Schöne zweite Welt

Anthropologische Anmerkungen zu Händen, Modellen und visuellen Improvisationen. Von Manfred Faßler

Online seit: 05. November 2019

Zeichnung: markieren und improvisieren

Wissenschaftlich laufen wir immer Gefahr, Zeichnungen zu unter- oder überschätzen.

Wunsch und Fähigkeit, kratzend, mit verkohlten Stöcken, Stiften, Federkielen oder mit dem in Farbe getauchten Finger zu zeichnen, sind rätselhaft. Obwohl in jeder Menschgruppe, in jeder Generationsstufe, in jedem sozialen System milliardenfach praktiziert, ist die Verbindung von zeichnerischer Fähigkeit und vorausschauendem Denken immer noch eine vielschichtige wissenschaftliche Fragestellung. Einige Dimensionen werde ich hier unter den methodischen Annahmen einer Anthropologie des Medialen ansprechen.1 Deren Grundgedanke ist es, dass jede menschliche Fähigkeit in interaktiven, selektiven Aktivierungen biologischer Dispositionen entstehen muss. Unterschiedliche Bedingungen führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, obwohl sie auf physiologisch gleiche Voraussetzungen verweisen.

Nehmen wir an, dass jeder Mensch gerade oder gebogene Striche ziehen kann, so müssen Striche und Darstellungsfähigkeit, Handfertigkeit und Material ‚erkannt‘, kognitiv modelliert werden, um zu einer willkürlichen Zeichnung zu führen. Ein gewisses Geschick hierfür angenommen, hängt doch alles daran, ob und wie die Zeichnung, die Fähigkeit, die Absicht anerkannt werden. Anders gesagt: Ein Strich wird erst dann zu einer Markierung, wenn sein Umfeld bestimmt wird, in dem diese Marke dann ‚steht‘. Umfeld und Fähigkeit beschreiben das mir wichtige Verhältnis von Absicht und Nicht-Absicht, bewusstem Kalkül und bewusstem Spiel, offener Darstellung und geforderter Wiederholung von Markierungsverabredungen (sprich Repräsentation). Hierin nimmt Kultur eine begriffliche Gestalt an, die für entwicklungsoffene Anthropologie steht. Aus meiner Sicht lässt sich dieses nicht hinreichend erklären und verstehen, wenn Zeichnung auf anderes wiederholenden, kopierenden, abbildenden Ausdruck reduziert wird.

Imagination, individuell

Eine Zeichnung ist nicht die Wiederholung eines visuellen Gegenübers oder visuell Gedachten; sie ist eine andere, mitunter poetische Realität.

In jeder Zeichnung, in jedem Zeichen ist Dauerhaftigkeit (d.h. die materiale Kontinuität von gesehenem Gegenstand und Zeichnung) unwahrscheinlich gemacht. Trotz ihrer modellierenden Umriss- und Linienführung, ragt die Zeichnung in unvorhersehbare Wahrnehmung hinein, eröffnet unvorhersehbare Verwendung. Der Grund ist universal: Zeichnung folgt keiner konsensuellen Fiktion, sondern individueller Imagination und Anschauung. Sie ist dadurch der Theoretisierung des Bildes und Gemäldes entzogen, dem erblindeten Gedanken einer Abbildung oder einer stereotypen Ähnlichkeit.

Wir wissen, dass alle Menschen zeichnen (können), viele tagtäglich skizzieren, entwerfen, notieren. Wir wissen, dass erst dann, wenn Zeichnung auf Verständigung zielt, das Zeichen gesetzt wird, Standards, Konventionen und normative Regelungen eingeführt werden. Für die Zeichnung und Zeichen trifft der Satz zu: Nichts ist von Dauer. Selbst Zeichen, die in Notationen, in Schrift- und Sprachensysteme übersetzt wurden, verschwinden mit diesen. Kulturell sind zahlreiche Bedeutungszusammenhänge, Bild- und Zeichensprachen ‚ausgestorben‘, Sprachsysteme und Imaginationsstile verschwunden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf eine veränderungssensible Anthropologie des Visuellen, nicht auf Bilder.

In der Gruppe der visuellen Imagination, den visuellen Marken und visuellen Kodierungen werden die komplexen Imaginationsfähigkeiten des Menschen immer aktuell bleiben. Sie sind nicht auf Funktionen reduzierbar. Allerdings sind sie strukturell gebunden, an Erfahrungen, mediale Strukturen, Darstellungsrepertoires gekoppelt.

Die Logiken des Zeichnens, der Linien-, Umriss-, Aufrisszeichnungen, der Schatten und Tiefen, sind demnach strukturell. Zeichnung geht immer eine enge Beziehung mit Handlungs-, Erfahrungs- und Entwurfsformaten ein. Mit Zeichnung geht es nicht um maximalen Einfluss, sondern um Variation und Erfindung. Zeichnung schließt nicht die Welt ein, schließt sich nicht von der Welt ab zugunsten einer metaphysischen Bedeutungswolke. In der Zeichnung versprechen sich Menschen, ‚dabei zu bleiben‘ und ‚Anderes zu versuchen‘, weiter zu machen, Zustände und Beziehungen zu erinnern, sich auf Modellierungen zu beziehen. Wie sie das tun, hängt aber nie exklusiv von diesen Zeichnungen ab. Ethnologische Studien zu Zeichnungen müssten deshalb die konkreten strukturellen Logiken offen legen, in denen zeichnend berichtet, erzählt, fingiert oder erfunden wird, also die Pragmatik und Poesie des skizzierenden Sehens. Und es sollte geklärt werden, welches Können, welche Zeichenfertigkeit zu erwarten ist. Mir geht es also nicht um die erzieherische Schlichtheit des Abzeichnens, sondern um die Eigenart der Zeichnung.

Ich verwende Zeichnung als kognitive Improvisation. Individuelle Abweichung von der Kopie, von der identischen Reproduktion (die nie gelingen kann), vom Kalkül meint dies, Variationen zu einem Thema,– also ein neu entstehendes visuelles Thema.

Diese kognitive Improvisation bildet auf jedem Niveau sich organisierenden Lebens eine eigene Mischung aus Wahrnehmung, Modellbildung, Darstellungsfähigkeit, Zeichenkonvention und visuellen Repertoires.2 Es sind zeichnerische Spiele mit der Welt, nach den Freiheitsgraden der Physiologie und den Regeln der Mitwelt. Sie können zu Symbolen, Typen, Patenten, Programmen, zu Handzeichnungen und digitalen Interfaces gemacht werden. Allerdings weisen alle Formalisierungen dieser Art zurück auf ihre Grundbedingung: Dass sie erfundene Grapheme sind, visuelle Umgangsweisen mit Welt.

Striche, Codes, Sprachen

Obwohl sie allen Menschen möglich sind, entstehen Zeichnungen nie in gleicher Weise. Sie bleiben Eigenart des einzelnen Menschen und seiner Umgebungen. Erst mit großen Anstrengungen entstehen visuelle Codes, visuelle Sprachfamilien, visuelle, mediale, ökonomische, mechanische Zeichenrepertoires. Auch ihre high-end-Abstraktionen (Differenzialzeichen, Notenschlüssel, Ikonotypen etc.) sind nicht frei von den Grundfähigkeiten jedes Menschen. Allerdings sind ihre Verwendungsweisen nicht auf diese reduzierbar.

Dennoch wird immer wieder versucht, Rückführungen auf ein Prinzip durchzusetzen. So werden in Zeichnungen bereits Zeichen ‚gesehen‘, werden eindeutiger Objektbezug, schlüssig dargestellte Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit von Merkmalen mit dem betrachteten Gegenstand vermutet. Wo das nicht dem Beobachter erkennbar ist, gilt die Zeichnung als ‚schlecht‘. Oder in der Zeichnung wird Nachahmung, Erfindung, Konstruktion, Simulation gesehen.

Zeichnungen bezeichnen nicht, sondern erzählen erfinderisch.

Nicht selten lässt sich die Haltung finden, dem Zeichnen Naivität, dem Schreiben Reflexion zuzuweisen. Visuelle Zeichen, also Zeichnungen, naiv zu deuten, hatte bereits Umberto Eco vehement abgelehnt. Die Einfachheit reduzierender Zeichnungen ist nie selbstverständlich; sie ist gemacht, erfunden, manchmal unbedacht, manchmal kalkuliert. Zu lernen, variationsreich zu zeichnen, ist damit nicht ausgeschlossen. Allerdings: Lernen definiert nicht Zeichnen.

Wird der Zeichnung eine Zeichenqualität ‚entnommen‘, so kann man diese als Verfeinerung, Veredlung anpreisen oder durchsetzen. Nur ist dies zu linear gedacht. Denn Zeichnungen bezeichnen nicht, sondern erzählen erfinderisch. Mit ihnen schaffen sich Menschen improvisierende Orientierungen, feiern den Moment, skizzieren Wahrgenommenes, ganz gleich welcher biotechnischen oder sozio-technischen Zusammensetzung die wahrgenommenen Momente sind.

