Ein Kaiser im Konjunktiv

Mit Karl der Große legt Johannes Fried eine sprachlich gelungene Darstellung des Beginns der karolingischen Epoche vor. Neue Erkenntnisse über den archäologisch schwer zu fassenden Frankenherrscher darf man allerdings nicht erwarten. Von Martin Lhotzky

Online seit: 30. Jänner 2020

Das folgende Buch ist kein Roman, dennoch eine Fiktion.“ So hebt die jüngste Monografie von Johannes Fried, bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für mittelalterliche Geschichte in Frankfurt am Main, an. Im Vorwort bekennt er sich dazu, in diesem Werk sein subjektiv geformtes und gefärbtes Bild von Karl dem Großen, dem mythisch überhöhten ersten Kaiser des Mittelalters westlich von Konstantinopel, zu präsentieren, „auch wenn es die Zeugnisse jener Zeit gebührend heranzieht.“

Mit diesem Ausgangspunkt steht Fried jedoch keinesfalls allein da. Bereits die wichtigsten (und beinahe einzigen) schriftlichen Quellen, die von der überwiegenden Mehrheit der Historiker als weitgehend zeitgenössisch anerkannt werden, nämlich die Vita Karoli Magni (Leben Karls des Großen, Entstehungszeit vielleicht zwischen frühestens 817 und spätestens 840) sowie die Annales regni Francorum (Fränkische Reichsannalen für die Jahre 740 bis 829, mutmaßlich zwischen 793 bis 829 niedergeschrieben) kamen aus dem Dunstkreis des karolingischen Hofes, also von Augenzeugen. Die Vita stammt von dem Kleriker, Architekten, Künstler, Lehrer etc. Einhard, ein nach eigenem Zeugnis Schüler des Gelehrten Alkuin, des wichtigsten Ratgebers des Königs. Die Annalen (Jahresberichte) wurden vom (gewöhnlich anonymen) Personal der Hofkapelle aufgezeichnet. Es ist nur logisch, dass aus solchen Positionen heraus kaum Werke verfasst werden konnten, die nicht die Zustimmung des Hofes, also gleichfalls eine subjektive Formung und Färbung, erhalten hätten.

Auf numismatische und archäologische Befunde kann sich Fried kaum stützen.

In zehn größeren Abschnitten belegt Fried, dass er nicht nur ein Erforscher der ferneren Vergangenheit, sondern auch ein Historiker im ursprünglichen Wortsinne, ein Erzähler von Geschichte und Geschichten sein will. Obwohl dem ersten Anschein nach chronologisch gegliedert, hält er nicht immer eine strikte zeitliche Abfolge ein, ganz wie es dem Erzählfluss entgegenkommt. Mal eilt er der Zeit Karls voraus, mal bietet er Rückblicke bis in die Spätantike und Merowingerzeit. Der letzte König aus diesem Geschlecht, Childerich III., wurde bekanntlich, so man den Chroniken trauen darf, von Karls Vater Pippin 751 endgültig abgesetzt und zum Eintritt in ein Kloster gezwungen. Thematische Blöcke, etwa zum Kriegswesen und zur Heeresorganisation im Fränkischen Reich oder zur Frage des Verhaltens gegenüber dem (den) Kaiser(n) in Konstantinopel, dem jeweiligen Papst in Rom oder auch moslemischen Machthabern auf der iberischen Halbinsel, in Nordafrika und Vorderasien behandelt Fried ausführlich und teilweise durchgehend, teilweise auch unter Hervorhebung verschiedener Aspekte, wenngleich mit Wiederholungen, in mehreren Kapiteln.
In einem entscheidenden Abschnitt des Epilogs weist er noch darauf hin, dass, selbst gelegentlich heute, nicht immer alles zum Besten steht mit dem Bild, das von diesem im Laufe der Zeit mit Mythen überfrachteten König gezeichnet wird. Von der Papstkirche, Napoleon, den nationalstaatlichen Historiografien über Hitler und bis hin zu den Gründervätern der Europäischen Gemeinschaften, freilich aus jeweils anderen Motiven, habe sich jeder seinen je eigenen Idealherrscher (gleichsam „Karl der Große“ gegen „Charlemagne“ bis hin zum „Franken Karolus“) gezimmert. Das erschwere den Umgang mit einer historischen Persönlichkeit, die, zumal für Fried, ein entscheidender Impulsgeber der Kultur des Abendlandes war.

Bleibt anzumerken, dass es sich bei diesem Werk – ohnedies eher eine Beschreibung der sogenannten karolingischen Epoche als eines Einzellebens – trotz des umfangreichen wissenschaftlichen Apparates aus Anmerkungen, Register und (relativ kurzer) Bibliografie um kein Fachbuch für Historiker handelt. Fried lädt das Publikum erfolgreich in eine ziemlich fremde Welt ein, bemüht jedoch sehr oft Konjunktivkonstruktionen und Einschränkungen („Kaum können wir wissen …“), wischt wohl bisweilen Fragen, die nicht eindeutig geklärt (oder je zu klären) sind, nonchalant weg. Ob das „Capitulare de villis“, eine Verordnung über die Verwaltung der königlichen Landgüter, von Karl oder seinem Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen (oder überhaupt erst aus dem zehnten Jahrhundert) stammt, wen schert’s, das interessiert doch nur Spezialisten: „Das Kapitular darf somit auch für die Zeit Karls des Großen herangezogen werden.“

Oder dass von einem angeblich so wichtigen Reformer und Erneuerer in einem Gebiet von den Pyrenäen bis zur Elbe bzw. bis Istrien, der sogar das Geldwesen neu geordnet habe (1 Solidus = 20 Denar = 240 Pfennig), bestenfalls dreißig Münzen (Silberdenare) erhalten sind. Auf archäologische oder numismatische Befunde stützt Fried seine Ausführungen kaum öfter als drei Mal. Ein wenig mehr hätte man sich da schon erwartet.

Martin Lhotzky ist Historiker und Kulturkorrespondent der FAZ in Wien.

Quelle: Recherche 1/2014

Online seit: 30. Jänner 2020

Die Online-Version unterscheidet sich geringfügig von der Print-Variante, die Zeichensetzung wurde korrigiert.

Johannes Fried: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biografie. C. H. Beck, München 2013. 736 Seiten, € 29,95 (D) / € 30,80 (A).