Sonderzone Bildung?

Ein Abschied. Von Manfred Faßler

Online seit: 25. Oktober 2019

Die Prognose M. McLuhans, Rechner und digitale Speicher würden für education (ins Deutsche übersetzt: Bildung) besonders wichtig, war zwiespältig. Meinte er, dass Bildung auch in das globale Dorf abwandere? Und bliebe national-individuelle Bildung als kultureller Phantomschmerz? Oder setzte er auf Bildung im Netz? Das wäre fast visionär, zumal in den 1960ern und 1970ern digitale Netze kaum existierten.

Heute, unter Bedingungen von Web 2.0, Internet Next Generation oder Social Software, zerren Phantomschmerzen und Realängste an der nationalen und kulturellen Bildung ‚des Individuums‘. Ermöglichen die Binnenverhältnisse der digitalen Netzwerke, die Aktivitäten der Produser, der User Generated Contents, von einer erzieherischen, hinführenden Unterweisung (also educatio), von kompetenter Vorbereitung außerhalb digitaler Netze zu sprechen? Lehrer und Eltern scheitern oft gerade daran, inhaltlich und technikbezogen. Für sie ist dies zum Teil dramatisch. Ein Zurück ist nicht möglich. Wir müssen Bildung neu denken, als richtungslose aber kooperative, selektive und nachbarschaftliche Denkfähigkeit, egal wie abstrakt und anonym diese Nachbarn sind. Es geht um kollaterale Denkfähigkeit als zivilisatorische Anforderung.

2.

Die Gespräche hängen heute zu gleichen Teilen am transnationalen Konzepten von Bildung, an Idealen der Individualisierung und am Konzept von Computer und WEB.

Die Anforderungen an den einzelnen Menschen, sich mit den ihm möglichen eigenen Denkweisen und deren Entstehung reflektierend zu befassen, bleiben. Die bürgerlich verabredeten Regeln und deren Gesellschaftsheimat lösen sich auf. Überzeitliche Bilder vom Menschen, oder Bilder von Technik, welche dem Menschen fremd sein soll, oder von weltweit einheitlichen Bedeutungsnetzen durchziehen noch viele Vorstellungen. Weder Gesellschafts- noch Technoklassik sind gegenwärtig anzusetzen.

Computer, das Universum vernetzter Datenkanäle, von Mikroclustern der Festplatte bis zum Internet, sind ein transklassisches System, wie es Gotthard Günther ansprach, nichtlinear, wie Heinz v. Foerster betonte. Will heißen, es ist kein soziales Unterprogramm, aus dem bekannte Gesellschaft entsteht. Was in ihm geschieht, ist weder durch Gesellschaft einheitlich vorbereitet, noch sind die Akteure darauf aus, eine Gesellschaftsähnlichkeit oder (gar Nationalkultur) zu erzeugen. Gegenwärtig leben täglich rund zwei Milliarden Erstnutzer und 700 Millionen Zweitnutzer von Computern in Netzwerken. Sie arbeiten in Projekt-Ökonomien und organisieren ihr Online-Leben über Projekt-Biografien und Moment-Kollektive.

Es ist das erste Netz, das Echtzeit und Lebenszeit, Lokalität und globale Präsenz für alle Menschen in derselben Weise verbindet. Wie Menschen das deuten, was andere in Netzwerken machen und wie sie mitmachen, ist der zweite Schritt. Zunächst lohnt es sich festzuhalten: digitale Netze sind globale Anthropotechnik, ungerichtet und ohne institutionellen Bildungsauftrag.

3.

Es waren anfangs stille Durchsetzungskonflikte, die mit Worten wie „Netzrevolution“, „Anarchie der Netzentwicklung“ – und etwas lauter –, mit Informations-, Daten-, Bilderflut verbunden wurden. Gegenwärtig beziffern Kritiker diese Prozesse doch grundsätzlicher, da die soziale Welt, wie sie sie kannten, unwiederbringlich verschwindet. Bildung wird in das Zentrum eines Abwehrkampfes gestellt, – „Competing paradigms“(Nina Lilian Etkins, 2009). Geld und Abwehrintelligenz werden investiert. Aber mit welchen Begründungs- und Legitimationsweisen? Vordergründig scheint es ein Wettkampf um die Regeln zu sein, nach denen Informationen in Wissen übersetzt, Kooperationen in Netzwerken entwickelt werden. Hintergründig ist es ein unhintergehbarer Umbau regionaler Wissens- und Bildungssysteme zu Unterprogrammen globaler Wahrnehmungs- und Denkökonomien.

Immer häufiger zeigen sich dabei Befürchtungen, an den ungerichteten und kurzlebigen sozialen Netzwerken zu scheitern, so als verriete digital betriebene Social Software ‚das Soziale‘. Beim Stichwort ‚Verrat‘ fühlen sich inzwischen viele angesprochen, denen ‚das alles‘ viel zu schnell geht, denen zu viele Menschen an der Neufassung global verstreuter sozialer Systeme beteiligt sind. ‚Zu viele‘ heißt dann auch, zu viele aus Gesellschaften, Ökonomien, Kulturen, die nicht durch einen Staat, eine Rechtsordnung, eine normative Ordnung oder eine Weltanschauung (vornehmlich modern gedacht) kontrollierbar sind. Binnen weniger Jahrzehnte haben hochgradig vernetzte Informationsströme und Projekträume zu Infrastrukturkrisen der traditionellen Ökonomien geführt. Aber nicht nur dazu.

Wir müssen Bildung neu denken, als richtungslose, aber kooperative, selektive und nachbarschaftliche Denkfähigkeit.

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts büßen moderne Gesellschaftserklärungen ihre Schlüssigkeit ein. Ihre Legitimität löst sich in globalen Informations-, Wissens- und Aufmerksamkeitsökonomien auf. Wie soll noch sinnvoll von Gesellschaft gesprochen werden, von bürgerlicher Gesellschaft? Mit ihr verschwinden die dramaturgischen Anteile von Utopien. Hart trifft es die Kategorie Bildung. Sie war aufs Ganze angelegt, vorausgesetztes oder erreichbares absolutes Wissen. Verliert sich das gesellschaftliche Ganze, bleibt von Bildung eine Art individueller Restordnung übrig. Der einzelne Mensch sieht sich seines Herkunftsversprechens, nämlich selbstverständliches Mitglied einer Gesellschaft zu sein, beraubt. Will er diesen Raub durch (global gerichtete) Bildungs- und Wissensanstrengungen ausgleichen, also Zugehörigkeit beweisen, findet er sich in ökonomisierten Informations-Netzwerken wieder, die ihm Projekt- und Durchgangszugehörigkeit versprechen. Allerdings muss er die immer neuen Bedingungen absorbieren. Hier müsste Bildungsforschung ansetzen. So viel in den Verhältnissen von Informationsströmen, Wissen und Bildung ist nicht gelöst.

Manchmal liest man:

„Mediennutzer müssen lernen, den News-Fluss zu scannen und einzelne Informationen in kürzester Zeit auf ihre Relevanz zu filtern. Das Know-how zum Filtern – maßgeschneiderte News auf Portalen, Twitter-Listen, etc. – wird zum Schlüssel gegen die Überforderung“, so Günter Exel (http://www.guenterexel.com).

Mehrheitlich geht es um Social Network Overload, von Content Overdose wird gesprochen. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass irgendwann eine Überdosis von Sozialem als Kritik an digitalen Zustandsänderungen erfunden würde. Überdosis? Nach Daten-, Informations-, Bilderflut jetzt auch noch die Sozialflut? Social engineers machen Vorschläge, dies zu managen: mit ping.fm, um Nachrichten gleichzeitig zu aktualisieren, TweetDeck, um Nachfolger dieser Nachrichten zu selektieren, RSS, um Blogs, Websites, Updates strukturiert zu lesen. In manchen Norm- und Bildungsdebatten melden sich allerdings andere Haltungen.

