Die unzähligen Gesichter der Schlachtfeld-Dynamik

Der Grabenkrieg als Überlebens-Experiment – mit dem Ersten Weltkrieg wird die Kriegführung zu einer umfassend von Wissenschaft und Technologie gestützten Angelegenheit. Von Lutz Musner

Online seit: 15. November 2019

Als einer, der von den Material Culture Studies kommt und ein Neuling auf dem Gebiet der War Studies ist,1 war ich beeindruckt von einem Zitat der französischen Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker, die schrieben: „Es ist erstaunlich, wie abgeschnitten Historiker, auch wenn sie behaupten, den Krieg zu behandeln, von ganzen Gebieten dafür notwendigen Wissens sind. Waffen zum Beispiel – wie sie verwendet werden, funktionieren, welche Wirkung sie erzielen, das liegt außerhalb der Kompetenz vieler von ihnen …“2

Mein Vortrag versucht, diesen blinden Fleck zu umgehen und sich auf die materielle, geografische und technologische Dimension des Krieges zu konzentrieren. Dabei werde ich thematisieren, inwiefern neue Waffen und die physische Materialität der Gräben und Frontlinien die Selbstwahrnehmung der Soldaten beeinflusst haben, so dass sie nicht nur überleben, sondern die Massenschlachtungen eine unvorstellbar lange Zeit ertragen konnten. Die gängige Betrachtung des Ersten Weltkriegs ist stark geprägt von einem dunkel gefärbten Bild der Westfront, das für die Sinnlosigkeit des Krieges steht und unfähige Generäle anklagt, ihre Männer vorsätzlich zu opfern. Wie ich später darlegen werde, ist die Sache sehr viel komplizierter, und der Erste Weltkrieg kann, trotz der vielen Verluste und Opfer, als gewaltiges, wenn auch nicht geplantes, und selbstverständlich äußerst kostspieliges „Experiment“ verstanden werden. Ein Experiment, wie man moderne Waffen, etwa Maschinengewehre oder tragbare Minenwerfer, auf neue Weise mit ausgeklügelter Angriffstaktik koordiniert und wie man die technischen Herausforderungen der Kartografie, Meteorologie und Ballistik nützt für eine präzisere Einschätzung der Besonderheiten des Schlachtfeldes. So wurde die Kriegsführung zum ersten Mal eine von Wissenschaft und Technologie gestützte Angelegenheit.

Der Vortrag besteht aus drei Teilen. Zuerst werde ich die Kampfzonen im Westen mit denen vergleichen, die sich über das schroffe Kalkplateau über dem Isonzo ziehen, und dabei entscheidende Faktoren der Dynamik auf Schlachtfeldern deutlich machen wie die komplexen Wechselwirkungen von Geografie, Geologie, Technologie und Taktik. Während Frontkämpfer im Westen die Geomorphologie weniger fürchteten als die Artillerie, waren die Soldaten im Zermürbungskrieg im Karst weit stärker paralysiert von herabstürzenden Felsbrocken, hervorgerufen durch massives Bombardement der zerklüfteten Landschaft. Als nächstes werde ich die Militärgeschichte mit den Erkenntnissen der Science Technology Studies noch einmal lesen, um besser zu verstehen, wie raffiniert die (automatischen) Waffen die Köpfe und Körper der Frontsoldaten veränderten. Drittens werde ich auf die Entstehung des dreidimensionalen Schlachtfelds hinweisen, das durch bessere Koordinierung der verschiedenen Truppenteile am Boden und in der Luft entsteht. Bei der Skizzierung dieser neuen Konstellation wird die herkömmliche Makro-Perspektive eines großräumig statischen Konflikts relativiert und die Notwendigkeit flexibel gestalteter Angriffs-/Verteidigungstaktiken und neuer Konzepte des Kampfraums sowie die Mobilität der militärischen Verbände unterstrichen.

Bei einem Angriff auf den niedrigen Lehmhügel bei St. Eloi mussten die Angreifer ausgestreckt liegen und ihr Gewicht verteilen, um zu verhindern, dass sie im Morast versanken.