Zeichnung ist kein Ausschnitt aus ‚dem Ganzen‘, sondern Entwurf eines Anderen. Sie ist die Membran der Erfindungen, der Entwürfe, der Experimente. Ohne die Grundszene der Zeichnung ginge das alles nicht. Ob ein Zeichen oder eine Zeichnung dann weltlich oder sakral, technisch oder dekorativ verwendet wird, liegt nicht in ihnen. Dies wird bestimmt durch die Regulierungsinteressen und Reichweiten von Macht, Markt, Medien. Weder in ihrer Entstehung noch in ihrer Verwendung lässt sich von ursprünglichem, naivem, einfachem Zeichnen sprechen.

Beobachtungen aus medialer Moderne heraus

Diese Annäherung an allgemeine Bedingungen schließt mit ein, dass jede menschliche Lebensweise ihre eigenen Formate und Repertoires erzeugt. Diese sind keineswegs einheitlich, haben nie dieselben Lebens-, Konsum-, Feier-, Arbeitsbezüge. So ist es bereits zwischen Menschen industriell- und medial-moderner Kulturen keineswegs einfach, eine Art visueller Sprache zu beobachten. Dabei meine ich nicht die Codes nonverbaler Verständigung, die sich auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen bezieht. Ich meine die vielen visuellen Wolken, die die Menschen medialer Moderne erzeugen, und zwar in Arbeitszusammenhängen, als Unterhaltung, als Bildung, Wissen, Kunst, Spiel, in Wohnzimmern, im Straßenverkehr, in Galerien oder durch visuelle Leitsysteme in Kongresshallen. Deren funktionale Codes sind hilfreich oder nicht, ordnen zu, weisen an, – und überlagern in der Funktion die zeichnenden Bewegungen der Augen, die durch das Sichtfeld springen, 60-mal pro Sekunde fokussieren und dem Gehirn ein Modell des Sichtbaren anbieten. Unterhalb der Funktionen, unter den visuellen Krusten meldet sich die Improvisation immer wieder, als Handskizze, Prinzipskizze, Funktionsentwurf, Praxisfilter, als verändernde Komposition von Dingen und Beziehungen, als visuelle Zustandssprache.

Allerdings sollte man aus dieser Feststellung heraus nicht den oft zu findenden Fehler begehen, Zeichnungen sprach- und sozialisationslastig oder kulturalistisch zu bewerten. Dies gilt für Zeichnungen, die z.B. in Europa von Menschen aus seinen Regionen gemacht wurden und von Menschen dieser Region ‚ethnologisch betrachtet‘ werden; erst recht sind damit Zeichnungen und deren Interpretationen angesprochen, die aus anderen Wahrnehmungs- und Imaginationskulturen stammen.

Auch dann, wenn sie ‚unseren‘ Zeichengewohnheiten ähneln, wenn sie ‚wieder erkennbar‘ oder ‚nachvollziehbar‘ scheinen, sind sie eigensinnig. Dies trifft auch für die von Hugo A. Bernatzik mitgebrachten Zeichnungen zu; insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass sie erbetene, ja fast beauftragte Zeichnungen sind, die mir als heutigem Betrachter weder den Spaß, den Witz, Hintersinn oder Humor, Ablenkung, Täuschung noch die handwerkliche Fähigkeit preisgeben. Und auch ist ‚fremdes Material‘ zu berücksichtigen, da Zeichenblätter und Stifte ‚mitgebracht‘ waren.

Als Wissenschaftler, der sich mit den komplexen Prozessen medialer Selbstbefähigung des Menschen befasst, sind solche Zeichnungen gerade deshalb interessant, weil sie dokumentieren, wie schwierig es auch Ethnologen fällt, Zeichnen in Denken zu integrieren. Und mehr noch: Bedenkt man, dass Hugo A. Bernatzik Ethnofotograf war, ist es unumgänglich, auf seinen monokularen, apparativen Blick hinzuweisen, auf die unabsichtliche und unhintergehbare ‚moderne‘ Sehweise, aus der heraus die vorgelegte Zeichenfähigkeit als Dokument ‚analphabetischen‘ Denkens erscheint.

Die kurzen Berichtszeilen, die auf den Rückseiten der Zeichnungen vermerkt sind, sprechen zudem an, dass vielschichtige Erlebnis-, Erfahrens- und Praxiszusammenhänge in die Zeichen und Zeichnungen hinein übersetzt wurden. Dabei führten nicht Regeln des Schriftdenkens die kognitiven Fähigkeiten und Hände, sondern vielfältige körperliche Erinnerungen und Erklärungen. Wenn die Zeichnungen einem Nahverhältnis zu handwerklicher Praxis entstammen, muss man mit der schriftsprachlichen Auswertung vorsichtig sein. Ein zeichnerisches Denken, das die Anweisungen schriftlich erklärter Bildlichkeit befolgt, kopiert schriftliches Reglement. Nichts kann begründen, warum dieses für Zeichnungen höherwertig ist, als die sinnlich-abstrakte Handführung.

Mit Zeichnen und Denken, monokularem Blick und der These analphabetischen Denkens sind also viele methodische und interpretative Probleme angesprochen, die ich hier nicht durcharbeiten werde.

Wilde Striche, züchtige Blicke?

Dennoch sind einige weitere Überlegungen unerlässlich. Zeichnen ist kein nicht-sprachliches ‚Vorwort‘ für höhere Intelligenz, vorbereitend für diskrete Schriftzeichen und sprachfähige Wörter, Grammatiken, Semantiken. Denn Semantik, also die menschliche Zwischenwelt der geteilten Bedeutungen, ist im kalkulierten, geplanten und institutionalisierten Unterschied von Zeichnung und Zeichen geborgen. Obwohl Schrift gerade in Europa herrisch gegen ihr visuelles Betriebssystem inszeniert wurde und wird, ist Schriftsprache der Assistent des zeichnerischen Erfindens, der visuellen Intelligenz (Donald D. Hoffman), – nicht umgekehrt. Die Metaphernforschung ist ein reicher Beleg dafür. Dies schließt mit ein, dass Schriftsprache, Lehr- und Gesetzestexte, Philosophie enorm produktiv, differenzierend sind – keine Frage. Dennoch geht alles immer wieder, auch heute, zurück in den unterscheidenden zeichnerischen Entwurf, – auch bei Interface-Design für digitale Sichtbarkeit. Die offenkundigen Schwierigkeiten, in die Sinnensprache der Wirklichkeit von Zeichnungen hinein denken zu können, sind in allen mir bekannten Kulturen erkennbar. Erst gegenwärtig nehmen Wissenschaften die Spuren der visuellen Intelligenz auf.

Es geht bei Vergleichen von Zeichnungen nicht um Stilfragen, sondern um die pragmatischen, sich wiederholenden, körperlichen, technischen Abstraktionsweisen. Und europäische Wahrnehmungs- und Imaginationskulturen sind in den Abstraktionsweisen anders als asiatische, zumindest bis in die Gegenwart. Im ostasiatischen Raum sind Zeichnungen aus der chinesischen Kalligrafie entstanden. Es waren Pinsel- und Tuschezeichnungen von Mönchen und Priestern, die das Zeichnen als Meditationsübung einsetzten, dies sowohl im Chan-Buddhismus Chinas als auch im Zen-Buddhismus Japans.

Die Entwicklungen des Zeichnens in Europa sind mit dessen Herabsetzung verbunden, letztlich seiner Verkindlichung (Terisio Pignatti).3 Nicht erst mit dem maschinellen Buchdruck, also mit Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg (1400–1468), obsiegt die Schrift über das Ornament oder den kalligraphischen Anfangsbuchstaben. Es waren keine wirtschaftlichen Gründe, die gegen die Zeichnung sprachen, sondern religiös-ideologische. Der Vorwurf war, dass Zeichnung keinen Körper besitze und diesen auch nicht zeige. Abstrahiert vom körperlichen Ganzen der Schöpfung, vom figürlichen Voll-bild, das im Gemälde gedacht wurde, wurde der Zeichnung nicht Analytik, sondern vor- oder unwesentliche Darstellung unterstellt.