Was soll das aber für eine Bildung sein, die gegen ein ideologisches Projekt des Social Overload, Content Overdose ausgelobt wird?

Man muss diese Haltung ernst nehmen. Sie zeigt, dass soziale Kopplung (Sozialisation) deutlich langsamer ist als digitale Kommunikation (informationelle Kopplung). Und sie zeigt, dass die, die sich den digitalen Querschnitts- und Globalwirklichkeiten nicht entziehen wollten, komplexe Zusammenhänge, also soziale Systeme, nicht mitgedacht haben.

4.

Es müsse möglich sein, einen humanistischen und praktischen Weg zu finden, „to maximize value of the collective on the Web without turning ourselves into idiots,“ schrieb Jaron Lanier in Digital Maoism 2010. Den „middleclasses“ gesteht er da nichts mehr zu. Sie seien durch das Web zerstört. Ihre Funktion der Wissensverwaltung sei vom Netz übernommen worden. Dramatik pur, historisch und sozial völlig richtig. Seine Folgerung: „The best guiding principle is to always cherish individuals first”, humanistisch und praktisch. (31.03.2010.) Es geht nicht mehr allein um Veränderungen der industrietechnischen, bürokratischen, labortechnischen Arbeitsorganisation, mit der „webification“ verbunden wurde. Regeln und Normen des Zusammenhalts werden erfragt, gefordert. Aber aus welchen Diskursen heraus: Innovation, Krise, Werte? Würde es nicht genügen, von zivilisatorischen Regeln der Informationsverwendung auszugehen? Statt „humanistic“ eher über Hominisierung sprechen, über die materiale Kultur von Digital- und Mikro- und Nanotechnologien? Oder werden Kultur und Zivilisation als einander fremd eingestuft? Zivilisation als rousseausche Bedrohung von Kultur? Als Bedrohung kulturalistischer Kontexte?

Wir haben in den Jahrzehnten der digitalen Formatierungen nicht gelernt, von Schaltern, Ports, Festplatten, Soft-Hard-Wetware, Informationsströmen, Daten den Abstand zu nehmen, der erlaubt, von der Informationsästhetik zum intelligenten Konsum zu wechseln, eine Verfassung informationell organisierten Lebens zu denken. Wir redeten und reden von Interaktivität, Immersion, Partizipation, von deliberativer oder direkter Demokratie, von Kreativität, – allerdings mangelt es grundlegend an Debatten um ökonomische, normative, juridische, konkurrenzielle Verfassung informationeller Zusammenhänge.

Berücksichtigt man, dass die Lebendigkeit der Informationsnetzwerke in auswählenden, gruppierenden, problem-lösenden oder problem-stellenden Interaktivitäten besteht, und diese in hoher Geschwindigkeit erfolgen, könnte man der These folgen, digitale Netze unterliefen die Reflexivität. Aber dies ist wissenschaftlich nicht haltbar. Vielmehr entstehen Reflexionsmodi, die im Projekt, im Netzwerk, in der Community ihre Besonderheit entwickeln. Die Gruppe (Population) zieht Reflexion an, und gibt zugleich dem Einzelnen die Aufforderung weiter, über die Ergebnisse der Gruppe ‚nachzudenken‘. Bildung in der Gruppe und Weiterbildung zwischen (weltanschaulich neutralen und heterogenen) Projekten? Warum nicht für einen pragmatischen Bildungsgedanken werben, für improvisationsfähiges komplexes Denken?!

5.

Benötigt wird für die globalen informationellen Wissensräume ein zivilisatorisches Konzept von Bildung, das den Anforderungen der Netzwerke als Anthropotechnik entspricht. Ich halte nichts davon, Bildung in heterogenen, weltweiten Denkzusammenhängen mit der Verpflichtung religiöser oder kultureller Repräsentation zu verbinden.

Im Zentrum meiner Kritik stehen Bestrebungen, erneut Zusammenhalt und Zusammenhang über ein ‚überzeitliches Menschbild‘ zu setzen. Ein solches hatte E. v. Glaserfeld „hoffnungsloses Dogma“ genannt (1997, 58). Wenn konfessionelle und politische Meinungsmacher mitteilen, dass „Bildung eine der großen Herausforderungen unserer Zeit“ sei, ohne den Grund dieses Norm-Alarms und der Ordnungs-Gesten zu erörtern, ist Aufmerksamkeit gefordert.

Vereinfacht gesagt: es stehen sich Netzwerke von Alt-Semantik und Netzwerke informationeller Pragmatik gegenüber.

Gegenwärtig leben täglich rund zwei Milliarden Erstnutzer und 700 Millionen Zweitnutzer von Computern in Netzwerken.

In der altsemantischen Wolke versammeln sich gesetzte, regulierende, kolonisierende Maßstäbe von Menschlichkeit, verbindlichem Zusammenhang etc., in dem die Bildung des Menschen entweder deduktiv verstanden wird oder als Anschalten, Aktivieren des Bildungskerns, der sich dann zur Persönlichkeit entwickelt, entfaltet etc. In aktuellen Fassungen geht es dann nicht mehr vorrangig um konfessionelle Herkunft und Zukunft. Funktionen, Rollen, Zugehörigkeit werden betont. Bildung bleibt dennoch ein deduktiver Tendenz-Begriff.

Die Pragmatiker (und hier nehme ich – im Sinne der Vereinfachung – alle Initiativen und Programme engagierter E-Learningforscher und -Umsetzer in Anspruch, alle Länder- und institutionenübergreifende Portale wie http://www.e-teaching.org und Open-Source-Initiativen auf) sehen Bildung als ein Zusammenhangswissen, das als Netz erst praktisch entsteht. So werden Plattformen entwickelt, in denen es um Austausch praktischer Erfahrungen geht, in denen u. a. versucht wird, die Intransparenz und Uneinheitlichkeit der Medienerfahrungen bei Lehrenden und Lernenden aufzulösen. Sie reagieren damit auf die sich ausweitenden Niemandsländer zwischen klassischer Institutionsexpertise (die studierten Lehrer wissen, worum es im Leben geht), den öffentlichen digitalen Expertenportalen (http://www.brainguide.de/ ) und der individuellen Projekte-Expertise.

Diese Projekt-Expertise weist eine Besonderheit auf, die den Bruch mit der überlieferten Bildungs-Semantik markiert: Kompetenzen sind nicht in Qualifikationshierarchien archiviert. Vielmehr werden Kompetenzen in sozialen Netzwerken über die Angabe von Interessengebieten oder Projekterfahrungen angesprochen und vererbt. Dabei werden die Erfahrungen nicht dokumentiert. Für sie gibt es keine eigene, von den Netzwerken abgesetzte, institutionelle Lagerverwaltung. Umgekehrtes gilt: Persönliche oder projektbezogene Kontakte bilden Zusammenhänge. Diese sind nicht in vergleichbarer Weise dauerhaft, wie dies religiöser, politischer, institutioneller Zeitbedarf erfordern.