Henri Barbusse war einer der ersten französischen Kriegsteilnehmer und erzählte 1916 von den Schrecken an der Westfront, so wie es Erich Maria Remarque für das deutsche Publikum mehr als ein Jahrzehnt später tat. Auch wenn Das Feuer3 in erster Linie ein meisterhaftes Stück Literatur ist, gilt dieser Roman ebenso als berührender Zeugenbericht darüber, was es heißt, Gefangener im sich kontinuierlich ausbreitenden Inferno an der Westfront zu sein. Barbusse richtet die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine fremdartige Welt, wo endlose Felder durchzogen sind von Gräben, darauf Haufen von zerfetztem Stacheldraht, zerschmetterten Holz- und Stahlstücken, übersät mit unzähligen Granattrichtern. Doch mehr als das andauernde Bombardement und Gewehrfeuer fürchtete der französische „Poilu“ eine Landschaft, die durch eine unheimliche Konvergenz von Technologie und rauer Wetterlage zu einer albtraumhaften grauen Szenerie aus Schlamm und überfluteten Gruben wurde, in denen die Soldaten ertranken oder lebendig begraben wurden. Was die Westfront bestimmte, war nicht nur der plötzliche Wechsel von einem Bewegungskrieg zu einem Grabenkrieg, sondern ebenso geologische Besonderheiten wie Lehm und zähe, weiche Böden.

Der Schlamm Flanderns wurde ein berüchtigtes Kampfgebiet mit der ihm eigenen Logik und Dynamik von Kampf und Überleben. Die Wirkung des Artilleriefeuers war außerordentlich reduziert, wenn Granaten im klebrigen Lehm explodierten. Aber die Trichter füllten sich schnell mit Wasser, das nicht abfließen konnte, und der zähe Boden verlangsamte erheblich den Angriff der Truppen, für die die Bombardierung eine sie unterstützende Vorbereitung sein sollte. Ebenso behindert war der Transport von Nachschub, schweren Waffen und Munition, die Verstärkung der Truppen blieb in den Mooren des Hinterlands stecken, was ihre Kameraden an der Front zwang, ihre schon eroberten Positionen zu verlassen. Großangriffe waren gefürchtet, seit die Soldaten große Schwierigkeiten hatten, aus ihren rutschigen Gräben zu kommen, und ihr später Vorstoß auf dem ihnen Widerstand bietenden Grund gab den Deutschen reichlich Möglichkeit, eine Vielzahl von ihnen mit Maschinengewehren zu erschießen. Wie die amerikanischen Militärgeografen Douglas Wilson Johnson und Tasker H. Bliss bemerkten:

„Die Gewehre waren so verschmiert, dass nicht mehr geschossen werden konnte, und wenn sie in Stoff gewickelt wurden, um den Mechanismus sauber zu halten, waren sie nicht zum sofortigen Einsatz bereit. Die Verwundeten lagen halb begraben im Schlamm, viele wurden erstickt. Auch die guten und starken Kämpfer wurden in tödlichen Schlammfallen gefangen (…). Bei einem britischen Angriff auf den niedrigen Lehmhügel bei St. Eloi im April 1916 mussten die Angreifer ausgestreckt liegen und ihr Gewicht gleichmäßig verteilen, um zu verhindern, dass sie in den Morast sinken. Doch eine große Zahl der Männer versank und erstickte.“4

Es kostete die kriegführenden Mächte an der Westfront reichlich Zeit und große technische Anstrengungen, mit den geologischen Formationen umzugehen, die vorteilhaft für die Landwirtschaft gewesen sein mochten, aber einen verheerenden Einfluss auf die tägliche Kriegsführung hatten. Wasser, flüssiger Lehm und sintflutartige Regenfälle in Schützenlöchern und Gruben machten das Leben unerträglich, und Krankheiten wie der berüchtigte „Grabenfuß“, hervorgerufen durch langes Ausharren im kalten Schlamm, oder Ruhr, verursacht durch verschmutztes Wasser, schwächten Moral und Kampfstärke der Truppen auf beiden Seiten erheblich. Nur wenn bessere Verschanzungen errichtet wurden, die es den Soldaten mittels eines Holzbodens ersparten, bis zu den Knien oder sogar bis zur Taille im Wasser zu stehen, nur wenn ein ausgeklügeltes Entwässerungssystem mit Entwässerungsrohren konstruiert wurde, konnte der Frontdienst einigermaßen ertragen werden.