Damit sind einige Aspekte der Kontroversen zwischen Gemälde und Schrift sowie Graphem, Zeichnung und Bild angesprochen. Europäische Grundlage hierfür lieferte der Kampf von Augustinus (354–430) gegen die „Lust des Auges“, die erotische Projektion. Imitatio Christi gegen Mimesis. Erst mit dem 16. und 17. Jahrhundert wird diskutierbar, dass Zeichnung keine Verflachung ist, sondern ein formgebendes, entwerfendes, analytisches Denken voraussetzt. Die Aufwertung der Zeichnung beginnt mit Federico Zuccaro (1542–1609) und seinen Überlegungen zu Idee (concetto) und Zeichnung (designo) von 1607. Bezog sich Zuccaro auf die Darstellung, wurde in den wissenschaftlichen Denkweisen der Zeit der analytische Blick (der zeichnerische, zerlegende und kompositorische Blick) immer wichtiger. Trickreich ging René Descartes (1596–1650) damit um, da er zwei Sichtweisen formulierte: das lesende, geistige Sehen, das auf vorgefertigte, geschlossene Textwelten stößt, und das forschend, empirische Sehen, das sich den Gesetzen der Materialität der Welt widmet. Der cartesianische Preis war die radikale Unterbrechung der Beziehung von Sehen und Erzählung. Dies garantierte langfristige kirchlich-normative Grenzen des Sehens, beschied den modernen (Natur-)Wissenschaften ein eher asketisches, unökologisches Sehen, das den Gesetzen, nicht aber Zusammenhängen verpflichtet war und ist.

Die Entwicklungen des Zeichnens in Europa sind mit dessen Herabsetzung verbunden, letztlich seiner Verkindlichung.

In der modernen Philosophie G. W. Friedrich Hegels (1770–1831) wird der Zeichnung erneut eine enge Beziehung zum Denken attestiert. Hegels These, dass die Zeichnung eine der höchsten Künste des Denkens ist, verliert sich leider im Reden über Industrialisierung und der konsumierenden Verkürzung des Icon-Sehens. Hegels Position stand unter anderem gegen die in der christlichen Spätantike formulierte Zurückweisung jeglichen freudigen, ironischen, amüsierenden Sehens.

Mit diesen wenigen Hinweisen zeigt sich, dass visuelle Kulturen Europas keineswegs einheitlich waren und sind.

Die Beispiele machen darauf aufmerksam, dass in den vormodernen geistigen Auseinandersetzungen um die berechtigten und zugelassenen ‚Sichtweisen‘, Zeichen und Zeichnungen in spezifische Verhältnisse zueinander gestellt wurden. Es waren religiöse und philosophische Subkulturen eines ‚semantischen Sehens‘, die das Sehen und Zeichnen ‚in Ordnung‘ brachten. Die Ahnung, dass Zeichnen ein anarchischer (= die Herrschaft gesetzter Form umgehender) Vorgang sein kann, steuerte die Machtgesten, in denen zum Partner der Typokratie das repräsentative (und kognitiv repressive) Gemälde wurde.

Die Grenzen der Vermachtung dieses deutungsbeschwerten Sehens und der vorgegebenen Zeichnungen wurden durch Techniken des forschenden Sehens verschoben und langsam aufgelöst. Analytisches, strukturelles Sehen entstand. Es machte sich auf die Suche, – nach Unbekanntem diesseits der undurchlässigen Bedeutungsmembranen von Gemälden. In Werkstätten von Brillenmachern (z.B. des Holländers Hans Lippershey 1608) und Forschern (Johannes Kepler 1607 oder Galileo 1609, 1611) entstanden Beobachtungstechnologien, die die Sichtweise der Welt umstürzten: von der Erdzentriertheit zur Sonnenzentriertheit der Galaxie, von der geschlossenen Oberfläche und Form zu Regeln ihres Entstehens. So entstanden naturwissenschaftliche Subkulturen des Sehens und Zeichnens. Es war ein Sehen des dem Auge Unsichtbaren, erzeugt in mikro-, tele-, makro-„skopischen Ordnungen“ (Christian Metz), durch okulare Modelle des Sehens, der Gegenstandsstrukturen, des Gesichtsfeldes.

Und in Schulen des 19. und 20. Jahrhunderts wurde jedem Schüler ‚ordentliches Zeichnen‘ durch die Modellierung von dreidimensionalem, rationalisiertem Raum der perspektivischen Anschauung anerzogen: die Rasterung des Blickes und der Zeichnung durch die Abstraktion der geometrisierten Form vom erzählenden Inhalt. Es ist bis heute eine Folge der Lehren von Leon Battista Alberti (1404–1472) aus der Schrift De Pittura. Versuche, dies los zu werden, bilden die Grundlagen der „skopischen Ordnungen der Moderne“ (Martin Jay)4, sowohl technisch, ästhetisch als auch unterhaltend.

Eine Neufassung des Zeichnerischen, die die Heterogenität des Sehens, der Blicke, des Zeichnens und Anschauens umsetzt, gelang bislang allerdings nicht; auch nicht unter cyber-skopischen, visuell-interaktiven Bedingungen der Computertechnologien.

So sehen wir durch viele Brillen also nichts, oder im ständigen okularen Wechsel also immer anderes, ohne Verbindungen im Augenblick des Sehens zu sehen.

Primat der Linie(n)

Pierre-Jean Mariette (1694–1774) startete den Versuch, durch alle Beobachtungs-, Darstellungs- und Handwerkstechniken hindurch, ein Prinzip der Formatierung zu erkennen und zu erhalten: Er beschrieb dies als Primat der Linie gegen den Primat der Farbe und die religiöse Forderung, nur Vollbilder der Schöpfung zu malen.5 Damit unterstrich er die Ausdruckskraft abstrahierend sehenden Denkens. Aus einer Buchdruckerfamilie kommend, beschäftigte er sich ausführlich mit Stichen und Linienführungen und näherte sich so einem Denken, das man heute wohl strukturell oder abstrakt nennen könnte.

Um Stilfragen geht es hier also nicht, wenn wir die Zeichnungen ansehen. Die von Bernatzik mitgebrachten Zeichnungen werfen eine Fülle zusätzlicher methodischer Probleme auf, denen ich mich in diesem kurzen Beitrag nicht stellen kann. Dennoch möchte ich kurz hierbei bleiben. Es ist die Frage nach den verschiedenen europäischen Brillen. Unter dem Primat des Gemäldes wird Zeichnen als eine ‚Grundschule‘ des aufmerksamen und genauen Sehens (miss-)verstanden.

Zahlreiche Arbeiten beziehen sich entwicklungspsychologisch auf Zeichenfähigkeit und sortieren Graphiken nach: Kritzeln, Kopffüßlern, Schemaphase und schließlich deren Auflösung und Überwindung in Karikatur, Ironie und realistischen Gestaltungskonzepten. Der künstlerische Ausdruck ist dieser Reihenfolge dann nachgeordnet. Andere sehen in der ‚spontanen‘ Zeichenkompetenz die Quelle für Denkkompetenz. Diese soll sich von jener lösen. Solches Folgedenken ist seit Jean Piagets entwicklungspsychologischen Studien sehr geläufig, gerade auch als universales Erklärungsmodell. Schlüssig ist daran, entwickelnde Zeichenkompetenz in Abhängigkeit mit allgemeinen kognitiven Fähigkeiten zu sehen.

Wie Zeichnungen – im Wechselverhältnis von Wahrnehmung, Denken, vorgefundenen Darstellungsstilen, Arbeits- und Naturerlebnissen, Medienrepertoires, Imaginationsregeln –, entstehen, ist damit in keiner Weise gesagt. In den Zeichnungen müssten die Transformationsregeln mit gesehen werden, die Gegenstand, Hand, Wahrnehmung, Abstraktion, Phantasie, Zeichenfähigkeit, Zeitbezug verbinden.

Zeichnen denken

Einen Schluss konnte man aus den Debatten immerhin ziehen: „Drawing is Thinking“ (Milton Glaser).6 Dies meint nicht nur W.J.T. Mitchells Aussage „Denken in Bildern über Bilder“.7 Es meint vor allem die visuelle Intelligenz (Donald D. Hoffman)8 und die Zeichenfähigkeit der freien Hand, also den „Geniestreich der Evolution“, wie Frank R. Wilson9 die neuroanatomischen und neuro-funktionalen Einflüsse der Hände auf die Hirntätigkeit nannte, – die „revolutionäre Vereinigung von Hand und Hirn“. Allerdings gilt auch für die Hand, dass ihre Einsatzmöglichkeiten in alle Sinne eingebettet sind, erzeugte Zeichnungen also nicht nur dem Gesichtssinn folgen, sondern multisensorisch ‚abstrakt‘ sind.

