Wenn die Klugheit bei den Menschen wächst

Die eben abgeschlossene Vorsokratiker-Edition zeigt die ersten Philosophen in einem neuen Licht. Andreas Puff-Trojan im Gespräch mit der Herausgeberin M. Laura Gemelli Marciano.

Online seit: 10. Oktober 2019

RECHERCHE 2007 kam im Patmos Verlag der erste Band der Vorsokratiker-Ausgabe heraus. Jetzt ist die Ausgabe mit dem dritten Band abgeschlossen. Was waren die Hauptaufgaben – und die Hauptschwierigkeiten, die Sie zu bewältigen hatten?

LAURA GEMELLI MARCIANO Als mir der Verlag vorgeschlagen hat, eine Edition ausgewählter Texte der Vorsokratiker zu erstellen, die auch den interessierten Laien ansprechen sollte, habe ich ohne viel Zögern zugesagt. Denn es lag mir besonders am Herzen, die in diesen Schriften enthaltene tiefe Weisheit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, eine Weisheit, die ja zu den Wurzeln unserer westlichen Zivilisation führt. Ich war aber zugleich auch der Meinung, dass die Zeit reif sei, um unter den Akademikern eine fruchtbare Diskussion über die Voraussetzungen unserer modernen Interpretation der sogenannten Vorsokratiker anzuregen. Letzteres wäre aber erst dann erreicht worden, wenn ich in die Edition Methoden und Ergebnisse der neuesten Forschung detailliert mit einbezogen hätte. Die größte Schwierigkeit war also, beiden Erfordernissen im beschränkten Rahmen einer dreibändigen Edition zu genügen. Und die Auswahl des Wesentlichen hat mich viel Zeit gekostet – und auch viel Mühe.

RECHERCHE Der Begriff „Vorsokratiker“, beziehungsweise „vorsokratische Philosophie“, findet sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, im Fahrwasser der romantischen Idee vom sich entwickelnden „Volksgeist“. Auch Hegel ist dieser Idee nicht abgeneigt und deutet die griechische Philosophie seit ihren Anfängen – also „ante Socratem“ – dialektisch: als Geburt, das wäre These und Antithese bei den Vorsokratikern, und als Blüte, das wäre die Synthese mit Sokrates an der Spitze. Das ist durchaus ein evolutionäres Modell, das Sie allerdings ablehnen. Warum?

GEMELLI MARCIANO Das evolutionäre Modell beruht auf der Voraussetzung, dass es ein von spezifischen Raum-Zeit-Koordinaten unabhängiges, abstrahiertes „Denken“ gibt, das sich nach eigenen inneren Regeln entwickelt. Eine solche Auffassung muss notwendigerweise von den Besonderheiten der jeweiligen Individuen und vom pragmatischen Kontext, in dem sie ihre Gedichte beziehungsweise Prosaschriften verfasst und ihre Tätigkeit ausgeübt haben, absehen. Es ist aber undenkbar, solche Elemente zu vernachlässigen, weil sie für die Interpretation der archaischen und klassischen Texte von höchster Bedeutung sind. Denn diese Texte waren meist für eine bestimmte Gelegenheit gedacht und wurden einem Schüler oder einem breiteren Publikum mündlich vermittelt. Es gibt hier also ganz verschiedene Atmosphären und Kontexte. Empedokles etwa trat in Sizilien als Seher und Heiler auf und hat ein esoterisches Gedicht für einen einzigen Schüler verfasst. Anaxagoras hingegen stammt aus Ionien, dem heutigen Kleinasien, seine Schrift war eher ein Transkript eines öffentlichen Vortrages. Im Athen unter Perikles hat er dann seinen Ruf als Himmelsforscher – meteorologos –  erworben. Das evolutionäre Modell gibt hingegen eine homogenisierende Darstellung der „vorsokratischen Philosophie“, in der sich alle „Denker“ im neutralen Raum eines abstrakten „Griechentums“ in geordneter Reihenfolge anbieten, wobei sie mit den unmittelbaren Vorgängern höflich diskutieren und philosophische Probleme zu lösen versuchen. Eine solche Darstellung ist ferner durch das „klassizistische Bild“ des „Griechentums“ als Paradebeispiel für Rationalität stark geprägt, das ebenso auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurückgeht, und jede Beziehung zu den orientalischen Völkern ausschließt. Noch heute gibt es diese skeptische Haltung gegenüber orientalischen Einflüssen.