Ausgeklügelte Technologien übertragen ihre verborgenen Programme auf menschliches Handeln.

An der Karstfront, einem eher kleinen Sektor der österreichisch-italienischen Südwestfront am Isonzo, waren die geografischen Bedingungen für die Soldaten erheblich anders. Da war kein lehmiger oder kreidiger Boden, der die Logik des Krieges vorgab und das Kampffeld prägte, kein Schlamm bzw. zäher, klebriger Boden, der die Soldaten in Gefahr brachte erdrückt oder erstickt zu werden. Es waren eher messerscharfe Splitter, durch die die Kämpfer getötet wurden, wenn Granaten auf dem steinigen Kalk explodierten. Der italienische Verbindungsoffizier zum britischen Oberkommando, Colonel Filippo De Filippi, beschrieb den Krieg in diesem tückischen Hochland, bedeckt mit karger Vegetation, als wahrhaft höllische Erfahrung:

„Sie haben oft vom ,Carso Maledetto‘ gehört oder gelesen, wo Gräben und Schutzräume in den harten Stein gehauen werden müssen. Er ist ein großer Friedhof für unsere Männer geworden, ein noch größerer für die Österreicher: ein Friedhof ohne Toten. Der felsige Boden lässt nicht zu, dass man Gräber anlegt, und die Toten müssen Seite an Seite mit den Verwundeten ins Tal gebracht werden, um am Fuße des Plateaus einen Ruheplatz zu finden. (…) Die Wirkung der feindlichen Granaten, die auf diesem felsigen Grund explodierten, war in höchstem Maße tödlich wegen der unzähligen Steinsplitter, die die Wirkung der Projektile vervielfachten.“5

Im Vergleich zu den Schlachtfeldern an der Westfront, die sich vorwiegend über schlammige Hügel, Lehm und weichen Boden erstreckten, wurden die Schlachten am Isonzo überwiegend auf diesem verdammten, flachen Plateau geschlagen, einer trockenen, windgepeitschten Wüste von ungefähr fünfzig Quadratkilometern zwischen Gorizia, Monfalcone und der Adria in der Nähe von Rainer Maria Rilkes romantischem Fischerdorf Duino. Die österreichisch-italienische Front unterschied sich von anderen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in manchen wichtigen Punkten. Sie erstreckte sich vom gletscherbedeckten Gipfel des Ortler, dem Monte Adamello und den Dolomiten zu den karnischen Alpen und schließlich hin zur italienischen Ostfront mit dem Karstplateau als Gravitationszentrum der Schlachten. Auch wenn die Kämpfe in den Dolomiten berüchtigt waren wegen der schrecklichen Verbindung von Lawinen und Minenexplosionen, die ganze Befestigungsanlagen auf dem Berg in die Luft jagten, war es doch besonders dieses Ödland und seine Standorte Monte San Michele, Doberdò und Monte Hermada, die wegen der verbissenen und endlosen Materialschlachten schnell einen angsteinflößenden Ruf bekamen. Zum Albtraum der mechanisierten Kriegsführung, leichter realisiert in Ebenen und auf Hügeln als in den Bergen, waren Truppen auf beiden Seiten drastischen Wetterbedingungen ausgesetzt: heißen Sommern in einer wasserlosen Wüste voller Granattrichter, zertrümmerter Gräben, nicht explodierter Granaten und zerfetztem Stacheldraht, und im Winter wurden die Soldaten hin- und hergeschleudert von der Bora, einem grimmig-kaltem Wind, der das Schlachtfeld in eine sturmgepeitschte Landschaft aus Eis und Schnee verwandelte. Ein berührender Augenzeugenbericht darüber, wie nervenzermürbend das Kämpfen besonders im Doberdò-Gebiet war, sind die Memoiren von Joseph Gál, der als ungarischer Honvéd-Infanterist in der 6. Isonzoschlacht im August 1916 diente. In seinem Buch In Death’s Fortress schrieb Gál:

„Es ist nun der zehnte Tag, an dem wir untätig die nerventötenden Explosionen der Artilleriefeuer hören. Die Granaten haben die ganze Gegend verwüstet, sie haben uns eine richtige Hölle bereitet. Wie Ratten zwischen den Ruinen laufen wir von einem Platz zum anderen. Ohne darauf zu achten, wo wir uns verstecken, springen wir in der nächsten Sekunde zwischen den Ruinen hervor wie ängstliche Hasen, begleitet vom Todesröcheln unserer schwerst verwundeten Kameraden (…). Jede einzelne Minute des Tages rennen wir hierhin und dorthin wie umherirrende Seelen oder wir drängen uns zu einem blutigen Felsstück, damit wir etwas Schutz finden. Das ist eine unbeschreibliche Folter.“6

Das komplexe Ineinandergreifen von Technologie, Geologie und Truppenkonzentration brachte eine neue Form der Kriegslandschaft im Karst hervor, die buchstäblich Mensch und Stein vereinte. Der österreichische Stabsoffizier Constantin Schneider schrieb in seinen Memoiren, dass Menschen einfach wie Steine behandelt wurden und beide – Menschen und Steine – verbunden zu etwas, das man eine „Befestigung“ nennen konnte. Hinter diesen Felsen lagen Menschen, bewachten sie und ließen es mehr oder weniger passiv geschehen, dass sie von und durch diese Felsen zerschmettert wurden.7 Schneiders Bemerkungen unterstreichen einmal mehr, wie unterschiedlich Interaktion und Dynamik von Geologie, Technologie und Kriegsführung im Westen und an der italienischen Front waren. Soldaten im Westen mussten Wege finden, besser mit Schlamm, blockierter Mobilität und tödlichem Artilleriefeuer fertig zu werden, und Wege, die Pattstellung mit einer neuen, flexiblen Angriffstaktik aufzuheben. Soldaten im Karst mussten Wege finden, sich wirkungsvoller gegen die tödliche Mischung von hochgeschleuderten Felsbrocken und Granatensplittern zu schützen, und Wege, den geologisch bedingten Nachteil zu einem Vorteil der Verteidigungstaktik zu machen. Berichten zufolge sagte einer der österreichischen Verteidiger: „Wir müssen ein Terrain halten, befestigt von der Natur.“8