Gerade dies hat den Eindruck aufkommen lassen, gegenwärtige Lebensverhältnisse verlören sich in end- und heimatloser Beschleunigung. Aus meiner Sicht geht es aber um etwas anderes: um den Zusammenbruch des an-weisenden Bildungsdenkens, also eines Denkens, das mit Zielformaten auftritt und die Gehrichtungen und Entfaltungsverläufe gleich dosiert mitliefert. Damit ist meine Denkrichtung markiert: ich setze auf praktische und semantische Netze, auf Interessengebiete und Projekte und sehe in ihnen die Grundlage für vorläufige Allianzen herkunftsungleicher Kooperationskompetenzen. Ich verwende diesen Ausdruck, um Projekt (Kooperationsbedarf) mit Kompetenzen (individuelle Lern-, Projekt-, Experiment-, Anwendungserfahrung) so verbinden zu können, dass projektspezifisches und projektüberschreitendes Zusammenhangsdenken darstellbar werden.

6.

Von Netzwerken zu sprechen heißt, auf die Kommerzialisierung von Information, auf die mediale Kopplung und Ökonomisierung von Wahrnehmung einzugehen. Weltweite kognitive Kapitale streiten um die Momente produktiver Aufmerksamkeit. Erzwungen wird ein umfassender Umbau menschlicher Wahrnehmung, menschlichen Denkens, der Körper-Ding-Beziehungen, dinglich-struktureller Intelligenz etc. Dabei ist Mensch nicht so dahin gesagt. Das Internet ist eine globale Wolke von Anthropotechniken. Ob und wie durch sie neue Gesellschaftsformation oder Kulturen entstehen, ist zunächst zweitrangig. Der Mensch erfindet und fügt sich pragmatisch in die Interfaces ein und entwickelt eine für ihn relevante Welt. Sie erfordert zu lernen, zu unterscheiden, zu koordinieren, zu kooperieren nach ihren eigenen Regeln der rasch wechselnden verlinkten Aufmerksamkeit, der Zeitdynamiken, Erfahrungsmöglichkeiten, Entscheidungsstrukturen. Auf diese mit Bildung aus vordigitalen Zeiten zu reagieren, ist nicht schlüssig.

David Gelernter schrieb in Time to start taking the internet seriously:

„The Internet is no topic like cellphones or videogame platforms or artificial intelligence; it’s a topic like education. It’s that big. Therefore beware: to become a teacher, master some topic you can teach; don‘t go to Education School and master nothing. To work on the Internet, master some part of the Internet: engineering, software, computer science, communication theory; economics or business; literature or design. Don‘t go to Internet School and master nothing. There are brilliant, admirable people at Internet institutes. But if these institutes have the same effect on the Internet that education schools have had on education, they will be a disaster.“ (http://www.edge.org/documents/archive/edge313.html)

Verliert sich das gesellschaftliche Ganze, bleibt von Bildung eine Art individueller Restordnung übrig.

Unvermeidbar ist, Unterscheidungs-, Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten aus den Logiken der Lebensumstände heraus erklären zu lernen, die durch den neuen Realitätssouverän bestimmt werden. Erst dann lassen sich – vielleicht – Konzepte formulieren, mit denen sich Menschen um das Denken anderer Menschen (also um eine ihnen fremde Individualität) bemühen könnten. Solange die Erklärung zu erwartender informationsgebundener, vernetzter Lebensumstände fehlt, droht vorschnelle Bildung „ein Desaster“ zu werden.

Es breite sich „Erziehung zur Müdigkeit“ (Roger Behrens) aus, wo doch die Bedingungen fluider, flexibler, dynamischer Lebenspraxen gefordert sind. Statt sich gegenüber digitalen Informationsräumen für nicht zuständig zu erklären, sollte gefördert werden, sich in unbeendbaren Prozessen für zuständig zu erklären, mitzumachen und unterscheidend und erkennbar einzugreifen.

Buchstäbliche Norm, die sich außerhalb der zeit-ökonomischen, informationellen Pflichten wähnt, stellt sich gegen Informationsnetzwerker. Kulturalistische Welt- und Menschenbilder beherrschen die Szenen, die immer wieder neu religiös ausgedeutet werden. Dies hat mit der Herkunft dieses Denkformates zu tun. Bildung war eine weltliche Kreditkonfession. Der Zuschuss, der sich zu amortisieren hatte, wurde von Bildungs-Institutionen wie Familie, Kloster, Universität, Schule einem Menschen gegeben, der sich als (produktives, dankbares) Individuum zu verhalten hatte. In diesem Umfeld entstand Bildung als Anti-Wissen, als Anti-Technik. Eine Art nicht-theologischer Zwei-Reiche-Lehre: hier Bildung, dort Wissenschaft, Technologie, Abstraktion. Noch in Heinz-Joachim Heydorns (1916–1974) These vom grundsätzlichen Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft ist diese Zwei-Denkreiche-Lehre präsent.

6a. Es gibt viele Quellen für den Imitations- und Annäherungsgestus, der Bildung genannt wird. Eckpunkte mögen genügen. Für Augustinus (359–430) war Bild die Anwesenheit der menschlichen Seele, dem Einen verpflichtet. Erkenntnis war im Glauben begründet. Etliche arbeiteten sich daran ab, suchten dem so verstandenen Bild auszuweichen oder es mit Schrift zu umgehen.

Meister Eckhart (1260–1328) notierte die Idee der Imago-Dei-Lehre. Der Mensch, nach dem Ebenbild Gottes geschöpft, solle sich dieses Status als würdig erweisen und immer im einzelmenschlichen Annäherungsbestreben leben. Aus der theologischen Erziehungs- und Demuts-Vorgabe entwickelte sich eine weltlich-erzieherische Idee, – später von Protestanten voran getrieben – in deutscher Sprache: Bildung. Nicht das Aufziehen, nicht die Zucht, nicht die Erzeugung von Nachwuchs, sondern die Annäherung an ein religiös-weltliches Mischbild von Menschsein sollte es richten. Abbild (Repräsentation) und Nachfolge (Imitatio) gestanden dem visuell-unterscheidenden Wahrnehmen kein produktives Vermögen zu; Modelle unverrückbarer und unbeeinflussbarer ‚Anwesenheit in sich‘ oder Fernanwesenheit. Bild, immer im Verdacht Goldenes Bildkalb zu sein, zu werden, verlor allerdings zunehmend an Wahrnehmungs- und Erklärungsraum. Lehrtext und alphabetisiertes Denkvermögen bestimmten die Agenda, auch in den Zeiten, in denen Beobachtungen und Empirien die beginnende wissenschaftliche Differenz ankündigten. Anstelle des Bildes zwängten sich empirisch-experimentelle Anschauungen, Einsichten, Ansichten, Beobachtungen in die Rolle des Gegenübers von Schrift und Text. Die Encyklopädien des 18. Jahrhunderts sind voll davon. Zeichnungen, aus exakten Beobachtungen und Umsetzungen gewonnen, wurden Wissenschaftsassistenten. Zwischen Bild und Text traten empirische Beobachtung und visuell kontrollierbare Experimente.

Der einzelne Mensch sieht sich seines Herkunftsversprechens, nämlich selbstverständliches Mitglied einer Gesellschaft zu sein, beraubt.