RECHERCHE Liest man in Ihrer Vorsokratiker-Ausgabe, so wird klar, dass die einzelnen Schriften manchmal mehr zur Poesie neigen, andere wieder in nüchterner Wissenschaftsprosa verfasst sind. Es gibt erhebliche Unterschiede in der Struktur und hinsichtlich der Adressaten. Vieles ist in schriftlicher Form niedergelegt, anderes wieder durch mündliche Überlieferung weitergegeben worden. Warum wurden all diese Unterschiede in den bislang vorliegenden Vorsokratiker-Ausgaben so stark homogenisiert?

GEMELLI MARCIANO Weil in der Forschung das evolutionäre Modell mit den entsprechenden Korollarien immer wieder unkritisch akzeptiert und verwendet wurde. Sein Erfolg lässt sich meiner Meinung nach vor allem durch seine ästhetische Anziehungskraft erklären: Unser Geist wird auf natürliche Weise von geordneten und einfach zu begreifenden Schemata  angezogen, weil er darin einen Spiegel seiner eigenen Eigenschaften sieht.

Die Dichotomie zwischen Mythos und Logos gründet im Wesentlichen auf einer Kategorisierung des späten 18. und des 19. Jahrhunderts.

RECHERCHE Bis heute kann man in Lehrbüchern zur Philosophie nachlesen, dass die Vorsokratiker – mit immerhin so unterschiedlichen Denkern wie Thales, Pythagoras, Parmenides oder Diogenes – eine weitgehend homogene Gruppe darstellten. Diese Ansicht ist nach der Lektüre Ihrer Vorsokratiker-Ausgabe kaum noch haltbar. Was aber ist das Band, das die Vorsokratiker zusammenhält?

GEMELLI MARCIANO Ich bin der Meinung, dass verallgemeinernde Definitionen, so bequem sie auch sein können, der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Doch wenn man unbedingt eine solche Definition haben will, die ganz verschiedene Erscheinungen umfassen soll, dann mag man auf einen Begriff zurückzugreifen, dem man im archaischen und klassischen Griechenland häufig begegnet: Die sogenannten „Vorsokratiker“ sind sophoi oder sophistai, weise Männer, die als Autoritäten nicht nur im Bereich der  theoretischen, sondern auch der praktischen Weisheit anerkannt werden.

RECHERCHE Vielleicht ist es ja eine romantische Idee, der wir noch heute nachhängen, nämlich dass die Vorsokratiker den Ursprung des abendländischen Denkens darstellen. Wie wahr, wie falsch ist diese Vorstellung?

GEMELLI MARCIANO Ich würde lieber vom „abendländischen Bewusstsein“ als vom „abendländischen Denken“ sprechen. Das Wort Bewusstsein weist auf eine tiefe und unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit hin, die nicht nur Denken, sondern auch Empfinden, Fühlen und Handeln umfasst. Weise Männer wie etwa Parmenides und Empedokles haben in dieser Hinsicht den Weg gezeigt. Ich habe den Eindruck, dass unser westlicher Geist gerade diese vollständigere Form der Erkenntnis zu entbehren hat.

RECHERCHE Auf welche philologischen Forschungen und auf welche Ausgaben zu den Vorsokratikern konnten Sie sich bei Ihrer Arbeit stützen?

GEMELLI MARCIANO Für jede Forschung beziehungsweise Edition der Vorsokratiker sind die Ausgabe und das gesamte Werk von Hermann Diels absolut unentbehrlich. Er ist sozusagen der „Vater“ dieser Studien. Da aber seine Edition und seine Forschung auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückgehen und inzwischen unzählige neue Studien über dieses Thema erschienen sind, habe ich die Ergebnisse der bisherigen Forschung in meiner Edition berücksichtigt und bin in vielerlei Hinsichten von der Diels’schen Interpretation abgewichen. Auch deswegen, weil sie durch das evolutionäre Modell und durch die damalige rationalistische Erklärung der Vorsokratiker als Wissenschaftler stark geprägt ist. Ich habe vor allem von zwei Gelehrten viele einleuchtende Interpretationen und Anregungen übernommen. Mein Lehrer Walter Burkert hat mich durch seine Schriften, aber auch in privaten Gesprächen gelehrt, wie fruchtbar für die Interpretation bestimmter Vorsokratiker der Vergleich mit orientalischen Texten sein kann. Peter Kingsley hat mir durch seine bahnbrechenden Interpretationen von Empedokles und Parmenides und durch seine brillante Erklärung schwieriger Passagen dieser Autoren viele Anregungen, aber auch vor allem den Mut gegeben, meine Intuitionen in einen kohärenten Zusammenhang einzuordnen und zum Ausdruck zu bringen.