Um die Entwicklung des Stellungskriegs an beiden Schauplätzen besser zu verstehen, kann es lohnend sein, die Militärgeschichte mit den Erkenntnissen der STS-Science Technology Studies noch einmal zu lesen. Dieser Entwicklungsprozess war nicht nur Folge eines gewaltsamen „rite de passage“, wie Eric Leed9 analysiert hat, sondern auch die Konsequenz eines vollkommen neuen Zusammenspiels von Mensch, Maschine und Landschaft. In meinen Augen ist diese wechselseitige Dynamik von Subjektivität, automatischen Waffen und Kriegslandschaften bei Wissenschaftlern wie Bruno Latour10 und Stephen Woolgar adäquat dargelegt worden, um die Laborprozesse zu verstehen. Auch wenn ihre primären Forschungsobjekte biologische, physikalische und chemische Artefakte mit einigen Bezügen zu größeren soziotechnischen Kontexten waren, kann man ihr analytisches Besteck für das Studium der modernen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Kriegsführung verwenden. Grosso modo betrachtet STS menschliche Akteure als dynamischen Faktor innerhalb eines Netzes von materiellen „Aktanten“, technologischen Geräten und wissenschaftlichen Tatsachen. Nichts davon ist eine festgelegte Größe, aber alle Größen treten in Beziehung miteinander und werden in Prozessen von Veränderung, Übertragung und Verwandlung durchmischt. Doch Menschen bleiben nicht klar getrennt von der Welt der Dinge, im Gegenteil: durch wissenschaftlich fundierte Innovationen werden subjektive Kompetenzen auf materielle Dinge übertragen, und umgekehrt übertragen ausgeklügelte Technologien ihre verborgenen Programme auf menschliches Handeln, so werden unheimliche menschliche Hybride und Kampfmittel erschaffen. Wenn Maschinengewehre bis zu 500 Schuss pro Minute abfeuern können und eine schwere Mörsergranate ein halbes Regiment auf einmal töten kann, durch ihre Explosionskraft und die unzähligen Stahl- und Felssplitter, dann ist ein neues Universum, eine neue Epistemologie des Krieges geschaffen. Dieses neue Universum des Krieges beinhaltet die völlige Abhängigkeit der Soldaten von einer technologischen Zerstörungskraft, die jenseits ihrer Kontrolle, ihres Verständnisses ist und sie zu Passivität verdammt, zu zufälligen Strategien des Überlebens und einer fatalistischen Weltsicht in den Gräben. Die neue Epistemologie des Krieges ließ Systeme durch Rückmeldungen entstandener technologischer Entwicklung entstehen, angewandte Wissenschaften, rationellere Produktionsformen, Waffenlogistik und Taktik. So können zum Beispiel Maschinengewehre und ihre Schützen nicht adäquat als singuläre Einheiten betrachtet werden, sondern als Akteure innerhalb eines Netzwerks von Maschinen, Schützen, Einheiten zur Versorgung und Instandsetzung, Transportsystemen, von Ingenieuren berechneten, verbesserten Methoden der Schusstechnik und spezialisierten Befehlen, die wissenschaftlich gestützte Kenntnisse von fotografischer Überwachung, mathematischer Ballistik und drahtloser Kommunikation einbezogen. In der Folge schufen die grobe Unterteilung der Arbeit in der mechanisierten Massentötung am Isonzo, der Widerspruch zwischen rationalisierter Kampflogik und individuellem Nicht-Verstehen, das enge Wechselspiel von realen und imaginierten Schlachten und das Sich-Überlappen von realen Zielen und ihrer abstrakten Repräsentation, wie etwa Aufklärungsbilder aus der Luft, eine schizophrene Erfahrung des Krieges. Die „Graben-Schizophrenie“ trennte Zwischenfälle von deren Ursachen, Ereignisse von Erzählungen und rissige Nerven von Körpern. Die Materialschlacht im Karst bevorzugte einen Ernst-Jünger-Typ des Kriegers, den Erfordernissen mechanischer Präzision vollkommen angepasst, kühlen Kopf bewahrend und mit zielgerichteter Aggression; kurz er begünstigte Sturmtruppen voller Kühnheit. Die Geografie des Schlachtfeldes ist kein beliebiges Moment innerhalb der umfassenden Hybridisierung von Menschen und Tötungsmaschinen, wie sie in zunehmender Intensität stattfand. Die Geografie repräsentiert eher, wie der Unterschied zwischen der westlichen und der italienischen Front zeigt, einen zentralen Faktor. Geografische Bedingungen haben die Soldaten ebenso verändert wie neue Waffen, und die Techno-Materialität der Kriegslandschaft wurde zu einem entscheidenden Moment der Dynamik des Schlachtfelds.

Der Widerspruch zwischen rationalisierter Kampflogik und individuellem Nicht-Verstehen schuf eine schizophrene Erfahrung des Krieges.

Aber diese neue Epistemologie des Krieges implizierte nicht umfassende und langanhaltende Passivität oder Stillstand. Kämpfer, Stabsoffiziere, Techniker, Experten in verschiedenen Abteilungen der Überwachung, Meteorologie, Geologie, Ballistik, Kommunikation etc. begannen zu lernen, wie man einen Krieg rationeller führt, sozusagen wissenschaftlicher. Passivität traf so auf Bemühungen, die Soldaten in Industrie-Krieger zu verwandeln, daran gewöhnt, die Waffen als eine „organische“ Verlängerung ihrer Sinne und Körper zu betrachten. Besonders die Zermürbungskriege 1916 brachten neue Taktiken hervor, leichtere und besser transportierbare Waffen wie den britischen Stokes-Mörser oder die leichtere Version des schweren österreichischen Maschinengewehrs Schwarzlose. Die unschätzbare Kampferfahrung der überlebenden älteren Soldaten, trial-and-error-Experimente von Jagdkommandos, die Handgranaten benutzten, Flammenwerfer und flexible Angriffstaktiken, eine flachere Hierarchie innerhalb der Einheiten an der Front, Feuerwalzen und die Bildung von Stoßtrupps veränderten so Charakter und Logik der Dynamik des Schlachtfeldes.

