Vorlass-Übergabe am ausziehbaren Schneidbrett

Auch in der neuen Wohnung gibt es Staub, aber dieser Staub wird durch aktive Archivprozesse immer wieder hochgewirbelt. In Ecken, Ritzen, Hohlräumen und überall dort, wo keiner hinkommt, sammelt er sich. Regelmäßig kommt eine Putzfrau in die Wohnung, die am Staub nur ganz oberflächlich rühren darf. Ab und an kommt eine Archivarin aus dem Rathaus, um sich von der Autorin Vorlass-Material aushändigen zu lassen. Im Film kann man es sehen: Freundlich, aber mit innerem Widerwillen gibt Mayröcker die wenigen Blätter, die sie vorbereitet hat, heraus. Zur Übergabe wurde in der Küche ein ausziehbares Schneidbrett ausgefahren. „Der einzige Platz“, sagt die Hausherrin, „der dafür in der Wohnung vorhanden ist.“ Auf der einen Seite des Bretts steht Mayröcker und sortiert das Wenige aus, auf der anderen Seite sitzt die Archivarin. Die große schwarze Box, die die Frau mitgebracht hat und auf ihren Oberschenkeln balanciert, füllt sich mit den zusammengekluppten Blättern gerade einmal bodenhoch. Nachdem die Besucherin die Wohnung verlassen hat, wird das Schneidbrett wieder eingefahren, kaum eine Spur der Entnahme bleibt.

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Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden; sondern daß sie sich in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten sich behaupten oder verfließen; was bewirkt, daß sie nicht im gleichen Schritt mit der Zeit zurückgehen, sondern daß diejenigen, die besonders stark wie helle Sterne glänzen, in Wirklichkeit von weither kommen, während andere, noch völlig junge, bereits außerordentlich verblasst sind. (Michel Foucault: Archäologie des Wissens, dt. 1973)

Gewimmel sprachlicher Spuren

„Das Archiv ist […] das Gesetz dessen, was gesagt werden kann“: Diese prägende Formulierung von Michel Foucault gibt dem, was sich heute „Archivologie“ nennt, ein Leitbild.13 Von einer Ideengeschichte im herkömmlichen Sinn setzt Foucault seinen Ansatz scharf ab. Einer Archäologie des Wissens geht es nicht darum, zu untersuchen, wo und von wem ein Gedanke erstmals formuliert wurde. Gefragt wird stattdessen nach den Voraussetzungen neuer Aussagen in den Strukturen von Diskursen. Nicht wer und wann etwas zum ersten Mal gesagt hat, ist entscheidend, sondern die Möglichkeiten von Sagbarkeit, die er dabei hatte. Das Archiv als Regelungssystem von Diskursen ist der Ort, der die Sagbarkeit vorgibt. Als ein solcher Ort kann das Archiv stets nur historisch erschlossen werden, denn der aktuelle Hintergrund von Sagbarkeit entzieht sich der Analyse. Erst an historisch gewordenen Diskursen treten die Äußerungsbedingungen hervor, die den Diskurs konstituierten.

Auch der Autor ist für Foucault eine diskursive Formation. „Wie lässt sich“, so fragt er, „aus den Millionen von Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren?“14 Muss man jeden Schmierzettel, jeden ersten Entwurf, alle Korrekturen und Streichungen dazuzählen? Die verworfenen Skizzen und alle Anmerkungen? Welchen Status haben all die Briefe und berichteten Gespräche, in denen sich der Autor zum Werk äußerte? Jedes Individuum hinterlässt nach seinem Tod ein „Gewimmel sprachlicher Spuren“, die in einem „unbestimmten Verkreuzen“15 viele verschiedene Sprachen und eben nicht nur die in eins gedachte Sprache des Werks und des Autors sprechen.

Wie eine Wühlmaus bewegt sich der Messie durch seine Materialien, sorgsam darauf bedacht, die komplexe Ordnung nur ja nicht zu zerstören.