Bevor naturwissenschaftliche Praxis diese Veränderungen einbrachte, war bereits viel erkenntnistheoretisch gestritten worden. Thomas v. Aquin (1225–1274) hatte sich gegen Augustinus gestellt mit der These: „Nichts ist im Geist, das nicht vorher in den Sinnen war.“ Wie was in die Sinne geriet, konnte noch nicht diskutiert werden. Thomas Hobbes (1588–1679) griff die Verpflichtung zur Beobachtung auf, die dann von John Locke (1632–1704) in frühe moderne Wissenschaft ausgeweitet wurde. Dabei bezog er sich auf den Satz von Th. v. Aquin. Ruppig, und in Gottesbeweismanier antwortete G.W. Leibniz (1646–1716): „Außer der Geist selbst“. Für beide galt: der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) hatte die Hoffnung geschürt, durch Erziehung, Beobachtung der Welt, die Zustände aus dem Sog der blocktheologischen Selbstvernichtung herauszuführen. Zum Umfeld eines lernorientierten Denkens dieser Zeit gehört dann auch Comenius (1592–1670): „Wir wollen alles schnell erlernen.“

Bei Immanuel Kant (1724–1804) las es sich dann so, dass die Darstellung in den Bildbegriff einsickere durch die Anwendung auch rationaler Fähigkeiten. Regelhaftigkeit, und eine Unterstützung von Vernunft, wurde in die Objekte verlegbar. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) machte den großen Schritt in Richtung eines Visualisierungs-Denkens, als er schrieb, der Mensch befasse sich mit „Erscheinung unsinnlicher Eigenschaften“. Da war schon eine Menge dran, nur eben nicht, dass unsinnliche Eigenschaften einfach erschienen. Zu glauben, sehend wahrzunehmen sei durch ein feststehendes Außen bestimmt, widerspricht heutigen Erkenntnissen und Heuristiken. Gleichwohl gewinnt Unsinnliches Realqualität.

6b. Geschickt, mit einem cartesianisch-rationalistischen Augenzwinkern (René Descartes: 1596-1650), [res cogitnas als Denkmaschine konzipiert / res extensa gehorchte der Maschinendoktrin] begann Bildung in den praktischen, werklichen, stofflichen, ethischen, moralischen Übungen, die, einmal durchlaufen, den Menschen auf seine endlose Selbstannäherung schickte. Alles zusammengenommen schuf einen festen Sockel deduktiven Bildungsdenkens. Gewissenhaft sich den Zielen zu nähern, war nicht mehr als geistige Fleißarbeit, der Weg gesäumt von Fleißkärtchen und Weiheprüfungen: Textwissen, next level. Gewissen war Fleiß – verwiesen auf nicht zu hinterfragende Ideal-Ursache. Der Sensualismus, wie Joseph Marie Degérando (1772–1842) die Denkstrecke von Thomas v. Aquin bis John Locke nannte, führte zwar die Protokolle der Sinne, also eine frühe induktive Logik, ein. Allerdings konnte diese wissenschaftliche Erkenntnisentwicklung den Hochmut deduktiver Bildung nicht brechen. Gewissen an Erkenntnis, an Wissen zu binden, gelang erst im 20. Jahrhundert. Und dabei ist Heinz von Foerster (1911–2002) sehr für Wissen und Gewissen zu danken. Es kommt aus der Erkenntnis: „Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen“, so H. v. Foerster im Interview mit Bernhard Pörksen 1998. Er plädiert für ein Gewissen aus Bescheidenheit, gegen ein Gewissen aus der Arroganz der Vorbestimmung.

6c. Die kybernetische Wende in den 1940ern und 1950ern eröffnete eine neue Perspektive: nicht den ‚neuen Menschen‘, sondern die Verbesserung, – gestützt auf künstliche Intelligenz, künstliche Umgebungen, digitale Assistenten, Roboter als nächste Verwandte; aber auch durch die Kognitive Wende der 1950er-Forschungen zur schulbaren Leistungsverbesserung der Wahrnehmung oder durch LSD-Experimente in den 1950ern der Einstieg in das, was heute human enhancement oder neuro enhancement genannt wird. Psychopharmaka-Kultur: Leben mit meiner Lieblingschemikalie. „Better Living Through Chemistry“. Der „therapeutische Pessimismus der biologischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts“ wurde überwunden (Nicolas Langlitz, 2010, 270). Die Grenzen des kybernetischen Kommunikations-Autoritarismus der 1940–1960er, – für den unter anderen Karl Steinbuch steht –, wurde durch expandierende digitale Netzwerke übersprungen.

Nachricht ist: Haltet Euch fern von Bildung! Kümmert Euch um zivilisatorische Humanisierung!

Angesichts des Zusammenbruchs der Bilder unwandelbarer Natur und deren moralischer Autorität, verliert sich auch das Menschbild im Vagen. Natur ist in Bio-, Info-, Nano-, Neuro-, Astrozustände entlassen.

6d. Diese wenigen Beispiele zeigen, wie sehr Bildung an Bild gebunden bleibt, an ein erkenntnistheoretisch freigestelltes, entwicklungsfremdes, religiöses Mensch-Imago als Gottesauskunft. Bildung, an das Bild gekoppelt, konnte und kann so in den Zwischenraum gestellt werden, der zwischen Existenz und Schöpfung glaubwürdig inszeniert wird. Versöhnungs- oder Erlösungskatalysator. Was aber, wenn das Bild keine sichtbare oder Glaubensreferenz hat, sondern Nano-, Femto-, Info-, Neuro-, Astro-Bezüge?

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) versuchte, die (vorgenetische, vorökologische) Fassung des Menschen im Blick, einen Weg zu finden, der die normativ-deduktive Bildung mit der sinnlich-empirischen, induktiven Wissenschaft zusammenbringt. Dabei ergänzte er die Kategorie Natur mit einem universalen Lebensverständnis. Der Zwischenraum von Biologie und Geist wurde mit Reflexion, lebenspraktischen Fähigkeiten, Wissenschaften, sozialen Kompetenzen aufgefüllt. Das war bevor, zum Beispiel, die warenwirtschaftliche Industrialisierung, die Dampfmaschine und Energiewirtschaft, die elektrische Telepräsenz in den Zwischenraum drängten, und die Bildungszirkel in die bessere Gesellschaft und Hochkultur abdrängten. Seitdem ist das Dazwischen soziales, industrielles, ökonomisches, demokratisches, humanistisches Kampfgebiet. Es löst die Kämpfe der Mönchsorden und die Inquisition ab. Humboldt versuchte, Bildung und Wissenschaft einander näher zu bringen, ihren Unterschied aber zu wahren. Die spätere kirchliche Verkündigung der Prädestination qua Begabung und Talent sowie die politische Propaganda der angeborenen Bildungsfähigkeit konnte dies nicht verhindern.

7.

Von Bildungskonzepten, die Evolution, Bio-, Informations-, Nano- und Neuroforschung zu verbindlichen Grundlagen anthropologischen Denkens machen, ist wenig zu sehen. Bildung entpuppt sich als (europäischer, aufklärerischer, bürgerlich-verwaltender) Regionalgestus, beziehungslos zu weltweiten Informationsströmen und ihren pragmatischen Anwendungen. Dabei sind digitale Netze für sich keineswegs die Lösung. In ihnen werden allzu oft Informationen nach alten Bildungsmotiven und -mustern geordnet. O. Breidbach:

„Vernetzungen verfangen sich im Bekannten … Vernetzt scheint heute selbst die Schlacke vormaliger Wissensbestände zu neuem Leben zu erwachen.“ (2010, 349)

Das Internet ist eine globale Wolke von Anthropotechniken.

Es gäbe die Chance, jene Schlacken zu vermeiden, Menschen für ihr weltweites, informationell vernetztes Leben freizustellen, Denken zu zivilisieren. Dafür müsste die kulturalistische Bildungs-Diaspora zu Gunsten der Förderung von frei kooperierender Denkfähigkeit verlassen werden. Zu oft geschieht das Gegenteil, aus Unsicherheit, Altvertrauen in Kontinuitäts- und Identitätsversprechen heraus; zu oft wird Status- und Klassenerhalt versprochen, wenn man den Bildungskanon ‚kennt‘. Oder dies wird verbunden mit diffusen Aufstiegszusagen. Völlig unbeweglich wird Bildungs-Reden, wenn es sich der religiösen oder kulturellen Manifestation der Unendlichkeit ‚hinter‘ allem glaubwürdig sicher ist.