Im Karst begannen die Österreicher zum Beispiel, die geologischen Besonderheiten der Kalklandschaft wissenschaftlich zu verwerten, indem sie natürliche Höhlen, Karstlöcher und Dolinen als integralen Bestandteil ihres Graben-Systems verwendeten, die Spalten mit Stahl und Beton verstärkten und eine flexible Verteidigungsstrategie gegen die Übermacht der italienischen Kräfte entwickelten. Statt Maschinengewehre nur als Ergänzung der Feuerkraft der Infanterie zu verwenden, waren die Maschinengewehre Schwarzlose nun gut verankert und taktisch gut positioniert, um Massen von Gegnern niederzumähen, während die spärliche Unterstützung der Artillerie gewöhnlich darin bestand, den stark geschwächten Feind zurückzuschlagen. Die neue Strategie beinhaltete auch, dass die italienischen Attacken sofort von Sturmtruppen zurückgeschlagen wurden, die verlorenes Terrain besetzten und es für reguläre Einheiten vorbereiteten, damit sie weiteren Kämpfen standhalten und die Linie verteidigen konnten. Und in der 12. Isonzoschlacht konnten die österreichisch-ungarischen Kräfte mit entscheidender Unterstützung der deutschen Truppen den schrecklichen Stillstand, der sie nahe an den militärischen Zusammenbruch gebracht hatte, in einen Bewegungskrieg verwandeln, sie errangen einen überraschenden Sieg in Caporetto und drangen schnell ins Herz Norditaliens vor, bis zum Piave. Vorbedingungen für diesen – wie wir wissen – nur kurzzeitigen Erfolg waren der getarnte Aufmarsch einer großen Anzahl von Truppen, der unbarmherzige Einsatz von Giftgas, das Umgehen stark befestigter italienischer Stellungen am Berg und die Verwendung besserer Kommunikationsmittel, die flexible Manöver und Überraschungsangriffe ermöglichten, so wie Erwin Rommels Erstürmung des Matajur.

Nach den blutigen und kostspieligen Schlachten in Verdun und an der Somme wurde die Westfront ebenfalls ein Laboratorium für neue Taktiken, strategische Nutzung der Geographie und die Verwendung effektiverer Angriffstechniken. Zwei entscheidende technologische Neuerungen trugen dazu bei: die Erfindung und Entwicklung selbstzündender Handgranaten und der schnellfeuernde Stokes-Infanterie-Mörser. Während die Mills-Granate zunächst ausschließlich spezialisierte Sprengkommandos benutzten, wurde sie später eine gewöhnliche Infanterie-Waffe, mehr als zehn Millionen wurden eingesetzt. Sichere Handgranaten und leichte, tragbare Mörser ermöglichten zusammen mit der leichten Lewis Gun weit mehr flexible Attacken, taktische Rückzüge und neuerliche Angriffe auf die feindlichen Positionen. 1917 war das Ziel der Bombardierungen nicht primär, den Feind sofort zu eliminieren, sondern ihn in eine Zone zu treiben, wo die Briten deutsche Truppen mit leichten Waffen töten konnten, Maschinengewehren und präzise funktionierenden Stokes-Mörsern. Oft waren Stokes-Batterien Teil größerer Arrangements, in denen Jagdkommandos mit leichten Waffen und fixe Einheiten im Hintergrund geschickt koordiniert waren mit schwerer Artillerie, die zu dem Zeitpunkt Luftaufnahmen und drahtlose Kommunikation effektiv einsetzte. Ende 1917 konnte sich die britische Artillerie auf ausgeklügelte Ballistik verlassen, die das Gewicht der Granaten einberechnete, Mündungsgeschwindigkeit, Lufttemperatur, Präzision des Laufs, was es den Schützen ermöglichte, Ziele genau zu treffen, auch in den hintersten Reihen der deutschen Frontlinien. Der vielleicht wichtigste Aspekt in der Entwicklung der Stellungskriege war, wie Anthony Saunders vorschlägt, die umfassende Neudefinition der Infanterie-Kultur.