Ich folge diesem Gedanken und verwende ihn für die Präzisierung meiner Zugangsweise zu den hier vorgestellten Zeichnungen. Methodisch gehe ich vom Ansatz der Anthropologie des Medialen aus.10 Sie ist in der Grundthese begründet, dass Menschen weltweit kulturelle Evolution erst bewirken, indem sie sich über Zeichnungen (vom Entwurf bis zum Patent) und Zeichen (Zahl, Note, Schrift) verständigen. Sie befähigen sich mit den Zeichnungen dazu, sich von Signalen zu lösen, Zeichen zu setzen, sich im Unterschied zu anderen und später dann (z.B. in solchen Großerzählungen wie die Odyssee) zu sich selbst zu bedenken. Ich nenne dies die mediale Selbstbefähigung des Menschen. Sie hat keine Richtung, kein Ziel. Dennoch finden in ihr existenzielle, gemeinschaftliche, technische, soziale Richtungsentscheidungen statt. Sie sind angezeigt, nicht vorgezeichnet, visuell angeboten und kommunikativ bereitgestellt. Die mit ihnen verbundenen Verbindungs- und Verknüpfungslogiken sind nicht linear. Eher sind es die in der euro-amerikanischen Moderne so ungeliebten krummen Wege und die richtungsändernden Selektionen. Diese können wir wissenschaftlich nicht zurückgehen. Allerdings bleibt uns die Möglichkeit, in jeder Zeichnung und jedem Zeichen die Pragmatik ihrer Erfindung und Verwendung zu entdecken.

Kultur, zeichenbestimmt

Zeichnung ist zunächst ausgewähltes Zeigen. Im Zeigen entsteht das phänomenale Dazwischen, die künstliche zweite Welt, auf die sich der einzelne Mensch bezieht, um sich in der Welt zu verorten. So wird es möglich, uns mit anderen über unsere Absichten, Anschauungen, Einsichten oder Entwürfe zu verständigen, sie auf etwas hinzuweisen, Wege, Koordination, Ziele vorzuzeichnen. Wir erfinden und organisieren auf diese Weise mögliche Verständigung.

Mit Zeichnung erzeugen Menschen einen Unterschied, der immer noch mit dem erklärenden Versprechen verbunden ist: „Das ist…“. Mit Zeichnungen wird eine undingliche Kultur auf den Weg des (Vor- und Nach-)Denkens gebracht. Zwischen der Gegenständlichkeit des Dings und der Ungegenständlichkeit des Zeichens wird die Zeichnung als ‚eigene Wirklichkeit‘ in das Leben eingefügt. Es ist nach wie vor eine Sensation, – betrifft dies nun die ersten Zeichnungen eines neuen Gebäudes, eines Autos, einer Maschine oder die ersten Zeichnungen von Kindern.

Zeichnungen fordern bis heute visuelle Intelligenz heraus und ermöglichen entwerfende Intelligenz.

Die Zweite Welt beginnt mit der ersten Zeichnung und beschleunigt sich mit dem ersten Zeichen. Nur hierüber ist die These schlüssig, dass kulturelle Evolution eine ‚beschleunigte‘ sei. Und kein Zeichen wird diese Zweite Welt jemals verlassen. Gerade das macht die Faszination des Universums der Zeichnungen aus: In ihnen ist bis heute die Urszene der Verständigung, der Zeichenkonvention, der Ironie, des Verrats, des Versprechens enthalten.

Ohne Zeichnung gäbe es keine Kulturen im anthropologisch modernen Verständnis. Auch gäbe es diesen Text und dieses Verständnis darüber nicht.

Nachbarschaften der Zeichnungen

Bleiben wir bei der anthropologischen Argumentation. Es werden keine Zufälle gewesen sein, die Menschen in Nordafrika, am Nordrand des Mittelmeeres, in Indien, China oder Australien dazu brachten, Linien, Formen, Dimensionalitäten absichtlich zu hinterlassen. Sie waren gewandert, trafen auf Umwelten, Tiere, Wetterlagen, die sie nicht kannten. In ihren unvorhersehbaren Erfahrungen entstanden Fähigkeiten der Vorsicht, des Vorhersehens, der Voraussicht, entstanden visuelle Häufigkeiten und Muster, die Menschen aktivierten, als Imagination, Modell, als Abstraktion. Zeichen und Zeichnungen zeigen in Richtung des einzelnen Menschen, der sie erzeugt und hinterlässt. Zugleich zeigen sie in Richtung der Gruppen, in denen interaktiv und kooperativ Menschen bestrebt sind, sich über indirekte Wirklichkeit, also über geistige Wirklichkeit zu verständigen.

Mit Zeichnungen stoßen Menschen immer wieder (und heute so wie vor 40.000 Jahren) in die Welt ihrer gedanklichen Möglichkeiten vor. Sie erfinden und beleben ihre geistige Freiheit. Immer wieder beginnen Menschen mit Zeichnungen, Entwürfen, Plänen, Skizzen, halten sich vom Kalkül fern, ohne auf Proportionen von Flächen und Tiefen zu verzichten. Zeichnungen fordern bis heute visuelle Intelligenz heraus und ermöglichen entwerfende Intelligenz.

Die Zweite Welt, die Menschen als Kultur erzeugen, ist abstrakt, künstlich, erfunden, erdacht und sie existiert nur unter diesen Bedingungen.

Vielleicht waren Zeichen und Zeichnungen nicht jedem Menschen sofort verständlich. Dies haben wir heute auch ständig. In jedem Zeichen war und ist ein Unterschied zu anderen enthalten, ist Nachbarschaft ähnlicher Verwendung und ähnlichen Verstehens angelegt. Zeichen und Zeichnungen sind nur kollateral möglich, in Beziehung.

Der scheinbare Zufall muss also übersetzt werden in eine lange sinnlich-motorische Erfahrung und dessen erdachtes Modell. Allen Menschengruppen war und ist dies zu Eigen. Dies erklärt, warum anthropologisches Erforschen von Zeichnungen einzufordern ist. Zeichnen zu können und Zeichen zu erfinden sind entstandene, dem Menschen neurophysiologisch mögliche sinnlich-kognitive und sinnlich-handwerkliche Fähigkeiten. Es sind menschliche Abstraktionstechniken. Heißt dies, dass (Kultur erzeugende) Gruppenunterschiede nicht bedeutend sind? Keineswegs. Dies würde der Annahme widersprechen, dass Menschen geradezu lebensverbindlich der Interaktivität bedürfen und diese in jeder Gruppe, Kultur, Religion anders verläuft.

Z.B. wurde für das Alphabet vor ca. 6.000 Jahren vor Heute nicht nur die bildnerische Zeichnung von der Bedeutung getrennt (so die Abwendung von den Hieroglyphen), sondern eine Zeichengruppe erfunden, die frei kombinierbare Zeichenfolgen und frei ‚machbare‘ Wörter ermöglichte. Bedeutungserfindungen und deren ‚ontologisierende‘ Vernetzungen folgten später. Die Maya behielten gezeichnete Gesichtsausdrücke als Mengenangaben (Zahlen) bei, während im Chinesischen ein aufwendiges Verhältnis von Zeichnung, narrativer Bedeutung, Schriftsprache und Formalisierung entstand.

Freihändige Zweite Welt

Mit den freihändigen Zeichnungen werden Mitwelten denkbar; aus ihnen werden Zeichen ‚geboren‘. Mit den bedeutungsfreien Zeichen (zu denen auch die Zahlen gehören, allerdings in einer anderen Abstraktionsebene) entstehen die Ideen, der Mensch habe nun mit unermesslichen Reichweiten, mit Wahrheiten jenseits seiner Erfahrungen zu tun. Der Grund war, dass mit Zeichnungen freie Räume der Wahrnehmung und Erfahrung möglich wurden, die als ungeregelte Unendlichkeit in die direkten Be-ziehungen einbrachen. Aber die Regeln folgten: als Bedeutung, Geltung, regulative Ideen, Kritik, Ironie, Zynismus, Paradoxie, Humor, Freiheitsansprüche und -liebe. Es waren lokale, dörfliche, städtische oder normative Realitätspflöcke, eingeschlagen in ein sich selbst ständig erweiterndes Feld der Erfindungen.

In die offenen Fantasien freien Zeichnens und freier Zeichen hinein erfanden Menschen ihre eigene Notwendigkeit oder die ihrer Macht. So entstanden in ungerichteten Zeichen-Umwelten Richtungen. Ziellosen Prozessen wurden Ziele gesetzt, Haltebefehle entgegen geschrieben: So folgte und folgt dem Entwurf die Konstruktion, der Erfindung das Patent, dem Zeichen folgt der Lehrtext.

Halt gewinnen, Haltung erzeugen, ist eine Abwehrreaktion gegen die Anarchie des Zeichnens. Wir haben uns daran gewöhnt, diese Abwehr Kultur zu nennen. Die Anstrengungen sind immer noch erheblich, dem ‚Wildwuchs‘ der Zeichnungen und ihnen folgenden neuen Zeichen Einhalt zu gebieten, ihn der inszenierten Allmacht der bedeutenden Zeichen und bedeutenden Dinge unterzuordnen, ihn in der Scripto-Kratie (und mit dem Buchdruck: in der Typokratie) gesichtslos zu machen.