Es ist dringlich, politisch und pädagogisch, über zu vermittelnde Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsanreize neu zu denken. Zu schnell werden die Klassen- und Seminartüren geschlossen und die Netzwelten auf ein Tool-Niveau herabgesetzt.

8.

Dies zeigt, wie groß der Abstand zwischen vormodernem und modernem Bildungsregionalismus zu globalen Wissensstrukturen ist. Es zeigt aber auch ein sehr schwieriges Verhältnis von Bildungsidealen zu Erfindung und Innovation.

Sie sind gerade dann Störenfriede, wenn sie dinglich, technisch, maschinell, apparativ, algorithmisch, und vor allem in visuellen Medien auftreten. Die zurückliegenden drei Jahrhunderte sind angefüllt mit Feinderklärungen gegenüber Bau- und Maschinentechnik, Elektrizität, Telefonie, Energiewirtschaft, Industrialisierung, Television, Raketensystemen, Weltraumforschung, Computer, Video, und neuerdings: das Netz. Schaut man genauer hin, so steckt darin eine Konfrontation zweier Netzkonzepte: (i) die über 2500 Jahre verfestigten Netzwerke begrifflicher Bestimmungen und Abhängigkeiten, verbunden mit einem starren Kommunikationskonzept, in dem die Totalität aller Sätze verwaltet wird, gegen (ii) Netzwerke der Einzelereignisse, der selektiven Kooperationen, der ungerichteten Weitergabe von Lösungsdenken. Es sind Geschwindigkeit, komplexe Visualisierung und multiple Individualität gegen Bestand, Text und relativ feste Identität.

Man könnte dies einen Hegemoniekonflikt nennen. Er ist dadurch entstanden, dass neue Menschengruppierungen mit anderen Informations-, Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten sich von dem alten Kommunikations- und Verwaltungspakt lösen, den die typokratischen Verhältnisse mit Bildung geschlossen hatten. Verlieren Zustände ihre Trägerklassen, verschwinden sie. Für klassisch-moderne Bildungskonzepte ist dies prekär.

Keine Frage: Zusammenhangswissen ist gerade auch unter Bedingungen digitaler Netzwerke unverzichtbar. Allerdings geht es um informationell, pragmatisch, sinnvoll rasch neu zusammengesetzte Zustände.

9.

Nicht zu leugnen ist, dass Menschen mit digitalen Medien nicht nur die materialen Grenzen von Textanwendungen und Bildanwendungen veränderten. Sie erschütterten und erschüttern national- und sprachkulturelle Heimaten ebenso wie sie die klassischen soziologischen Unterscheidungen von I, me, self (G.H. Mead) wegwischen. Kein Beruf, keine Aufgabenstellung, keine Programmstruktur kann von jetzt an mit Person dauerhaft in Deckung gebracht werden. Biografisch durchleben heutige Menschen mehrfachen sozio-technischen Generationswechsel. Kontinuität ist zum utopischen Projekt geworden, schützende, solidarische, sich entwickelnde Gesellschaft zu einer Fata Morgana. Individualität sei eine Anhäufung von microgenerations / microcontents, so Clay Shirky oder Larry Rosen. Psychologische und neurophysiologische Untersuchungen dokumentieren sich verändernde Neuronanatomien und Neurofunktionalitäten. Multiple Wahrnehmungen („Who Am We“, Sherry Turkle) sind gefordert und entstehen. Abwertend meinen einige, zwischenmenschliche Verlässlichkeit reduziere sich auf netiquette, auf Hier-und-Jetzt-Interaktivität, auf Social Network, User Generated Content.

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie sehr Bildung an Bild gebunden bleibt, an ein erkenntnistheoretisch freigestelltes, entwicklungsfremdes, religiöses Mensch-Imago als Gottesauskunft.

Sicher, von Kommunikation in einer wohlerzogenen europäischen Communio mit entsprechenden Ausschlussregeln lässt sich da nicht mehr sinnvoll reden. Daten- und Informationsströme richten alles aufs medial gekoppelte Tagesgeschäft aus. Menschen müssen sich für sich und ihre Mitwelt, wo immer diese auch ist, in gänzlich anderer Weise entscheiden als vor 10, 40 oder 100 Jahren. Die psycho-sozialen Kredite eines „Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will“ finanzieren nichts mehr. Die Währungen sind wertlos. Wozu also dann Bildung? Geht es um Pflichten, Normen zu befolgen?

Beginnt die Digitale Klassik des 21. Jahrhunderts mit einer normativen Erzwingungsstrategie? Erzwingen Patente, standardisierte Betriebssysteme, globale Netzwerk-Mengen die Forderungen nach kontrafaktischer Neuordnung des Denkens, also nach Bildung jenseits bio-technischer und sozio-technischer Realität? Wie ist dieses Kontrafaktische ausgelegt: religiös, theologisch, metaphysisch, kognitiv, biologisch? Solang dies nicht erklärt und kritisiert werden kann, sind Bildungs-Diskurse Trojaner für eine globale legitimationsfreie Ordnungsmatrix.

10.

Alle Arten kulturalistischer Bildung betreuten ideologisch die industrielle, warenwirtschaftliche Moderne, von Rousseau bis Montessori, Humboldt bis Picht. Es waren Geltungs- und Sinntherapien. Ihre Tauglichkeit bestand darin, anzuerkennen, dass soziale und irdische Dauer nicht erzwungen werden kann, aber Identität und Jenseits, erlesenes Wissen und Glauben den Menschen beheimateten. Diese Sinntherapien bildeten eine Sonderzone der Modernisierung.

Die Betreuung ist obsolet, territoriale Industrie ist Geschichte. Zukunft findet im direkten interaktiven Informations-Handel(n) statt. Der Zukunftskredit für jegliche Art bio- und soziotechnischer Systeme besteht im Grad der möglichen Informations-Vernetzungen. Mit digitalen Netzen kreditieren wir Zusammenhänge, egal wie sie entstehen. Entstehendes Zusammenhangswissen ergibt sich in Projekt-Kooperationen und Zufallsethnien. Flexibilität statt Über-Ich. Also keine Imitationspflichten mehr? Nicht ganz so einfach ist es. Die Schritte von gehorsamer Nachfolge, folgebereitem Nachwuchs zur kooperativen Anwendung fallen den Menschen schwer, die immer wieder auf kollektive oder individualisierte Pflichtordnungen hin erzogen werden.

Dies ist kein Versprechen eines Spaßfaktors Individualisierung. Auch diese ist ein Organisationsformat, kein Freifahrtschein. Individualisierung wird sich tiefgreifend verändern. Zivilisierendes Handeln im 21. Jahrhundert wird nur möglich, wenn durch offene Kooperationen und Leutenetzwerke (communities) zahlreiche Individualisierungsbremsen entstehen, neue Formen der Verlässlichkeit, des Vertrauens, der Zuverlässigkeit. Das Thema Normen und Formen bleibt also erhalten. Es verlagert sich. Nicht mehr Aufklärung durch Norm, sondern Erklärung, Evolution oder: Koevolution menschlicher Lebensweisen.

Da die Materiebarriere zwischen Geist und dem Rest der Welt durchbrochen ist, sollten wir uns der Anstrengung stellen, einen aufgeklärten Naturalismus (G. Roth/ M. Pauen) zu entwerfen.

11.