„Während der Zug von 1914 ausgebildet war für Gewehre und Bajonette (…), war der Infanteriezug von 1918 eine Einheit sämtlicher Waffen. Jeder im Zug von 1918 war ausgebildet für Musketen, den Kampf mit dem Bajonett, Bombenangriffe, die Erfahrung mit leichten Maschinengewehren war weit verbreitet in der Infanterie, besonders die mit der Lewis Gun …“11

Die „Technifizierung der Seelen“ ließ die Soldaten als „Männer aus Stahl“ erscheinen, die versuchten, Experten der Gräben und Meister des Überlebens zu werden.

In meiner abschließenden Beweisführung werde ich meine Analyse der Dynamik auf Schachtfeldern mit dem Hauptthema der Konferenz, „Geopolitik“ und „Tektonik des Raums“, verbinden. Wie ich hoffentlich in ausreichender Klarheit zeigte, haben sich die Vorstellungen von Raum und Räumlichkeit während des Krieges stark verändert. Erstens haben die Gräben signifikante Innovationen erfahren, im technisch-taktischen Aspekt sowie in der psychologischen Dimension, exemplifiziert am „industrialisierten Soldaten“. Auch wenn die Gräben nicht permanent Orte der Härte, des Leidens und des Todes waren, sondern auch manchmal Orte der Langeweile, Erholung und sogar kleiner Vergnügungen, waren sie doch maßgeblich Orte des Experimentierens, ein Laboratorium dafür, wie man überlebt und einen Vorteil dem Feind gegenüber erringt. Dieser „Lernprozess“ implizierte auf einer Mikroebene, dass Soldaten auf beiden Seiten eng verbunden waren mit der ausgeklügelten Kriegsmaschinerie. Sie haben nicht nur die harte Philosophie der industrialisierten Kriegsführung aufgenommen, sondern auch in einem sehr körperlichen Sinn die Logik der modernen Waffen, die die Grenzen zwischen Organischem und Anorganischem radikal aufhob. Die dadurch eingeleitete „Technifizierung der Seelen“ ließ sie nicht nur als „Männer aus Stahl“ erscheinen, die versuchten, Experten der Gräben und Meister des Überlebens zu werden, sondern veränderte auch deren subjektive Wahrnehmung von Raum. Der Raum wurde entnaturalisiert und wurde zu einem erstickenden Gefängnis, in dem die Soldaten bedroht waren, vom wässrigen Lehm verschlungen zu werden, von Schutt, Splittern, er wurde aber auch ein utopisches Bild für entlastende Momente der Mobilität, des Kampfes und des Entkommens der Kriegsgefahren. In dieser Hinsicht können Stoßtruppen, besonders Sturmtruppen als paradigmatische Krieger gesehen werden, da sie stärker als die anderen die Hybridisierung von Mensch, Technologie und Geologie verkörperten. Aber ihre Biografien nach dem Krieg unterschieden sich wesentlich voneinander. Die meisten britischen und kanadischen Soldaten der Stoßtruppen fanden eher leicht ihren Weg ins zivile Leben zurück, wohingegen viele deutsche, ungarische, österreichische Soldaten der Sturmtruppen und besonders italienische Angriffskrieger sich rechten Milizen anschlossen, der Bogen der zurückliegenden Grabenerfahrung wird von demokratischen bis zu totalitären Ideen einer Politik nach dem Krieg gespannt. Es ist nicht zufällig, dass viele frühe Anhänger der faschistischen Bewegung Benito Mussolinis aus demobilisierten Reparti d’Assalto-Einheiten rekrutiert wurden, die George M. Trevelyan so charakterisierte: „Flammenwerfen, Bombenlegen und der Dolch in abgeschlossenen Quartieren sind deren liebste Kunst; den Graben mit Gewehrfeuer nach ihrer Eroberung zu halten wurde den gewöhnlicheren Infanterieregimentern überlassen. In der Tat, der Ardito lebte in einer Atmosphäre von Bomben und Flammen.“12