„Unbestimmtes Verkreuzen“ ist, als materielles Phänomen gedacht, genau das, was sich im Mayröckerschen Vorlass-Chaos aktiv vollzieht. Aus einer Verkreuzung ihres Zettel-Werks, das noch kein Werk ist, aber all seine künftigen Potenzen trägt, gewinnt die Autorin in einem Prozess, den sie selbst eher beobachtet als bewusst steuert, ihre Texte. Egal, ob es sich dabei um Gedichte, Prosaarbeiten oder um all die in ihrem Schreiben etablierten Mischformen handelt: In poetologischen Metaphern, vorzüglich des Nähens, der Wäsche, des Kochens oder des pflanzlichen Wachstums, in ihren späteren Büchern aber zusehends auch in Verweisen auf die krude Materialität ihres Tuns, hält sie diesen Prozess literarisch fest.

Als eine Autorin im eigentlichen Sinn des Wortes agiert Mayröcker in ihren Texten stets nur im Nachhinein, denn in jedem dieser Texte steht Autorschaft neu auf dem Spiel. Dass das Zettel-Werk sich in den Glücksakten des Schreibens jedes Mal neu zu einem Werk fügt, ist nicht sicher, und auch die Frage, ob diese Fügungen, vollzögen sie sich allein aus den Zetteln heraus und damit ganz ohne Autorin, nicht weit überzeugender wären und damit die Schreibweise ganz bei sich, ist nie ganz abzuweisen. Weiter als bis zu den Punkten, die Mayröcker in ihrem Schreiben erreicht, lässt sich die Vorstellung einer Subjektlosigkeit des Schreibens jedenfalls kaum treiben. Nicht nur in dem allgemeinen Sinn, in dem sich in der literarischen Moderne die Sprache selbst spricht, sondern in einem konkret vorhandenen sprachlichen Archiv, das seine spezifische Materialität und seine spezifische Ordnung hat, gründet Schreiben hier auf sich selbst.

Retrospektives Vorlass-Chaos

Einschreibungsakte von Autorschaft, in denen sich das Archiv in seiner Eigengesetzlichkeit in das andere der Literatur wandelt, zeigen sich immer nur retrospektiv. Die Schreibende selbst erlebt solche Wandlungsakte an den gerade bearbeiteten Materialien oft wie ein äußeres Wunder und berichtet davon in ihrer Literatur. Über die Literatur aber führt kein Weg in das Archiv zurück, denn gerade aus einer Überwindung des Archivs, das ihr zugrunde liegt, hat Literatur sich hier zu sich selbst gemacht. Auch in Mayröckers Literatur tritt das Vorlass-Chaos dem Leser nur retrospektiv vor Augen. Weil es im Schreiben bewältigt und transformiert wurde, konnte aus ihm Literatur entstehen. Zunächst war sich die Schreibende noch selbst zu viel. Als Eizelle in den Uterus einer Wohnung gepflanzt, wuchs sie in einem Akt der Selbstbefruchtung zu einem Embryo, der sich langsam aus der Zimmerumgebung schälte. Dazu musste das Archiv, in dem und aus dem heraus Mayröcker schreibt, zunächst auf etwas bezogen werden, was vor der Autorin war. Nachdem er sich im Archiv ausgewachsen hat, musste der Autoren-Körper dann wieder aus ihm abgezogen werden. Dass es in Mayröckers Literatur blutet, hat auch darin seinen Grund: Dass die Zettel, aus denen sich dieses Schreiben baut, zum Expedit des Werkes wieder abgetrennt werden müssen vom Körper, denn anders als für ein Außen kann ein literarische Werk nicht sein.