Häufig wird in den letzten Jahren die Forderung nach Normen gestellt, die Menschen dazu bringen sollen, sich in diesen Globalisierungsdynamiken – mal wieder – einer Kultur, einem sozialen System, einem Menschenbild zu verpflichten. Auf welche Ordnungsprämissen sich diese beziehen sollen, bleibt undurchsichtig. Das ‚Wir‘ der Netz-Communities und das ‚Ich‘ der Netznutzer reichen anscheinend nicht. Damit kündigt sich eine neue menschheitsgeschichtliche Phase der Auseinandersetzungen um die Maßstäbe von Zusammenhängen an. Kollektivität wird beschwörend abgelehnt, die sozialstaatliche Gleichzeitigkeit von Marktgesetzen und starkem Staat ebenso. Was bleibt? Weltmarkt und Weltregierung? Oder doch ein Weltideal vom Menschen als Supervisor für Menschenrechte in Netzrealitäten? Oder eher ‚wohlerzogene‘ Menschenleben, weltweit?

Bildung entpuppt sich als (europäischer, aufklärerischer, bürgerlich-verwaltender) Regionalgestus, beziehungslos zu weltweiten Informationsströmen und ihren pragmatischen Anwendungen.

Statt sich die Mühen zu machen, über ‚viable‘ (E. v. Glasersfeld), ökonomische, ökologische, zivilisatorische Zusammenhänge neu nachzudenken, werden Modelle kulturalistischer Steuerung angerufen. Es ist ein altes Kontrollideal, dass Denken, Entwerfen, Produzieren in Gesellschaft gebündelt, verwaltet, geordnet, legitimiert werden müsse. Zum Wohle der Menschheit, im Dienst am Menschen, für den Fortschritt, die Freiheit etc.

12.

Wir reden von Realitäten, die auf keinerlei vormodernen oder modernen Beweis bezogen werden können. Sie sind sinnlich Nichts, obwohl abstrakt und elektronisch (strömungstechnisch) fast Alles. Anrufung vergeblich. Liquide Welten lassen sich nicht anbeten, oder vielleicht doch, schaut man sich transhumanistische Aussagen an.

Die Bildschirme sind – trotz ihrer versiegelten Sinnlichkeit – nicht leer.

Die in ihnen visualisierten Dinge, Zustände, Körper, Avatare, Prozesse sind nicht qua Sichtbarkeit schlüssig, sondern in ihrer ergebnisoffenen Unsichtbarkeit, den Programmen. Programme erschüttern nicht nur Bilder und Symbole. Sie sind nicht auf diese bezogen, wollen diese nicht erreichen, weder pädagogisch, didaktisch noch grob erzieherisch.

Visualisierungsprogramme, -pragmatik, die Produktivität und reproduktive Tauglichkeit flüchtigen-flüssigen Sehens, lösen die imitatio, die bekennend-bekehrende Nachfolge auf. Und zugleich fordern sie auf, über Sehen, Denken, Erfinden, Entwerfen neu zu streiten, anders zu streiten. Für mich ist dies nur sinnvoll im radikalen Verzicht auf jegliche Imitatio- und Bildfunktion von Bildung.

13.

Ich las in einem kurzen Artikel von Almut Kirchner (Prognos Basel), den sie für Wirtschaftswoche 40/2010 geschrieben hat: Das größte Unternehmen 2030 existiert heute noch nicht. Erweitern kann man: 80 Prozent des dann erforderlichen Wissens kennen wir heute nicht, aber die Menschen, die in dem Unternehmen arbeiten und dieses Wissen erzeugen und anwenden werden, sind schon geboren. Sie wissen allerdings nicht, womit sie ihr Geld in Zukunft verdienen werden. Also was heißt Bildung?

Es ist ein Lieblingsirrtum der Technik- und Maschinenferne, der tief verwurzelt ist in europäischen Kulturtraditionen. Die damit verbundenen Errungenschaften „wie Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Säkularisierung, Würde des einzelnen Menschen, Freiheit der Wissenschaften und Künste werden künftig kaum eine Rolle in der Welt spielen“, schrieb Bazon Brock ins Europäische Poesie-Album. „Musealisiert Euch“, denn nur so könnten sich Europäer erhalten, aus der Ohnmachtserfahrung heraus, als „kleine gefährdete Art im Menschenzoo“ (2008, 27). Auch der Zoo ist eine europäische Erfindung, die Zerstörung von Regenwäldern, Tundren und die Verwüstungen als Folge kapitalistischer Warenwirtschaft ebenso. Also sollten wir Bildung musealisieren? Zu welchem Zweck?

14.

Es werden kontroverse, unversöhnliche Menschenrechtsdeutungen entstehen.

Menschenbildrechte sind längst ökonomisiert, datentechnisch aufgesogen, von Google, Apple, Microsoft, Sparkassen, Banken, BKA, NSA, biometrischen ‚Identitätsbildern‘ oder bodyscans am Flughafen oder im Krankenhaus. Wissens- und Informationszusammenhänge werden durch digitale Technologien nicht pervertiert, sondern in ihrer Kommerzialisierung „konsequent weiterentwickelt“ (O. Breidbach). Der Konsum zieht Innovation nach sich, wie umgekehrt. Für kulturalistische Bildungsverfechter sind dies drei Teufelsdinge, Diabole, die gegen die Denkpflicht der Symmetrie der Symbole stehen: Technologie, Konsumismus und die Schaltungen von Daten sowie die vernetzt ungerichteten Informationsströme, die ‚eigentlich‘ dem Geistigen gehören.

Zwischen Gerechtigkeit, Feindabwehr, religiösem Weltbild, Rationalitätsanspruch und Zivilisationskritik, Sicherheitspolitik, kritik- und anpassungsfähigem Denken oder innovationsfähiger Aufmerksamkeit kann alles gemeint sein.

Da die Materiebarriere zwischen Geist und dem Rest der Welt durchbrochen ist, sollten wir uns der Anstrengung stellen, einen aufgeklärten Naturalismus zu entwerfen.

Kurios ist, dass statistisch die Träger eines schichtengebundenen (nationalen / europa-amerikanischen) Bildungskonzeptes verschwinden. Zugleich entsteht ein neues Bürgertum, ohne Revolutions- und Befreiungsauftrag, weltweit, dem 2030 die Hälfte der Weltbevölkerung angehören wird. Es ist konsum- und aufstiegsorientiert. Zum Konsum wird auch Literatur, Film, Apps, Theater, Oper, medizinisches Wissen, Automobilität, Hirnverstärker, jede Art von belohnender und befriedigender, unterhaltsamer Information etc. gehören. Die Wissenschaften, Technologien und Ökonomien, in denen sie sich bewegen, sind bestimmt durch Bio-, Info-, Nano-, Neuro-, Astro-, Medien-Vernetzungen. Lässt sich da noch von Bildung sprechen? Ja, werden jene sagen, die damit Ausbildung, Aufmerksamkeit, Kooperationsvermögen und lebenslanges Lernen verbinden. Und das wäre nicht falsch. Allerdings habe ich den Eindruck, dass mit Bildung Wertediskurse verstärkt werden, die weit vor gegenwärtigen globalen Informations-, Bild-, Entwurfs- und Kooperationsverhältnissen erfunden wurden.

Versteht man Bildung als ein offenes Potenzial für neue geistige Entwicklungen, das jeder sich zu eigen machen kann, egal wo er lebt und egal was er sieht, liest, hört, wären wir um einiges weiter. Um dies zu erreichen, müssten Menschen kulturentlastet über die pragmatischen und zivilisatorischen Spielräume ihres Lebens reden, zeichnen, singen, schreiben, erfinden können. „Eine kulturfreie Bildung? Nein, niemals“, schwingt noch in meiner Erinnerung an manche Gespräche mit. Aber ich bleibe dabei: die Absicht, Menschen in anthropologische und globale Zusammenhänge einzubeziehen erfordert – will man die Koordinations- und Kooperationsfähigkeiten erhalten und steigern – Wissen, Erkennen von der klassen- und klerikalgeschichtlichen Überlast des Bildungs-Auftrags zu entlasten, – von den ZKs, Parteien, Staaten, Leitkulturen und Leitideologien.