Allerdings konnte die Fähigkeit des Zeichnens davor bewahrt werden. Zum einen, weil sie eine existenzielle Fähigkeit der Äußerung und Darstellung ist; zum anderen, weil sie als ‚Kinderstube‘ der bedeutungssatten Zeichenallmacht missverstanden wurde, – vermeintlich ungefährlich. Zeichnen zu können ist bis heute Bedingung für Abstraktionen, sei es der Zeichen, sei es der Bedeutung. Zeichnen erzeugt und erhält den Informationsstrom der Zweite Welt, auch den der digitalen Vernetzungen.

Erfindungen

Keine Zeichnung ist notwendig. Allerdings organisieren Menschen in den Zeichnungen neue Erfahrungswelten, mit denen so viel mehr möglich werden konnte und kann, als im direkten physiologischen Bezug zur tierischen und unbelebten Welt.

Warum Menschen sich daran begeistern, warum sie sich mit Künstlichkeit, Imagination, Abstraktionen belohnen, ist eine der großen Forschungsfragen über die Poesie und Poiesis des Zeichnens. Warum Menschen sich immer mehr in die Netzwerke dieser Abstraktionen hinein bewegen, also künstliche Abhängigkeiten und Notwendigkeiten erzeugen, ist eine weitere. Kulturen, in denen regionale oder lokale Stile dieser Fähigkeiten lebendig weitergeführt werden, verstehe ich demnach nicht kulturalistisch als ‚geschlossene Eigenart‘. Sie sind vorläufige Formen anthropologischer Dynamiken. Interessant ist dabei zu beobachten, dass sich alle Kulturen, Ökonomien, Wissenschaften, Technologien (noch) unter dem Einfluss des Zeichnens und der Zeichen entwickeln, – unter dem Einfluss der medialen Selbstbefähigung.

Es ist immer ein zweites (geistiges, intellektuelles, selbstreferenzielles) Leben aus erster (zeichnender, Zeichen erzeugender) Hand, obwohl seit den Teleskopen und Fotoapparaten zunehmend künstliche Agenten hinzutreten.

Künstlichkeit als Werkzeug

Was wird der Einstieg in die mediale Selbstbefähigung gewesen sein? Ein Strich, ein Punkt, eine Kerbe, ein Bogen, der durch eine zufällige oder absichtliche Fingerbewegung im Sand entstand?

In Zeichnung findet sich eine erfahrene Unterscheidung wieder, die ein Mensch erinnern, erhalten oder weitergeben will. Im Zeichen wandelt der Mensch sinnlich-motorische Erfahrung in einen bedenkbaren (sinnlich-kognitiven, sinnlich-abstrakten) Unterschied um. Nichts wird im Zeichen abgebildet, nichts repräsentiert, was außerhalb des Zeichens existiert.

Es ist ein dramaturgisch aufregender Moment zu sehen, wie Menschen sich für die Zeichnung ‚einsetzen‘.

Der Mensch erfindet seine Fähigkeit, aus einer individuellen Unterscheidung einen vermittelbaren Unterschied zu machen. Wir wissen heute, dass der Homo sapiens dies nicht sofort mit seinem genetischen Auftreten vor ca. 200.000 Jahren konnte. Wir wissen, dass vorherige Hominiden Material bearbeiteten, es zu Werkzeug machten. Auch absichtliche Verständigungsweisen müssen angenommen werden, also lautliche, gestische, mimische Darstellungen, die erinnert und intergenerativ durch Imitation weitergegeben wurden. Vermutlich lernten die menschlichen Gruppen über lange Zeiträume, sinnliche Erfahrungen so einzusetzen, dass sie Jagden, Verteidigung, Sippenverbund koordinieren konnten. Für diese Koordinierungen mussten Menschen sich verständigen, in wechselseitige Beziehungen treten, interagieren. Es waren gerichtete, signalgestützte Verständigungen.

Aus der Wiederholung dieser tauglichen Ideen könnten die Fähigkeit und der Bedarf entstanden sein, Hilfsmittel zu erfinden, mit denen indirekte Beziehungen koordinierbar sind. Die ersten Zeichen befolgen also die bedingten Regeln einer Biologie, die ‚für sich‘ eine indirekte Biologie erfindet. In diesem Schritt ist der Übergang vom Signal zum Zeichen, vom körperlichen Laut zur stummen Zeichnung und zum stummen Zeichen angelegt, – die Erfindung der Nachricht, die nicht durch den lebenden Menschen allein übermittelt wird.

Zwei Areale

In diesen Prozessen ist eine Entwicklung eingelagert, die im selben Körper, in derselben Gruppe erfolgt, aber zwei Gestaltungsweisen betrifft, die sich, nach ihrem Auftreten, in sehr unterschiedlichen Richtungen entwickeln – und dies bis heute in dieser Unterschiedlichkeit tun. Es ist die Trennung von

  • Zeichen (und Zeichnung) als soziales und geistiges Werkzeug und
  • Zeichen (und Zeichnung) als geistige Belohnung.

Wie ist das denkbar?

  • Die Erfahrungen mit Zeichen und Zeichnungen werden deren Tauglichkeit für Koordinierung von Handlungen und Absichten, aber auch für Vorausschau, Vorwegnahmen begründet haben. Zeichen begünstigen und verstärken die Fähigkeit des Menschen, vorwegnehmend, antizipatorisch zu denken (Jean Piaget, Michael Tomasello). Sie ermöglichen es, diese wichtige humane Fähigkeit des Vorausdenkens in die Zeiten kommender Verhaltensmöglichkeiten zu verlagern, in einem Dazwischen der auf später gerichteten Erwartungen zu speichern. In diese Strukturen hinein expandieren die Werkzeugfunktionen der Zeichen, – und zwar als Notationssysteme, als Sprachen, ja auch als technologische Medien.
  • Davon lassen sich die Zeichnungen als geistige Belohnung, als Spaß, als Verspieltheit, als Ausdrucks- und Darstellungswunsch, als Experiment mit zufällig entdeckten körperlichen Fähigkeiten etc. unterscheiden. Auch sie expandieren in die entdeckten Erfindungs- und Darstellungsfelder, sei es als schmückende Zeichnungen, Huldigungen, rituelle Symbole, Erzählungen, ja auch Ästhetik und Design.

Für beide Areale menschlicher Fähigkeiten gilt allerdings: Sie gehen von demselben Körper aus, weisen auf ihn zurück. Es ist zu vermuten, dass die Dominanz eines Zeichenareals die Fähigkeiten des anderen bestimmt. Ebenso ist zu vermuten, dass die strukturelle Vorherrschaft eines Zeichenfeldes die Anerkennung, Wertschätzung und den Wunsch nach anderen Zeichenfeldern bestimmt.

Geburt des Graphems

Verständigung, Darstellungs- und Ausdrucksfähigkeit fusionieren in einem menschheitsgeschichtlich neuen Prinzip: dem des stummen, bedeutungsfähigen und als Vermittlungsträger einsetzbaren Zeichen. André Leroi-Gourhan nannte dies die „Geburt des Graphems“. Es war und ist eine sinnlich-abstrakte Kopfgeburt, irgendwann zwischen 40.000 und 6.000 Jahren vor Heute. An ihr gibt es weder ‚primitives‘, noch ‚zivilisiertes‘. Alle Menschengruppen kamen auf diese Idee, Zeichnungen zu erzeugen und Zeichen hieraus zu erfinden. Die Gründe lagen vermutlich in den Lebensbedingungen immer größerer Gruppierungen. Alle Gruppen wandelten ihre Erfahrungen, die sie als passive Muster in sich trugen, in aktive Modelle um, modellierten, zeichneten, schufen Reliefe.

Der lange Marsch der diskreten Zeichen

Im Neolithikum (beginnend ca. 12.000 Jahre vor Heute), mit der Sesshaftigkeit und schließlich der Erfindung von Verwaltungsschriftsprachen, wurden die erlernten Fähigkeiten des Zeichnens aufgespaltet in Zeichnung und Zeichen. Der Siegeszug der heiligen und später dann der diskreten Zeichen begann. Er war nicht im Zeichen begründet, sondern in der Fiktion von Bedeutung, in den Szenen von Macht, die in der Erfahrung gründeten, dass Menschen das Künstliche, Mögliche, Versprochene ernst nahmen, ihm glaubend folgten.