In Ketten der Genese, der Genealogie, des Genus und des Genres vollzieht sich die Ablösung des Werks vom Werk-Außerhalb. Wo aber, so fragt sich Derrida in einem Vortrag, den er anlässlich der Übernahme des literarischen Archivs von Hélène Cixous durch die französische Nationalbibliothek hielt, könnte in diesen Ketten der Ort des literarischen Genies sein? Ist ein literarisches Werk vorstellbar, das seine Genese vollkommen verzehrt16 und für sich einen Ort jenseits von Genealogien und Genres schafft? Ist das Genus eines solchen Schreibens, das der Heteronomie die Macht gibt, weiblich? Und wie stünde es um dieses einmalige Ereignis, den „absolut einmaligen, eröffnenden“ Schnitt, der „ohne mögliche Vergangenheit und ohne mögliche Nachahmung“ ist? Wie könnte er „ohne Vater und Mutter, ohne Kind, ohne Namen, ohne Erben und ohne Schule“ sein? Indem sich all das, wovon er sich abschneidet oder „dessen Faden er trennt“, dann doch wieder in ihm „wiederangenäht“17 findet?

Genial, sagt Derrida, ist niemals das Subjekt, weder das reale noch das imaginäre und auch das symbolische nicht. Genial kann nur der Akt des „unmöglichen Ankommens“ sein, jener „verschwiegene Augenblick“18 des Werks, der sich an ein Du richtet. Wie aus simpel vorhandenen Vorlass-Materialien ein Werk und warum aus diesen Materialien ausgerechnet dieses eine Werk werden konnte, gehört zu den letzten und eigentlichen Geheimnissen des literarischen Schreibens. An ihm haben die Textgenetik und alle künftigen Wissenschaften des literarischen Archivs eine methodische Grenze, denn der spezifische Grund des einen Werks, sein Anfang und seine erste Einschreibung ins Material, kann im Material nicht lokalisiert werden, egal ob es sich bei ihm um einen nach heutigen Standards eingepflegten Nachlassbestand oder um etwas handelt, das sich im Schreiben gleichsam selbst hinterlassen hat.

Weiter als zu den Punkten, die Mayröcker in ihrem Schreiben erreicht, lässt sich die Vorstellung einer Subjektlosigkeit des Schreibens kaum treiben.

Im Fall des Vorlass-Chaos scheint uns der Prozess näher. Eine Archäologie des literarischen Wissens könnte sich hier dem Wortsinn nach durch Schichten graben. Auch in diesen Schichten jedoch bleibt das punctum des Werkes verborgen. Was sich an den Materialien zeigt, ist die Potenzialität des Werkes und darin vor allem auch, dass das Werk anders hätte sein können. Hohes Misstrauen gegen die Ordnungen des Archivs, die so tun, als könnten sie einzelne Werke mit sicherer Bestimmung aus der Ganzheit eines Nachlasses lösen, scheint angebracht. Um solche Schnitte setzen zu können, musste der Nachlass erst einmal als solcher konstruiert werden. Wurde er vielleicht nur deshalb aus Werk- und Werk-Außerhalb zusammengesetzt, um ihn später umso bequemer wieder in diese zwei Teile spalten und säuberlich getrennt in Archivboxen legen zu können?

In den Ordnungsprinzipien, die moderne Literaturarchive aus zusehends pragmatischer werdenden Erwägungen heraus entwickelt haben, sind sie bis heute von einem editorischen Ansatz geleitet.19 Was an einem Bestand herausgegeben werden kann, erfährt im Archiv eine andere Behandlung als all das, was mit dem Werk des Autors nicht in diesem Sinn zu tun hat. Nachlässe sind aber nicht nur zum Edieren da. Wenn Nachlassbewusstsein der Akt ist, über den sich der moderne Nachlass konstituiert und die Ordnung der Dinge auf die Ordnung des Archivs überträgt, so bedingt das Vorlass-Chaos als Modus einer quasi punktgefrorenen literarischen Produktion eine andere Möglichkeit der Lektüre. In so ein Archiv geht man nicht, um darin das Werk zu suchen, sondern um in ihm zu finden, wie es anders hätte sein können.