15.

Die Frage an die heutigen Kritiker offener Transformationsprozesse muss also nicht lauten: Warum wollt Ihr etwas erhalten?

Sie muss lauten: Was wollt Ihr verhindern?

Diese Frage muss man beharrlich und entschieden stellen.

Was also wollt Ihr verhindern?

Warum bemüht Ihr Euch nicht um neue Freiheiten, um neue Kooperations- und Koordinierungsregeln. Was ist mit einem für alle offenen, weltweit geltenden Zugangs-, Auswahl-, Koordinierungs- und Kooperationsrecht?

Entschieden geht die Frage auch an die Diskurse über Bildung, Wertkonsens, Erziehung.

Was wollt Ihr verhindern?

In der Wolke aus education, Bildung, training, e-learning, high power education, Unterweisung, Bildungs- und Entwicklungsförderung fand ich immer wieder den Satz in verschiedenen Variationen: „Bildung ist die Rückversicherung einer Gesellschaft mit Blick auf ihre Werte.“ (Angelika Ridder, Goethe Institut). Es ist eine Diaspora-Falle, die keine einzige globale Anthropotechnik offensiv für sich einsetzen, übersetzen kann. Die Möglichkeiten, nicht in diese zu stürzen, sind vorhanden.

16.

2003 merkte der Anthropologe Michael M.J. Fischer in Forms of Life and the Anthropological Voice an: „Das Leben läuft den Heuristiken, in denen wir ausgebildet wurden, davon.“ (S. 37) Die Gesetze der großen Zahl an Verknüpfungen und Erfindungen beschleunigen Leben ebenso wie die Regeln von Experiment und Anwendung. Es ist nicht das Gefühl, nicht mehr mitzukommen. Es ist die Einsicht, dass uns die flexiblen Heuristiken fehlen, um Eingrenzungen, Bedeutungsoptionen, Sinn der Prozesse anbieten zu können. Man könnte fragen: Gehören sie noch zum Leben, wie ich es verstehe? Wie gehören wir dazu, da hinein?

Neben großer Zahl und Geschwindigkeit ist es die errechnete Sichtbarkeit, die über Displays, Monitore, Beamer, Projektionen von etwas berichten, das wir nie vor’s Auge bekommen werden, obwohl es direkt vor uns oder in uns ist. Das sichtbar Unsichtbare, physisch und physikalisch, nicht metaphysisch, immanent, nicht transzendent, unterminiert die alten Heuristiken. Und Altvordere wie deren Junioren rufen: bildet Euch!, und man fragt sich irritiert: worauf hin? Taugt es noch, sich einem überzeitlichen Idealbild anzunähern? Wahrnehmen, Denken, Wissen als pragmatische Kategorien sind die Alternative. Erklärungen, wie Mensch ubiquitous and pervasive computing, non-optical-images, unidentified but programed invisible objects, Echtzeit in Zusammenhänge bringen könnte, fehlen.

Es fehlen die Heuristiken für asymmetrische und instabile Zusammenhänge.

17.

Das World Wide Web ist bildungsfern, hatte nie etwas mit Bildung im Sinn. Seine numerischen, programmsprachlichen Verknüpfungen, seine nutzergestützten, in jeder Sekunde auf- und abzubauenden Darstellungen, zielen auf Maximierung sofortigen Informationstausches zwischen den technischen Systemen. Dem Austausch folgen neue Suchen, Links und Selektionen. Innerhalb dieser Verbindungen sind Zusammenhänge entstanden, in denen Fragen nach Sinnbezügen, Topologien von Biografie, Lebensbezüge und Lebensweisen wichtig sind. Aber es sind (netz-)interne Fragen, eigenlogisch und eigenwertig.

Ihre Basis sind freiwillig eingegangene oder professionell unausweichliche Informations- und Wissensverträge. Sie bedürfen keiner Überregulierung durch einen Wertekanon. Dieser wäre gegenproduktiv, da die Populationen und communities des Web sich über multiple Zugehörigkeit selbst bestimmen. Nicht versammelte Vielfalt ist das Prinzip, sondern Herkunftsungleichheit (Heterogenität) und projektbezogene Verabredung. Das schließt mit ein, Regelungen zu entwickeln, die einen freien Zugang zu Wissensmöglichkeiten garantieren.

Entscheidend ist: Wissen ist nichts Überzeitliches, keine krisenfeste Norm. Dies gilt ebenso für seine Erwerbsregeln. Diese lassen sich aufteilen in medientechnologisches Nutzungsvermögen, interaktive Auswahl von Informationsmodulen, zielbestimmte Koordinierungen und ergebnisbezogene Kooperationen. Es sind weltweit erforderliche Anforderungen.

Es werden kontroverse, unversöhnliche Menschenrechtsdeutungen entstehen.

Das Leitkonzept der globalen Web-Cultures ist: Wissen entsteht aus der praktischen Unsicherheit heraus, was alles zur Arbeits- oder Produktionsidee vernetzt werden kann, muss, soll. Umgang mit Heterogenität, verschiedensten Kurzzeit-Ethnien und Projekten sowie der Individualisierung von Informationsarchitekturen sind Ausdruck dieser pragmatischen Unsicherheit. Manchen wird sie Angst machen, wird bildungsbürgerlichen Alarm auslösen. Beides, die Bildungsferne des Web und Wissen durch die Suche einer vorläufig gültigen Handlungsbrücke widersprechen den alten Konstellationen und deren aktuellen Vertretern.

Die Frage ist, könnten Informationsästhetik und Kooperationsaisthesis zu neuen Regeln und Werten beitragen? Könnten sie dabei helfen, Bewertungen in eine netz-kollektive Sprache zu übersetzen? Und worauf müsste sich diese beziehen: auf Videos, Visualisierungen, Text-Bild-Integrationen? Wissen sei zum Handeln geworden, so H. Nowotny, G. Testa (2009, 16). Und Bildung? Die Einsicht, dass der Mensch sich immer selbst verfehlt, in interaktiven, selektiven, koevolutionären Wirbeln gelingen muss, kann nicht mehr auf kulturalistische Bildung reduziert werden. In der Begegnung mit unwahrscheinlichen und unmöglichen Unterschieden bleibt nur Lernen. Hierin, im Lernen, bewährt sich nichts Edles, sondern Anpassung, Reproduktionsvermögen, taugliche Ressourcenverteilung.

18.

Menschen siedeln inzwischen weltweit mit ihren Beobachtungen am Rand des Unsichtbaren und sichtbar Gemachten.

Menschenbilder dienen weder dem Erhalt der kulturellen Reproduktionsleistungen noch irgendeiner Ressourcenverteilung. Im radikalen Sinne ist Bildung der Selbstorganisation menschlicher Lebenszusammenhänge äußerlich, vielleicht noch eine Art bürgerlicher Selbstästhetisierung – und hierin durchaus noch politisch aktiv.

Das Modell der Ersten und Zweiten Natur ist klanglos verschwunden. Wo sollen die Grenzen verlaufen, wenn nanotechnologisch jede Grenze zwischen Physik und Biologie ignorierbar ist. Willkommen in der Welt der instabilen Membaren. In allem geht es um die Erfindung von kooperativem, koordinierendem, konkurrierendem ‚Wir‘ als Bereich globaler Wahrnehmungs- und Wissensmärkte, nicht um die Erreichung eines Ziel–‚Ichs‘. Immer noch ist es ein Rätsel, wie die Biologie des Menschen diesen zum Gedanken führt, und dieser lernt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Nachricht des Rätsels ist: Der Mensch ist nicht selbstverfügbar. Aber im Gegensatz zu einer Schöpfungsantwort, wird wissenschaftlich Evolution, Zellstress, Koevolution durchdacht. Ergebnisse der Dynamiken zwischen Soma und Exosoma sind latent. Es gibt kein unveränderbares Gattungswesen, keine lineare Lebensspanne.