RECHERCHE In Ihrer Ausgabe gibt es Aussagen, die direkt von den einzelnen Vorsokratikern stammen. Es gibt aber auch Gedanken, die indirekt von anderen Autoren in deren Werken angeführt werden. Inwieweit ist etwa Diogenes Laertius, Plutarch, aber natürlich auch Platon/Sokrates und Aristoteles zu trauen, wenn sie Meinungen der Vorsokratiker wiedergeben?

GEMELLI MARCIANO Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten, weil das Problem der Überlieferungsgeschichte sehr komplex ist. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung, bin ich überzeugt, dass kein Autor im Allgemeinen „glaubwürdiger“ als der andere ist. Auch die direkte Kenntnis der Originale ist keine Garantie für einen zuverlässigen Bericht. Statt von Autoren ist es meiner Meinung nach richtiger, von Texten und statt von „Glaubwürdigkeit“ von „Verwendbarkeit“ der jeweiligen Berichte zur Wiederherstellung der originalen Meinung zu sprechen. Um den Grad seiner Verwendbarkeit feststellen zu können, muss man jedes indirekte Zeugnis von verschiedenen Gesichtspunkten aus überprüfen. In erster Linie muss man die allgemeinen theoretischen Voraussetzungen des entsprechenden Autors kennen, der die Meinung wiedergibt, und die Art und Weise, wie er über die Ansichten der Vorgänger berichtet. Danach muss man berücksichtigen, in welchem Kontext und zu welchem Ziel er diese Meinungen angeführt hat. Erst dadurch kann man bestimmen, in welchem Umfang der Autor an der entsprechenden Stelle die ursprüngliche Meinung uminterpretiert hat.

RECHERCHE Die Trennung zwischen Mythos und Logos ist für uns eine klare Errungenschaft der griechischen Philosophie. Nun zeigen Sie aber, dass diese Unterscheidung bei den Vorsokratikern gar nicht so gemacht wurde. Mythos und Logos meinen beinahe unterschiedslos „Erzählungen“, die mehr oder weniger glaubwürdig sind. Hat diese Einsicht Auswirkungen auf die Philosophiegeschichte? Sind die Vorsokratiker überhaupt „Philosophen“?

GEMELLI MARCIANO Die Dichotomie zwischen Mythos und Logos gründet im Wesentlichen auf einer Kategorisierung des späten 18. und dann des 19. Jahrhunderts, die im Mythos eine Form von „vor-logischem“ Denken sahen, das charakteristisch für eine Kultur im Ursprungsstadium sei. An dieser Auffassung sind wiederum die aristotelischen Modelle nicht unbeteiligt. Im ersten Buch der Metaphysik scheidet Aristoteles die Dichter und die sogenannten Theologen von den Philosophen. Die Beschäftigung mit den Ersteren lohne sich nicht, weil Dichter und Theologen auf „mythische“ Weise zweifelhafte Überlegungen anstellten. Hingegen seien die Theorien der Philosophen wertvoll, da sie „Beweise“ verwendeten. Von diesen Voraussetzungen rührt das Bild her, das Aristoteles und sein Schüler Theo-phrast von den „ersten Philosophen“ gezeichnet haben. Denn sie haben deren Lehren in einer Form dargestellt, die gerade zu einer Beweis-Methode passt, indem sie etwaige „Lücken“ mit eigener Beweisführung gefüllt haben. Dass die Vorsokratiker Philosophen im aristotelischen Sinne sind, lässt sich deshalb mit guten Gründen bezweifeln.

RECHERCHE Was so manchen Vorsokratiker von der gängigen Vorstellung eines „Philosophen“ trennt, ist auch folgendes: Parmenides ist nicht nur physikos, also Naturphilosoph, sondern auch „Arzt“ und als dieser wiederum Arzt-Seher, der mit den Göttern in Verbindung steht. Der vornehme Empedokles ist Naturphilosoph, man sagt er sei der Heilkunst mächtig, aber auch der Magie. Hier sieht man, dass nicht nur keine Trennung zwischen Mythos und Logos vollzogen wird, sondern auch keine zwischen Philosophie, Heilkunst und magischem Sehertum. Wie dürfen wir diese, für uns unscharfe Auffassung von Philosophie verstehen?