Anmerkungen

1 Den Begriff „Nachlassbewusstsein“ verwendet – im Sinne von Arbeit an der eigenen literarischen Hinterlassenschaft – mutmaßlich erstmals Lothar Müller in seinem Buch Weiße Magie. Die Epoche des Papiers (München: Hanser 2012, S. 282). Unter dem Titel „Nachlassbewusstsein. Literatur – Archiv – Philologie“ fand im Deutschen Literaturarchiv Marbach vom 4. bis 6.9.2013 ein wissenschaftliches Symposium statt; den Vorträgen und Diskussionen vor Ort verdankt der gegenständliche Beitrag zahlreiche Anregungen. Geschrieben wurde der Aufsatz auf Einladung der beiden Herausgeber für den Dokumentationsband der Veranstaltung, der im Frühjahr 2015 in der Reihe „marbacher schriften. neue folge“ bei Wallstein erscheint. Zur Konzeption der Tagung und des Sammelbandes sowie zum „Nachlassbewusstsein“ als Forschungsgegenstand vgl. Kai Sina/Carlos Spoerhase: „Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Erforschung seiner Entstehung und Entwicklung“. In: Zeitschrift für Germanistik 3/2013, S. 607-623. Für die Zustimmung zum Vorabdruck meines Aufsatzes und die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die beiden Aufsätze, die sie selbst für diesen Band geschrieben haben, danke ich den beiden Herausgebern. Für die kritische Lektüre meines Beitrages, die in Windeseile vollzogen war, möchte ich zudem Rüdiger Nutt-Kofoth und Armin Schäfer danken.
2 Dazu grundlegend: Bruno Latour/Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Beverley Hills: Sage Publications 1979. Und spezifisch: Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin: Kadmos 2002; Anke te Heesen/Anette Michels u.a. (Hg.): auf/zu. Der Schrank in den Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag 2007; Gisela Ecker: Literarische Kramschubladen. Portraits – Privatmuseen – Zwischenspeicher. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie (Sonderheft Das Gedächtnis der Literatur 2006), S. 19-31 sowie Christiane Holm: Goethes Gewohnheiten. Konstruktion und Gebrauch der Schreib- und Sammlungsmöbel im Weimarer Wohnhaus. In: Sebastian Böhm/Christiane Holm u.a. (Hg.): Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen. Weimar: Deutscher Kunstverlag 2012, S. 118-125.
3 Goethes kleiner Aufsatz „Archiv des Dichters und Schriftstellers“ (zuerst in der vom Autor selbst herausgegebenen Zeitschrift: Über Kunst und Altertum. Bd. 4, Heft 2, S. 25-28) wird heute allgemein als Gründungsurkunde eines modernen Nachlassbegriffes angesehen. Wilhelm Dilthey stellte in seinem am 16. Jänner 1889 vor der Gesellschaft für deutsche Literatur gehaltenen Vortrag „Archive für Literatur“ die Forderung zur Einrichtung zentraler Literaturarchive auf. Seine Argumentation ist vollkommen vitalistisch, denn die Lebenskräfte des Autors sollen im Nachlassbestand gleichsam auf den Benutzer respektive Leser übergehen: „Aus der Gesellschaft dieser mächtigen Personen, gleichsam aus deren Aufnahme in das eigene Seelenleben entsteht seinen Hörern oder Lesern eine dauernde Erhöhung seiner Kraft. So liegt die tiefste und dauerndste Wirkung literarischer Werke auf uns eben darin, daß die Dichter und Denker selbst zu einem Teil unseres eigenen Lebens werden.“ „Darum ist uns der Atem des Menschen so lieb, welcher uns aus Entwürfen, Briefen, Aufzeichnungen entgegenkommt. Was würden wir heute darum geben, könnten wir vermittels solcher direkten einfachen Äußerungen in der Seele des Äschylos oder Plato lesen!“ „Das handschriftliche Material […] ergießt Farbe, Wärme und Wirklichkeit des Lebens über die unzählig wirkenden Kräfte die hier [in der Werkstatt des Dichters, Anm.] tätig gewesen sind.“ (Wilhelm Dilthey: Archive für Literatur, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 15, hgg. von Ulrich Herrmann, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1973, S. 4-6). Zu Dilthey und zur Geschichte des Literaturarchivs vgl. Willy Flach: Literaturarchive. In: Archivmitteilungen 1955, H. 4, S. 4-10; Thomas Sprecher: Literarische Archive. In: Ders. (Hg.): Im Geiste der Genauigkeit. Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich, Frankfurt/Main: Klostermann 2006, S. 19-41, Jürgen Thaler: Zur Geschichte des Literaturarchivs. Wilhelm Diltheys Archive für Literatur im Kontext. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 55 (2011), S. 361-374 sowie Stéphanie Cudré-Mauroux/Irmgard Wirtz: Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive, Göttingen: Wallstein 2013. Theoretisch wird der Status des Literaturarchivs vor dem Hintergrund einer allgemeinen Theorie des Archivs heute vor allem auch im englischen Sprachraum diskutiert. Dabei ist nicht sicher, wo die Referenzwerte liegen. Ist das Literaturarchiv eine Sammlung von einzeln konstituierten Beständen, die selbst nur Sammlungen sind, oder ein nach allgemein archivarischen Prinzipien funktionierender Gesamtkorpus? Dazu und zum Problem der unterschiedlichen Materialordnungen von Schriftstellern und institutionellen Archiven vgl. aktuell: Catharina Hobbs: Reenvisioning the Personal. Refraiming Traces of Individual Life. In: Terry Eastwood/Heather MacNeil (Hg.): Currents of Archival Thinking. Santa Barbara: ABC Clio 2010, S. 213-241.
4 „Das alte Wort, daß der oberste Vorgesetzte sich um das Kleinste nicht kümmere […] hat Er [Goethe, Anm.] nicht anerkannt. Ja, mit einer gewissen Beflissenheit hat Er sich um das Kleinste gekümmert, es ließen sich ergötzliche Belege dafür finden. Von Lessing hat Goethe einmal gesagt, er habe für sein mächtig arbeitendes Innere ein Gegengewicht gebraucht. Bei Lessing war es das Spiel. Bei Goethe, scheint mir, war es, wenigstens von Zeit zu Zeit, der Actensport.“ (Bernhard Suphan: Urkunden aus den Zeiten der Theaterdirektion Goethes. Vortrag gehalten in der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft am 8. Mai 1891. In: Julius Wahle: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung. Weimar: Verlag der Goethe-Gesellschaft 1892, S. VII-XXIX, S. XXIIIf..) Von Fährnissen berichtet der letzte Amtsgehilfe Goethes: „Das Mechanische der Geschäfts-Behandlung war ihm weniger geläufig, da er die niederen Dienstes-Stufen übersprungen hatte. […] So war denn auch er, der so sehr liebte, über alle Vorkommnisse, selbst seines Privatlebens, Acten zu führen, doch nichts weniger als das, was man einen rechten Actenmann zu nennen pflegt. Ungeachtet Goethe’s übrigens ausgezeichneten Ordnungliebe, befanden sich in der That seine, wenn auch höchstsauber gehaltenen Acten niemals im Zustande bequemer Brauchbarkeit. […] Die beabsichtigte Erleichterung fand er zum Theil in sorgfältigen Niederschreibungen selbst unwichtigen Inhalts.“ (C. Vogel: Goethe in amtlichen Verhältnissen. Jena: Friedrich Frommann 1834, S. 4f.) Grundlegend für eine kulturwissenschaftliche Betrachtung von Goethes Aktenführung als Teil humanistischer Lebensform: Ernst Robert Curtius: Goethes Aktenführung. In: Die Neue Rundschau 62 (1951), H 2, S. 110-121 sowie zusammenfassend: Irmtraud und Gerhard Schmid: Goethes Arbeitsweise als Kollege und Chef. In: Diess. (Hg.): Johann Wolfgang Goethe: Amtliche Schriften, Teil II (Frankfurter Ausgabe), Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 1009-1117.
5 Zur Geschichte der Literaturarchive in Österreich vgl.: Julia Danielczyk: Editionsunternehmungen oder hilfswissenschaftliche Institutionen? Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Literaturarchive (1878-1918). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), H 2, S. 102-144.