19.

Auffällig ist derzeit, wie diese Wechselwirkungen wieder auf Kurs gebracht, wie Menschen durch Bildungs-Kultur ausgerichtet werden sollen.

Es überrascht die ideologische Aktualität der Denkmodelle des verkündenden Schreibens und erzieherischen Lesens. Sind dies Reaktionen eines typokratischen, philosophischen Klerus, der sich an die schriftlichen Beweis- und Weisungsrechten klammert? Oder sind die Unsicherheiten über education, Bildungsnormen oder kulturelle Regeln so ausgeprägt?

Hierzu nur zwei Beispiele aus prominenten Autoren-Netzwerken.

2009 stellte John Brockman in seinem edge-Netzwerk, in dem viel wissenschaftliche und publizistische Prominenz versammelt ist, die Jahresfrage: „How is the Internet Changing the Way You think?“, und viele antworteten, weltweit. Niemand kam auf die Idee zu fragen:

Welches Denken und Wissen hat das Internet ermöglicht? Welches Denken erfordert diese Art technogener, zirkulärer Kopplung?

Oder:

Wie veränderte Dein Denken und informationelles Handeln das Internet?

Ähnlich schwach ist die Frage von Maryanne Wolf aus 2010, in dem von Harvard betriebenen Nieman-Netzwerk: „Will we loose the ‚deep reading‘ brain in a digital culture?“ Es ist der Ruf aus der Tiefe der Typokratie, des Buchdenkens, nach der buchstäblichen Hochkultur des textversunkenen Lesens. Bibliophil oder ein Bücherwurm zu sein, kann Spaß machen, ist aber keine hinreichende analytische Annäherung an die expandierende Globale Digitale Klassik. Ebenso 2010 kam Thomas Pettitt, im selben Netz, zu der These: „our own Internet age“ weise Parallelen zum „pre-print age“ auf, zu oralen Kulturen. Gutenberg, also Buchdruck, sei eine „parenthesis“ – was ja die Vermutung aufruft, dass es eine eingeklammerte Abweichung, Nicht-Originales sei, nach deren Ende Mensch wieder zurückkehre, – ja wohin eigentlich?

Nun, zur Geschichte sei vermerkt:

Vor Gutenberg gab es zweitausend Jahre Herrschaft durch Handschrift und annähernd 800 Jahre vor Gutenberg wurde in China der Schrift-Druck erfunden. Das ‚pre-print‘ ist also keineswegs ‚oral‘. Und ein ‚Zurück‘ ist bei irreversiblen Prozessen nicht möglich. Die geschichtliche Fehlinformation wird ergänzt durch eine medienkulturell frei erfundene These der wieder erstarkenden Oralität: denn Denken und Nutzen digitaler Netzwerke richten sich nicht in Oralität ein, sondern in assoziativer, glaubwürdiger, spielerischer und letztlich taktiler Sichtbarkeit, wie wir über Pecha Cucha, Digital Storytelling, Facebook und derzeit am exponentiellen Wachstum von Apps (an die 200.000, wie es heißt) sehen, die den Web-Sites eine starke Nutzungskonkurrenz bieten. Zudem belegen Untersuchungen, dass weniger gesprochen (telefoniert, über Skype kommuniziert) als ‚getextet‘ wird, gerade auch bei Jugendlichen.

20.

Ein Bildungsbegriff, der nicht maskiert, der nicht einer inhaltlichen, biologischen oder schöpfungstheologischen Vorbestimmung folgt, sondern der im stets veränderten Wahrnehmen, im Erkennen und Verstehen begründet ist, fehlt. Käte Meyer-Drawe trifft mit der Bemerkung:

„Um die Welt zu verstehen, darf sie nicht selbstverständlich sein …Weil es keine Unmittelbarkeit gibt, ist Sprache nicht trügerisch/ (Daten und Informationen auch nicht, mafa). /Es gibt nichts Authentisches, das sich maskieren könnte“. (2008, 140/141)

Warum also nicht Bildung durch Improvisation ersetzen, durch Erkenntnis-Freiheit, durch Kooperation? Wahrnehmungs- und reflexionsbezogene Improvisationspolitik statt Bildungspolitik.

Vorschläge für solcherart kulturübergreifende, anthropologische Kategorien lassen sich nicht mehr verhindern. Die Artverwandtschaft der Menschen und die Materialverwandtschaften ihrer Erfindungen mit ihnen sind zu offensichtlich.

„Die Dinge begegnen uns nicht lediglich als Sachen. Sie teilen mit uns die Materie und bieten uns Widerstand.“ (K. Meyer-Drawe, 159)

Eine Schlussfolgerung ist, Bildung über Pragmatik, auswählende, anpassende Interaktivität, Kooperation und die Fähigkeit zu bestimmen, Wirklichkeit zu erfinden und zu gestalten.

Dieser Beitrag geht auf eine Anmerkung von Frank Hartmann, Bauhaus-Uni Weimar, zu meinem Essay „Kampfzonen“, Recherche 2/2010, zurück. Bezogen auf meine Bemerkungen zu den ungeklärten Normen für Netzkritik bei Brockman, Schirrmacher, Lanier und anderen fragte er nach vertiefenden Argumenten zu „Bildung“. Dies reizte. Ob die Überlegungen der Frage entsprechen, wird sich zeigen.

Literatur

Faßler, Manfred 2010: Understanding Information. In: it – Information Technology, 52 (2010) 4/ DOI

Fischer, Michael M. J. 2003: Emergent Forms of Life and the Anthropological Voice, Durham (Duke Univ. Press)

Surowiecki, James 2005: The Wisdom of Crowds, London

Kegel, Bernhard 2009: Epigenetik. Wie Erfahrungen vererbt werden, Köln

Meyer-Drawe, Käte 2008: Diskurse des Lernens, München

Breidbach, Olaf 2010: Wissensvernetzungen. In: Th. Kamphusmann / J. Schäfer (Hrsg.): Anderes als Kunst, München

Nowotny, Helga / Testa, Giuseppe 2009: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, Frankfurt / M.

Lanier, Jaron: Digital Maoism: The Hazards of the New Online Collectivism. http://www.edge.org/3rd_culture/lanier06/lanier06_index.html

von Glasersfeld, Ernst 1997: Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken, Heidelberg (C. Sauer Verlag)

Christoph Rensing / Doreen Böhnstedt: Bildung einer Community zur Vermittlung von E-Learning-Erfahrung auf Basis semantischer Netze, 2009 (ftp://ftp.kom.tu-darmstadt.de/papers/RB09.pdf 10.10.2010)

Manfred Faßler, geboren 1949, ist Professor für Soziologie am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe Universität in Frankfurt / Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Medienevolution und medienintegrierte Wissenskulturen. Zuletzt erschienen: Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen (Edition Transfer / Springer, 2005), Der infogene Mensch. Entwurf einer Anthropologie (Fink, 2008), Nach der Gesellschaft. Infogene Welten, anthropologische Zukünfte (Fink, 2009).

Quelle: Recherche 4/2010

Online seit: 25. Oktober 2019

Die Online-Version unterscheidet sich geringfügig von der Print-Variante, Zeichensetzung und Tippfehler wurden korrigiert.