GEMELLI MARCIANO Unser Begriff von Philosophie ist, wie schon gesagt, durch die aristotelische Auffassung des Philosophen als eines spekulativen Denkers beeinflusst, der durch logisch artikulierte Beweise argumentiert. Eine solche Figur exis-tiert aber im 6. und 5. Jahrhundert vor Christi kaum. Philosophos ist der, der die sophia liebt, wobei sophia zu dieser Zeit zugleich das theoretische Wissen und die praktische Fähigkeit im eigenen spezifischen Bereich bezeichnet. Ein geschickter Heiler ist ein ieter sophos bei Homer, sophoi sind aber auch gewandte Dichter und tüchtige Handwerker. Bezeichnenderweise scheint das Wort philosophos zuerst bei Pythagoras angewendet worden zu sein, der sein ungewöhnliches Wissen in die Tat umsetzt: Er vollbringt Wundertaten, und er begründet eine Lebensweise, die auf die Einhaltung bestimmter religiöser und ethischer Vorschriften angewiesen ist. Seine Gelehrsamkeit dient nicht als Selbstzweck, sondern ist als Hilfe für die Gemeinschaft, ja, für die Menschen ganz allgemein gedacht.

Die Überlieferung der sogenannten Vorsokratiker von Platon und Aristoteles an ist durch mehrere „Vatermörder“ charakterisiert.

RECHERCHE Wer zum ersten Mal die Vorsokratiker liest, aber schon mit Platon/Sokrates und Aristoteles vertraut ist, wird in einem Punkt verblüfft sein. Alle Vorsokratiker sind Naturphilosophen, schreiben „Über die Natur“. Natürlich gibt es auch Textstellen zur Ethik und zum Staatswesen, aber nicht in einem solchen Maß wie bei Platon/Sokrates. Was hat es mit der Dominanz der Naturphilosophie bei den Vorsokratikern auf sich?

GEMELLI MARCIANO Auch die Auffassung, dass die sogenannten Vorsokratiker sich ausschließlich mit der Natur beschäftigen, gehört zu den Stereotypen, die von den platonischen, beziehungsweise aristotelischen Darstellungen herrühren. Platon will seinen Lehrer Sokrates von den sogenannten Meteorologen deutlich trennen, die sich mit den Naturerscheinungen beschäftigten und die der Durchschnittsathener gerne mit den sogenannten magoi vermischte, welche die Herrschaft über die Natur für sich beanspruchten. Die Beschäftigung mit den „Dingen im Himmel“, wie man damals sagte, galt deshalb in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts vor Christus als verdächtig und unfromm. Dem Typus des Meteorologen entspricht vor allem Anaxagoras, der sich ausschließlich mit der Natur beschäftigt hat. Für andere Vorsokratiker gilt das aber nicht. Empedokles’ exoterisches Gedicht „Reinigungen“ verfolgt ein ethisch-religiöses Ziel, nämlich die Reinigung der Seele zum Zweck einer Initiation. Das sogenannte „Naturgedicht“ zielt letzten Endes darauf ab, den Schüler zur Anerkennung seiner Göttlichkeit zu bringen, damit er selbst in der Welt als Seher-Heiler wirken kann. Hierbei fällt die Kenntnis der Natur mit der von den Götter-Elementen und den göttlichen Kräften zusammen, die den Naturerscheinungen zugrunde liegen. Es handelt sich also um kein theoretisches Unternehmen, das zur Erkenntnis der Natur schlechthin führt, sondern um eine praktische Lehre, die die direkte Erfahrung des Göttlichen im Rahmen eines Initiationsprozesses bewirken soll. Bei Demokrit kann man sehen, dass die Erklärung der Naturerscheinungen nur ein Teil seiner riesigen Bücherproduktion darstellt. Die Titel seiner Schriften umfassen alle Gebiete des damaligen Wissens: von der Medizin zum Landbau, von der Mathematik zur Kriegskunst und so weiter. Und zu seinen ethischen Schriften gehört sogar ein Werk über die Dinge im Hades. Die Vorstellung, dass sich die Vorsokratiker besonders mit der Natur befasst haben, entspricht also nicht genau den Tatsachen.