Im ersten Zeichen ist der Traum von einer Welt enthalten, die nicht mehr dem direkten Warn- oder Freude-Signal folgt. Dieser Traum entsteht in der Abstraktion, in der Künstlichkeit. Kultur entsteht in der Natur der Unterscheidung. Um Zeichnen, Zeichnungen, Erfindungen bedenken zu können, wird man die rätselhafte Differenz anerkennen müssen, die in der erfindungsreichen Biologie besteht. Jede Erfindung verlässt den direkten Erfahrungs- und Reproduktionsbezug. Sie investiert Zeit in Erklärungen, nicht in Erfahrungen. In dieser Investition verändern sich die Erfahrungen. Diese Erfindungsfähigkeit menschlicher Natur nannte der Psychologe Joachim Bauer vor kurzem „schöpferische Biologie“.11

Erfundene Endlosigkeit

Dies berücksichtigend frage ich nach den Regeln, die durch die absichtliche und unabsichtliche Gestaltung menschlicher Realität entstehen. In den Sinnen erlebt der Mensch Unterschiede, riecht, schmeckt, fühlt, tastet, streichelt. Nach den Sinnen, im Gehirn, bleiben diese Unterschiede als häufige, sich wiederholende und zu Mustern verdichtete Erinnerungen. Sinne ziehen Gedanken nach sich, erzeugen diese, ziehen sie auf, lassen sie werden in dem Versuch, den Augenblick, das Ereignis, den Eindruck zu erhalten. Die Quelle des Werdens einer indirekten, künstlichen Welt ist demnach natürlich. Erst später kommen Regeln des Künstlichen auf, mit denen die Karriere der Abstraktionen eskaliert. Allerdings: keine Abstraktion verlässt die Natur. Wir müssen also von einer Biologie des Zeichnens und der Zeichen ausgehen. Aber davon will ich hier nicht berichten.

Wichtiger scheint mir, auf etwas anderes aufmerksam zu machen. Mit jedem horizontalen, vertikalen Strich durch die Blickwelt des Betrachters, mit jedem Bogen, jedem Kreis, also jedem Graphem wird der Spalt zur denkbaren Mitwelt breiter. Mit jeder Zeichnung holen sich Menschen einen Moment von Endlosigkeit herein, treten aus der inaktiven Endlichkeit des Körpers heraus. Sie lernen etwas zu sehen und sichtbar zu machen, das erst im Zeichen entsteht, in der Zeichnung entsteht. Endloses tritt auf, weil alles auch anders aussehen könnte.

Dieses Grundvermögen, endlos entwerfen zu können, findet sich um viele Jahrtausende später im endlosen Zahlenraum und im unendlichen alphabetischen Raum wieder. In diesen erfundenen Endlosigkeiten werden dann flüchtige, undeutliche Zusammenhänge oder Formen vermutet. Aber sie sind Material. Die erfundenen Unendlichkeiten der Zeichen, Zahlen, Buchstaben sind Material des Erfindens. Und mit diesem Material erfinden Menschen neuen, vorläuferlosen Halt, Formen, Figuren.

Denkendes Zeichnen

Ernst Cassirer schlug vor, die Ästhetik des Ausdrucks, der Wiedererkennbarkeit über die Mimik, Gestik, Nonverbalität zu begründen, über eine Anthropologie der Expression. Sie stünde der Technik und der Schriftsprache gegenüber, wäre vielleicht eine Parallele. Was sie eint ist, dass sie alle stumm sind, also stumme Ausdrücke. (Erst im späten 19. Jahrhundert fusionieren stumme Zeichen mit Akustik zu einem sinnlichen Ereignis, dem CinemaScope, dem Kino; im 20. Jahrhundert folgen Television, Super 8, Video, Online-Sicht/-Hörbarkeit)

In den Zeichen schlummert aber eine andere Sensation: nicht die der Expression, sondern die der darstellenden, unterhaltsamen visuellen Erfindung, also der gestalteten Unterscheidung als einer zweidimensionalen (oder in der Skulptur: eine dreidimensionale) Figur des Unterschieds. Die schon zitierte „Geburt des Graphems“ (André Leroi-Gourhan) zieht eine „semiotische Explosion“ nach sich, „geradezu ein Wuchern der Zeichen erzeugenden Tätigkeiten des Menschen“ (David B. Givens).12 Nicht allen Menschen ist möglich, was dem Menschen möglich ist. Dennoch begleiten sowohl die Fähigkeit, zu zeichnen, und die Fähigkeit, Zeichen zu erfinden, Gattungsgeschichte und individuelle Lebensspanne. Beides lässt sich nicht trennen: Der Gattung ist nichts möglich, sondern nur dem biologischen Individuum, dem einzelnen Menschen. Dieser könnte ‚sich nicht ausdrücken‘, gäbe es die natürlichen und koevolutionären Voraussetzungen nicht.

In der Koordinierung von Idee, Absicht, Hand, Material, Instrument, Zeichenfläche stellt sich nicht die einzelne Eigenart des agierenden Menschen dar, sondern die Komplexität der erreichten Techniken (oder Programme, um nochmals auf André Leroi-Gourhan zu verweisen). Technik meint hier die Kunst, etwas als Modell zu erinnern und damit zu handeln. So spreche ich auch von Denk-, Erinnerungs-, Erfindungs-, Entwurfstechnik, wie ich von Produktions-, Konsum-, Abfalltechnik spreche.

Mit dem ersten Zeichen, der ersten Zeichnung lösen sich die Menschen von der geschlossenen Signalwelt.

Immer geht es um Unterscheidungen, die zu erinnerten Unterschieden führen und Menschen dazu verführen, die Besonderheit, die Qualität, die Konventionalisierung oder Eigenart dieser Erinnerung darzustellen. Dabei sind Grapheme keine Nachzeichnungen: es sind Erfindungen. Sie bringen etwas hervor, das nicht vermitteln muss, sondern nichts anderes zunächst vermag, als gesehen, gehört, gefühlt zu werden. Diese Poiesis, selbsterhaltende Hervorbringung, betritt mit Graphemen (zeichnerisch, bezeichnend) ein völlig neues Feld: die indirekte Sinnlichkeit der erdachten Welten. Sie ist der Beginn einer der aufregendsten Karrieren im Menschen: die Karriere von Abstraktion, Künstlichkeit und bezeichnender Selbstdistanz des Menschen. Ohne die Zeichnung, ohne das Zeichen gäbe es das alles nicht.

Mit einer Zeichnung bietet ein zeichnender Mensch eine eigenwillige Eigenart des modellierten Moments an; mit Zeichen verlassen Menschen diese Eigenart und setzten sie als strukturierenden Unterschied fest. Beide Fähigkeiten formatieren Kultur, nicht umgekehrt. So wurden und werden in europäischen Traditionen Darstellung und Vernunft geschieden, verfeindlicht.

Kultur, jene schwierig zu erklärende Selbstbewirtschaftung menschlicher Erfindungen, ist ohne Zeichnung und Zeichen nichts. Jede Menschengeneration muss dies lernen, sich immer wieder neu, also anders, auf Kopf, Hand, Modell und Technik besinnen.

Es ist keine Kunst, Künstliches zu entwerfen

Im Zeichnen liegt der Beginn der medialen Selbstbefähigung des Menschen (Manfred Faßler 2005). Es ist jene expansive Fähigkeit, mit Zeichnungen und Zeichen eine eigene Realitätssphäre zu erzeugen, in der Formenspiele und Formsetzungen, Darstellungsexperimente, Stile und Kanons ebenso entstehen wie koevolutionär neue Ideen, etwas zu entwerfen, vorzudenken, über etwas nachzudenken. Beginn ist durchaus so gemeint, dass diese Selbstbefähigung zur Gattungsentwicklung ebenso gehört wie zum individuellen Lebensverlauf.

In allen Menschengruppen entstanden diese Fähigkeiten der zeichnerischen Nachahmung, der Imitation, des Ausdrucks, der Darstellung. Zu welchem Zeitpunkt diese in Zusammenhangsideale, oder moderner gesagt: in Kommunikation überführt wurden, ist noch nicht wichtig. Zunächst gilt es, den Gedanken noch etwas zu beleuchten, dass mit Zeichen und Zeichnungen die Welt des Menschen en passant, aber unumkehrbar verändert wird. Für mich ist es immer wieder faszinierend, mir Zeichnungen anzuschauen, die entweder vermutlich vor 40.000 Jahren oder gestern produziert wurden. Sie belegen anschaulich, dass zeichnerisches Denken nicht alt geworden ist. Die Faszination gilt in ähnlicher Weise für heutige Entwurfs-, Spiel-, Übungszeichnungen oder zeichnerische Mitteilungsweisen, ob von Profis oder Kindern erstellt. Absichtlich spreche ich nicht von Kunst. Damit ist diese nicht ausgeschlossen. Allerdings vermeide ich den Sog der kunstgeschichtlichen Debatten. Dieser hilft hier nicht weiter, da es mir um die Frage geht, was Menschen sich im Moment des Zeichnens versprechen, welchen Spaß, Witz, welche Ironie, Experimentierlust sie anstoßen, welche Gebote oder Verbote sie einhalten, und vor allem: was sie dabei erfinden.