Zweitens änderte sich auch der Raum, aus einer Makro-Perspektive betrachtet, grundlegend im Verlauf des Krieges. Der zweidimensionale Raum der napoleonischen Kriege, basierend auf der geometrischen Ordnung der Schlachten und überwacht von einem im Idealfall genialen Befehlshaber auf dem Hügel, verwandelte sich in eine ausufernde und verwirrende dreidimensionale Kampfzone, die kaum ordentlich befehligt werden kann, immer wieder Überraschungen, logistischen Fehlern, und überwältigender mechanisierter Gewalt ausgesetzt ist. Dennoch fand auch auf dieser Makro-Ebene eine signifikante, von Technologie gestützte „Lernkurve“ statt, wenn auch auf Kosten von Millionen Opfern. In den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges wurde das Konzept der „deep battle“ gut ausgearbeitet, das den Raum nun bis zum Himmel des Fliegers fasste, zu den Weiten des feindlichen Hinterlandes und den Tiefen submariner Manöver. Diese neue Strategie, mobile, umfassend im Waffengebrauch ausgebildete Kräfte, inklusive Panzer, motorisierte Versorgungseinheiten am Boden und Überwachungs- und Bombardierungskommandos in der Luft  zu koordinieren, revolutionierte die Militärstrategie. Auch wenn diese Revolution der Tektonik der „Kriegs-Landschaften“ und das veränderte Konzept der Geopolitik 1918 noch nicht ganz deutlich war, ihre Nachwirkung führte zu listenreichen „Blaupausen“ für kommende Kriege: Kriege mit massivem Flächenbombardement, „Blitzkrieg“ Panzerkriege, die Rudeltaktik des U-Boot-Krieges, amphibische Landungen und Kriege mit unbarmherziger Massengewalt gegen Zivilisten, wie sie Timothy Snyder in seinem grandiosen Buch Bloodlands13 untersucht.

Aus dem Englischen von Angelika Klammer

Anmerkungen

1 Vortrag bei der IFK Konferenz „The Geo-Politics of the Great War 1900–1930“ (6.–8. Oktober 2011).

2 Stéphane Audoin-Rouzeau, Annette Becker, 1914-1918. Understanding the Great War, London 2002, 19.

3 Henri Barbusse, Le Feu. Journal D‘Une Escouade, Paris 1916.

4 Douglas Wilson Johnson and Tasker H. Bliss, Battlefields of the World War, Western and Southern Fronts: A Study in Military Geography, New York 1921, 24.

5 Filippo de Filippi, The Geography of the Italian Front, in: The Geographical Journal, Vol. LI/No. 2 (1918), 73.

6 Joseph Gál l, In Death’s Fortress, translated by John F. Csomor, New York 1991, 126.

7 Constantin Schneider, Die Kriegserinnerungen 1914–1919. Eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Oskar Dohl, Wien 2003, 375.

8 Quoted in: Johnson, Bliss, Battlefields, 562.

9 Eric J. Leed, No Man’s Land. Combat & Identity in World War I, Cambridge 1979.

10 For example: Bruno Latour, Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies. Harvard University Press 1999.

11 Anthony Saunders, Trench Warfare 1850-1950, Barnsley 2010, 151.

12 G. M. Trevelyan, Scenes from Italy’s War, London 1919, pp. 86.

13 Timothy Snyder, Bloodlands. Europe Between Hitler and Stalin, New York 2010.

Lutz Musner ist stellvertretender Direktor und Programmleiter am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften. Zahlreiche Publikationen zu den Bereichen Stadtforschung, Stadtgeschichte und Kulturwissenschaft. Zuletzt erschienen: Die Selbstabschaffung der Vernunft. Die Krise der Kulturwissenschaften und die Krise des Sozialen (Picus, 2007, gem. mit Wolfgang Maderthaner), Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart (Rombach Verlagshaus, 2008, gem. mit Rolf Lindner) und Der Geschmack von Wien: Kultur und Habitus einer Stadt (Campus Verlag, 2009).

Quelle: Recherche 3/2011

Online seit: 15. November 2019