RECHERCHE Platon/Sokrates und Aristoteles haben sich immer wieder auf die Vorsokratiker berufen, obwohl ihre Philosophie meist andere Wege geht. Weswegen gab es diese starke Bezugnahme?

GEMELLI MARCIANO Weder Platon noch Aristoteles sind aus dem Nichts entstanden. Vor ihnen hat es vor allem bei den Sophisten eine Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit den Texten der früheren Dichter und Weisen gegeben. Die Sophisten stilisierten sich als die neuen Erzieher, die die alten Weisen und Dichter ersetzen müssten. Sie stützten sich oft für ihren Unterricht auf eine Auswahl schriftlicher Texte, Passagen aus früheren Schriften, die sie aus ihrem Kontext herausgerissen und neu zusammengestellt haben und jeweils als getrennte Aussage interpretierten. Dies hat zu einer „Anthologisierung“ der früheren Weisheit geführt. Hippias hat in einer Schrift die Meinungen der Vorgänger, Dichter und Weisen, über einzelne von ihm festgesetzte Themen gesammelt und sie unter bestimmten Stichwörtern eingeordnet. Es existiert also vor Platon und Aristoteles eine Tradition der Aneignung und entsprechenden Umdeutung von Texten, die vor allem auf der schriftlichen Überlieferung basiert und eben nicht auf der mündlichen direkten Vermittlung vom Lehrer zum Schüler oder vom Redner zum Publikum. Somit werden natürlich die Interpretationsmöglichkeiten eines Textes beziehungsweise einer Passage erweitert, aber zugleich wird auch der Weg zu Verzerrungen und Umdeutungen geebnet, wie es Platon im Phaidros ganz deutlich gesehen hat. In diesem Buch ist der Vater abwesend und kann sich nicht verteidigen. Die Auseinandersetzung mit den Vorgängern bei Platon und Aristoteles steht mit dieser früheren hermeneutischen Tradition im Einklang und ist auch wie früher bei den Sophisten ein Mittel, um die eigene Überlegenheit als Lehrer und Erzieher zu beweisen: Sie erkennen zwar die Autorität der alten, berühmten Weisen an, wollen sich aber zugleich von ihrem Schatten befreien. So haben sie zu ihnen dieselbe Beziehung wie Kinder zu Vätern: Sie brauchen den Vater um wachsen zu können, aber sobald sie gewachsen sind, haben sie das Bedürfnis, den Vater zu töten – wie es Platon mit Parmenides im Sophistes eigentlich gemacht hat. Die Überlieferung der sogenannten Vorsokratiker von Platon und Aristoteles an ist durch mehrere „Vatermörder“ charakterisiert.

RECHERCHE Empedokles schreibt: „Denn in Bezug auf das Gegenwärtige wächst die Klugheit bei den Menschen.“ – Welche Art von philosophischer Klugheit bieten die Vorsokratiker heutigen Lesern?

GEMELLI MARCIANO Ich habe mit „Klugheit“ ein schwierig zu übersetzendes griechisches Wort wiedergegeben, nämlich metis. Metis bezeichnet eine besondere Klugheit, die ermöglicht, Schwierigkeiten jeder Art zu überwinden, weil sie jeweils den richtigen Zeitpunkt, den kairos, zum Handeln und zum Sprechen zu erfassen vermag. Metis erwirbt man aber weder durch rein theoretisches Lernen noch in kurzer Zeit. Denn sie setzt nicht nur Wissen voraus, sondern vor allem eine entwickelte Empfindung selbst für das Kleinste und scheinbar Unbedeutendste. Sie kann erst nach langer Lehrzeit und durchs Üben der Sinneswahrnehmungen und Erfahrung erworben werden. Diese besondere Klugheit – die Kunst des Lebens, die im Einklang mit der Natur und mit sich selbst steht – ist das schönste Geschenk, das die alten Weisen dem modernen Menschen hinterlassen haben.

M. Laura Gemelli Marciano studierte klassische Philologie, Indogermanistik, antike Philosophie und italienische Literatur an der Universität Genua. 1988 promovierte sie an der Universität Zürich, wurde Assistentin am klassisch-philologischen Seminar und ab 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Walter Burkert. 1996 erfolgte die Habilitation. Seit 2006 ist M. Laura Gemelli Marciano Titularprofessorin für Klassische Philologie an der Universität Zürich.

Quelle: Recherche 1/2010

Online seit: 10. Oktober 2019

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