Zeichnen gegen die Signalwelt

Zeichnen ist Erfinden. In Versuchen der Linienführung, der Flächenbildung, aber auch in ihrer Deutung entstehen die Wahrnehmungsräume und -freiheiten, die exklusiv an diese vielfältige Aktivität des Menschen gebunden sind. Dies setzt allerdings einiges voraus: gattungsgeschichtlich in Richtung großräumiger Kontrolle und Ressourcenverwaltung, individualgeschichtlich in Richtung der Beteiligungschancen am Gruppen- oder Kulturleben. Jede Zeichnung macht etwas sichtbar. Sie ist nicht nur ein dokumentierbares Artefakt oder Produkt. In ihr stellt sich die Modellierungsfähigkeit des einzelnen Menschen dar. Ohne diese gäbe es keine Zeichnungen, mit denen man grundsätzlich Hin- und Absicht, Anschauung und Wegsehen verbinden kann. Modelle aktivieren passive, sinnliche Erlebnismuster. Es braucht seine Zeit, bis aus den unzähligen sinnlichen Erlebnissen der natürlich-realen Gestalt eines gewachsenen Baumes, Seehundes, eines Menschen, eines fliegenden Vogels wahrnehmungsmächtige Muster des Wiedererkennens entstehen. Und noch mal etliche Zeit brauchen Menschen, bis sie sich von der passiven, wahrscheinlichen Mustererkennung lösen und ‚Hand anlegen‘, zu zeichnen beginnen. Es ist ein dramaturgisch aufregender Moment zu sehen, wie Menschen sich für die Zeichnung ‚einsetzen‘, mit wenigen Strichen, mit ganzem Körper, mit viel Zeit oder leicht dahin ‚geworfen‘. Aber nie ist dies ein unmittelbarer Akt, weder wahrnehmungs- und neurowissenschaftlich noch kulturanthropologisch.

Zeichnen befreit gerade von der engen Kopplung ablaufender Ereignisse, von der spröden und plumpen Wahrscheinlichkeit sich wiederholender Formen. Es ist ein geistiger Kraftakt, zumindest für denjenigen, der damit beginnt. Mit dem ersten Zeichen, der ersten Zeichnung lösen sich Menschen von der geschlossenen Signalwelt.

Danach können Kopien von Zeichnung und Zeichen wieder in die passive Geste der Wiederholung verfallen. Allerdings ist der Keim gesetzt, aus dem die Lust auf Räume der Zeichen, der Zeichnungen entstehen. Ich halte diese Distanz zwischen passivem Muster und aktiver Modellierung für enorm wichtig. Sie macht Differenz erkennbar und deutbar. Die Distanz wird belebt von Abstraktionen, von einzelmenschlicher oder gruppeneigener Aufmerksamkeit. Sie regelt, wie etwas gesehen und übersehen wird. Sie regelt, was sichtbar sein kann und darf.

Das Ziel: Dazwischen

Dass alle Menschen zeichnen können, obwohl nicht für jeden das zu Sehende (wieder-)erkennbar ist, heißt nicht, dass Zeichnen ‚unmittelbar‘ ist. Es zeigt nur, dass wir auch zeichnerisch ‚improvisieren‘. Zeichnungen sind Realitätsversuche und -versprechen. In ihnen gelingt Abstraktions- und Konkretisierungsfähigkeit. Diese durchlaufen vielfältige neuroanatomische, neurofunktionale, gruppeneigene und statusgebundene Dimensionen. Ob das Ergebnis dann für andere wiedererkennbar oder ‚verständlich‘ ist, hängt nicht nur von der Formeigenart der Zeichnung ab, sondern von der Art, wie Beobachter das Gezeichnete aufnehmen. So kann ein vertikaler Strich zur Darstellung von I oder 1 verwendet werden, kann Fläche oder Raum erzeugen oder als belangloser Zufall übersehen werden. Die Umwandlung von Zeichnung in Zeichen setzt demnach einen besonderen Denkprozess voraus: die Entdeckung eines formalisierbaren Dazwischen. Für diese Umwandlung und die ihr folgende Rezeption ist weder ‚Unmittelbares‘ zu vermuten, noch irgendetwas ‚selbstverständlich‘. Gäbe es dies, könnten wir jede Mühe, etwas verstehen zu wollen, einstellen.

Existenzielle Verständigung zwingt dazu, das ‚Dazwischen‘, die Zeichnung und – effektiver – das Zeichen als ein wichtiges Handlungsziel verständlich zu machen. Wie rasch dieses ‚Dazwischen‘ zum vorrangigen Verständigungsziel wurde, wissen wir nicht. (Heute ist gerade dieser Bereich vorbereitenden denkenden, kommunikativen Handelns unumgänglich.) Um Aktivitäten in größeren Gruppen, mit zeitlichem Vorlauf, mit unterschiedlichen Fähigkeiten zu koordinieren, entwickeln Menschen Stile, Gesten und Codes, mit denen Handlungsvorbereitungen erst möglich werden. In ihnen machen Zeichen gegen die Zeichnungen Karriere, Notationen gegen Narrative.

Allerdings: Die Freiheit, aus der direkten Kopplung der Muster herauszutreten und in die freie Welt der Modelle und Bedeutungen zu wechseln, lässt etwas entstehen, das es vorher auch nicht gab: Risiko des Unverständnisses. Als störend erschien und erscheint die Anarchie des Zeichnens, die die Kontinuität des Zeichens ständig zu unterlaufen scheint. Folglich muss eine neue Spielart des Sehens erfunden werden: gelenktes Sehen durch absichtliche Darstellung. Sie wird mit dem Versprechen des Abbildes, der Repräsentation, der Nachahmung durchgesetzt. Der Individualität der Zeichnung wird ein machtvolles Gegenüber entgegengestellt: das einer diffusen Ganzheit verpflichtete Gemälde, das voll ausgemalte Bild. Dieses Gemälde-Bild ist der Zeichen-Ordnung näher als der Zeichnung.

Freiheitsgrade des Sehens

W.J.T. Mitchell lenkte die Forschungen auf das Denken in Bildern über Bilder. Er wollte provozieren mit der Frage, „ob es Dimensionen von Kultur gibt, die jenseits oder außerhalb der Sprache liegen, ob etwa Bilder Vehikel von Erfahrungen und Bedeutungen sind, die sich der Übersetzung in Sprache verweigern“.13 Eine kantige Position war dies allerdings nur gegenüber einer hochmütigen Verkürzung von Sprache auf alphabetische Schriftsprache, auf den Lehrtext. Es wäre eine schwierige Provokation gewesen, hätte er sich der Frage gewidmet, wie die Komposita, Strukturen, Variabilitäten, Variationen von Visualisierungen kulturell, ökonomisch, technologisch, politisch, repräsentativ, repressiv ‚aufgebaut‘ sind.

Anerkennt man, dass Zeichnen eine Sprache ist und alphanumerische Codes Zeichnungen errechnen, normalisiert sich die vermeintlich sensationelle Frage nach dem „außerhalb der Sprache“ rasch: Visualisierung ist eine Sprache. Grammatiker werden einwenden, dass weder eine strikt formalisierte Grammatik noch eine Universalgrammatik mit Zeichnungen möglich ist. Nun, das muss auch nicht sein, da Zeichnen auf kognitive Kooperation aufbaut, auf assoziatives Wiedererkennen, auf Ausweitung der Zonen der Sichtbarkeit und des Unsichtbaren. Zudem lässt sich gegen die Vorrangigkeit der Grammatik einwenden, dass aktuelle Sprachentheorien davon ausgehen, dass Laut-, Zeichnungs-, Zeichensprachen entstanden ohne eine strukturierende, also ausdrücklich gliedernde Grammatik. Dies ist, so die These, eine späte, inhärente Erfindung, die sich in Rechenregeln ebenso darlegt wie in Schreibregeln. Andererseits werden Spracheuphoriker wie Willard van Orman Quine und Sprachstrukturalisten (in Nachfolge von Jacques Lacan) einwenden, dass das Bild ebenso zu lesen sei, wie die Schrift.

Dass alle Menschen zeichnen können, heißt nicht, dass Zeichnen ‚unmittelbar‘ ist.

Mag sein, dass visuelle Zeichen so in lineare Matrix eingefügt werden können, dass die Sichtfläche wie eine Textfläche wirkt, oder so, dass Sehen über zu sehende Bedeutung und Geltung funktioniert. Dies ist, wie das Wort schon sagt: eine Sehfunktion, die textkulturell erzwungen ist. Dass sie lange tauglich war für die Reproduktion verschiedenster Ökonomien, Staatsformen oder Darstellungsgattungen, gibt keine Auskunft über Zeichnung, Zeichnen, Sehen, Anschauung, Voraussicht, Nachsicht durch das Auge. Man sollte sehr bedächtig mit dem Schriftsprachen-Argument umgehen, da es Typokratien rechtfertigt und eine zentrale Quelle des Denkens verdammt: den sichtbar gemachten und sichtbar wiederholten Unterschied.