6 Zeitungen berichten regelmäßig über besonders spektakuläre Ankäufe. Dabei werden meist nur die Namen der betroffenen Autorinnen und Autoren und über die Preise, die sie erzielt haben, so etwas wie deren taxativer Wert im kulturellen Feld benannt. Aus der Summe, die bezahlt wurde, leitet sich – quasi von selbst – der Rang des jeweiligen Autors ab; das freut den einen und ärgert die anderen. Spezifische Inhalte von Vor- und Nachlassbeständen, Einschätzungen von Forschungsmöglichkeiten an den erworbenen Beständen oder eine Bewertung von Form und Funktion des modernen Archivs finden innerhalb solcher Debatten im Allgemeinen keine Berücksichtigung, vgl. aktuell: Alois Schöpf: Wenn Dichter nehmen. Über das Vorlasskartell. Essay, Innsbruck: Limbus 2014. Zur Praxis des Literaturarchivs auch: Ulrich Raulff: Nachlass und Nachleben. Literatur aus dem Archiv. In: Stéphanie Cudré-Mauroux/Irmgard Wirtz, Fußnote 3, S. 17-34.
7 Das Schreiben und das Schweigen. Die Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Dokumentation 90 min (2008), Regie: Carmen Tartarotti. Eine DVD-Edition des Filmes, der in zahlreichen Programmkinos gelaufen ist, ist bei Suhrkamp geplant.
8 Vgl. Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München: Oldenbourgh 2013 sowie Cornelia Vissmann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt/Main: Fischer 2011.
9 Vgl. das Gespräch, das Derrida mit prominenten Vertretern der critique génétique führte: Archive et brouillon. Une discussion avec Jacques Derrida. In: Michel Contat/Daniel Ferrer (Hg.): Pourquoi la critique génétique. Méthodes, théories, Paris: CNRS Editions 1998, S. 189-209.
10 Vgl. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, UTB Schönigh 1981.
11 Gespräch des Verf. mit Friederike Mayröcker in ihrer Wohnung, Februar 2014, auf Handyvideo aufgezeichnet.
12 Aus dem Kontinuum des Staubes gewinnt die amerikanische Historikerin Carolyn Steedman gegen postmoderne Einwendungen so etwas wie eine neue Erzählbarkeit von Geschichte und Möglichkeiten einer Geschichte des Staubes zurück, vgl. Carolyn Steedman: Dust. The Archive and Cultural History. Rutgers University Press 2001.
13 Der Sammelband Archivologie (hgg. von Knut Ebeling und Stephan Günzel, Berlin: Kadmos 2009) stellt Grundlagentexte zu Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten zusammen und trägt das berühmte Foucault-Zitat, um seinen Kontext verkürzt, groß auf der U4. Mit kulturwissenschaftlichen Implikationen vgl. aktuell auch die Sammelbände: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln: Dumont 2002 und Thomas Weitin/Burghardt Wolf: Gewalt der Archive, Konstanz 2012.
14 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur, hgg. von Martin Stingelin, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 234-270, S. 240.
15 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 37.
16 Die Formulierung stammt von Adorno: „In der Kunst ist der Unterschied zwischen der gemachten Sache und ihrer Genese, dem Machen, emphatisch: Kunstwerke sind das Gemachte, das mehr wurde als nur gemacht. Daran wird gerüttelt erst, seitdem Kunst sich als vergänglich erfährt. Die Verwechslung des Kunstwerks mit seiner Genese, so als wäre das Werden der Generalschlüssel zum Gewordenen, verursacht wesentlich die Kunstfremdheit der Kunstwissenschaft: denn Kunstwerke folgen ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genesis verzehren.“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973, S. 267)
17 Jacques Derrida: Genesen, Genealogien, Genres und die Geheimnisse des Archivs, Wien: Passagen 2003, S. 81. Zur Grundlegung seines Archiv-Begriffes: Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkmann + Bose 1997.
18 Derrida, Genesen (Fußnote 17), S. 82.
19 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption, Vortrag beim Symposium „Nachlassbewusstsein“, ungedrucktes Manuskript (erscheint im Sammelband, vgl. Fußnote 1).

Klaus Kastberger, Jahrgang 1963, ist Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker in Wien.

Quelle: Recherche 1/2014

Online seit: 30. Mai 2020

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