Der Ausweg aus der selbst gewählten Falle besteht nicht darin, die Psyche und ihre Analysierbarkeit anzurufen, oder der Rezeption nachzujagen, in der doch wieder nur die Codierungen von Sehfunktionen und die dabei möglichen Gefühle entdeckt werden, wenn überhaupt. Der Ausweg besteht darin, die visuellen Freistellungen des Denkens zu erforschen, begreifen zu lernen, wie der menschliche Körper visuelle Eindrücke in visuelles Denken, in Zeichen und Zeichnungen umwandelt. Dazu gehört auch, sich darüber klar zu werden, wie visuelle Intelligenz entsteht und wie seit etlichen Jahrhunderten deren Wissensweisen in massiven und blutigen Kriegen in die Überlebens-Bescheidenheit des Schriftassistenten oder der Kunst gezwungen wurden.

Es ist also keineswegs hilfreich, vom Bild zu reden. Im Bild (Gemälde, Fotografie, Videografie) siegt die Funktion des zugelassenen Sehens über den ungerichteten Reichtum der visuellen Wahrnehmung.

Großartige Gemeinsamkeit: Visualisierung

Die sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten, eine Zweite Welt, eine Künstliche Welt oder Kultur zu erfinden, sind wohl nach dem Stand der Forschung, dem Menschen eigen, also allen Menschen.

Zur Zweiten Welt gehört die Anarchie des improvisierenden Zeichnens; und es gehören zu ihr die erfundenen Zeichen, das Rechnen mit Zeichen, das Schreiben mit Zeichen. Wir begrenzen dieses oft auf vernünftiges, dem diskreten Zeichenkalkül folgendes Denken, unterschätzen aber, dass wir Menschen unsere Denkergebnisse, unser Wissen bildnerisch, metaphorisch, in visuellen Erzählungen und lokalisierenden Erinnerungen von Zusammenhängen ‚speichern‘.

Mit visuellen Darstellungen, mit Zeichnungen, unterbrechen wir Menschen immer noch, vermutlich seit über 40.000 Jahren, die direkte biologische Beziehung zur Welt und erzeugen eine indirekte Beziehung, indirekte Biologie. Mit dem Bild, dem Gemälde, aber auch der Fotografie oder der digitalen Visualisierung wird diese Unterbrechung gestoppt, – und als Vorstufe zur Bedeutung erklärt. Diese Selbstlegalisierung des angehaltenen Sehens verliert die Beziehungsvielfalt des Zeichnens. Gerade in der zeichnerischen Unterbrechung entstehen Witz, Ironie, Erzählung, Symbol, Erinnerung, Verruf, Beleidigung, die im Gemälde aufwendig ‚hereingeholt werden‘ muss.

Visualisierung ist eine großartige Gemeinsamkeit im interaktiven Handeln aller Menschen.

Das Gemälde ist Dispositiv im Sinne Michel Foucaults, – eine Ordnungssetzung. Zur modernen europäischen Ordnung, aus der auch Hugo A. Bernatzik kam, gehörte, dass in langen, uneinheitlichen Prozessen handwerkliches Wissen perfektioniert und der Arbeitskörper industriell ‚arbeitsteilig‘ zerlegt wurde, dass das Instrument verbessert, die Technik verfeinert, die Zeichen bunter oder zweifarbig, die Materialien reichhaltiger, die Stile strikt, die Schulen des Zeichnens und Denkens in ‚produktiver Konkurrenz‘ ausgerufen, und gegnerisch, oft feindlich geführt wurden.

Um wissenschaftlich beobachten, erklären und verstehen zu können, was, wie, warum Menschen zeichnen, müssen die spezifischen Kulturen der bedingten, abhängigen, verpflichtenden, anarchischen, experimentellen Selbsterfindung und Selbstorganisation dargestellt werden. Nichts ist in menschlichen Zusammenhängen selbstverständlich oder unmittelbar.

Dies alles hätte keinen Spielraum, würden Menschen sich nicht auf diesen Erfindungs-Spalt zur eigenen, selbst gemachten ‚anderen‘ Welt, zu machbaren Lebensweisen einlassen, also auf die Zweite Welt aus ihrer sinnlich-abstrahierend eingesetzten Handfertigkeit.

Visualisierung ist eine großartige Gemeinsamkeit im interaktiven Handeln aller Menschen. In ihr werden unterschiedliche kulturelle Entwicklungen möglich und wechselseitige Abhängigkeiten unhintergehbar. Zeichnungen sind demnach nie an feste visuelle Regeln oder Codes gebunden. Sie sind Momente des Veränderungsgeschehens.

Visualisierung ist die latente, und immer wieder entstehende Anfangsszene der Kooperation, die Joachim Bauer als „Prinzip Menschlichkeit“ angesprochen hat. Wir haben sie in der Hand, im Focus, im Gehirn. Kooperation ist der Entwurf einer weiterführenden Mimesis. Zwischen Menschen erfordert dies Zivilisation, und diese hat mehr mit strukturierenden Zeichnungen zu tun, als mit farbigen und zwingenden Begriffs-Gemälden. Gleichwohl lässt sich sagen, dass wir anthropologisch noch um einiges davon entfernt sind, die Netzwerke menschlicher Abstraktionen auch mit Zeichnungen zu verbinden. Für eine Anthropologie des Medialen ist die Erforschung von Zeichnungen wohl aber unerlässlich.

© Springer Wien – New York 2011

Anmerkungen

1 Manfred Faßler 2005; 2008; 2009

2 Lamberto Maffei, Adriana Fiorentini 1997: Das Bild im Kopf. Von der optischen Wahrnehmung zum Kunst-werk

3 Terisio Pignatti 2005: Die Geschichte der Zeichnung. Von den Ursprüngen bis heute

4 Martin Jay, 1992: Die skopischen Ordnungen der Moderne; 179

5 Farbe war als Vervollständigung / Ergänzung der Form eingesetzt und erst über die ästhetische Moderne zu einem eigenständigen Ausdrucksmittel geworden.

6 Milton Glaser 2008: Drawing is Thinking

7 W.J.T. Mitchell 2008: Bildtheorie

8 Donald D. Hoffman 2002: Visuelle Intelligenz,

9 Frank R. Wilson 2000: Die Hand – Geniestreich der Evolution, 312

10 Manfred Faßler 2005, 2008, 2009

11 Joachim Bauer,  2008: Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus

12 David B. Givens 1990: Was wir aus der Menschheitsgeschichte lernen können; 98

13 W.J.T. Mitchell 2008: Bildtheorie; 41

Literatur

Bauer, Joachim 2008: Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus, Hamburg

Brembs, Dieter 2006: Die Kunst-Akademie. Faszination Linie. Zeichnung neu erleben, Wiesbaden

Faßler, Manfred 2005: Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen, Wien New York

Faßler, Manfred 2008: Der Infogene Mensch. Entwurf einer Anthropologie, München

Faßler, Manfred 2009: Nach der Gesellschaft. Infogene Welten – anthropologische Zukünfte, München

Givens, David B. 1990: Was wir aus der Menschheitsgeschichte lernen können. In: R. Posner (Hg.): Warnungen an die kommende Zukunft, München, 95-122

Glaser, Milton 2008: Drawing is Thinking, Woodstock New York

Hoffman, Donald D. 2002: Visuelle Intelligenz, München

Jay, Martin 1992: Die skopischen Ordnungen der Moderne. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Opladen 2/1992; 178-195

Leroi-Gourhan, André 1984: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main

Maffei, Lamberto; Fiorentini, Adriana 1997: Das Bild im Kopf. Von der optischen Wahrnehmung zum Kunstwerk, Basel Boston Berlin

Mitchell, W.J.T. 2008: Bildtheorie, Frankfurt am Main

Pignatti, Terisio 2005: Die Geschichte der Zeichnung. Von den Ursprüngen bis heute, Stuttgart

Tomasello, Michael 2002: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt am Main

Wilson, Frank R. 2002: Die Hand – Geniestreich der Evolution, Reinbek bei Hamburg

Manfred Faßler, geboren 1949, ist Professor für Soziologie am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe Universität in Frankfurt / Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Medienevolution und medienintegrierte Wissenskulturen. Zuletzt erschienen: Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen (Edition Transfer / Springer, 2005), Der infogene Mensch. Entwurf einer Anthropologie (Fink, 2008), Nach der Gesellschaft. Infogene Welten, anthropologische Zukünfte (Fink, 2009). Im Herbst erscheint sein neues Buch: Kampf der Habitate. Neuerfindungen des Lebens im 21. Jahrhundert (Springer Verlag).

Quelle: Recherche 2/2011

Online seit: 05. November 2019

Aus: Doris Byer, Christian Reder (Hrsg.): Zeichnung als universelle Sprache. Werke aus Südostasien und Melanesien. / Drawing as Universal Language. Graphic Works of Southeast-Asia and Melanesia. Hugo A. Bernatzik Sammlung / Collection 1932 – 1937. Springer, Edition Transfer 2011. 216 Seiten, 100 Abb. in Farbe, ca. € 49,95.

Das Buch erscheint im Oktober 2011.