Eine neue Aufklärung?

Plädoyer für einen tragischen Hedonismus. Von Philipp Blom

Online seit: 15. November 2019

In Zeiten der Krise wandte man sich im alten Griechenland an das Orakel, das Aufschluss über den Willen der Götter bringen sollte. Die resultierenden Orakelsprüche allerdings waren oft so kryptisch, dass sie den Betroffenen nur wenig halfen. Heute haben Philosophen und Schriftsteller das zweifelhafte Privileg, die antiken Orakel zu ersetzen. Wie eine alte Verwandte, die sonst eher peinlich ist, zu einem Familienfest aber noch einmal aus dem Heim geholt wird, bemüht man zu diesen Gelegenheiten die Philosophie für erbauliche Sinnsprüche.

Dabei ist die beste Antwort, die Philosophen geben können, keine Antwort. Der wichtigste Beitrag, den philosophische Ansätze zur allgemeinen Debatte liefern können, liegt nicht in Kalenderweisheiten, sondern im Offenlegen von Denkfehlern, von Gefühlen, die als Ideen auftreten, und von unhinterfragten Gedankenstrukturen.

Diese fast forensische Arbeit des philosophischen Denkens kann auch als Forderung formuliert werden: Wir brauchen eine neue Aufklärung, die weiter geht als das Erbe von Kant und Voltaire. Nicht nur das, woran wir glauben, muss neu untersucht werden, sondern auch unser Bedürfnis nach dem Glauben selbst. Heute allerdings ist diese Aufklärung nicht mehr die exklusive Domäne von Philosophen. Die Wissenschaft hat einen Großteil des Gebietes übernommen, wenn auch die Philosophie noch immer wichtige Beiträge leisten kann.

Aber leben wir denn nicht im Aufgeklärtesten aller Zeitalter? Das tun wir sicher im Vergleich mit dem Irak und anderen theokratischen Regimes, gleichzeitig aber sind wir nicht halb so aufgeklärt, wie wir es von uns selbst glauben, und unser mangelndes Bewusstsein für die kulturellen Begrenztheiten unseres Denkens trägt wesentlich zu der Vertrauenskrise bei, in der wir leben.

Das, was wir heute Aufklärung nennen, ist der Kult der Vernunft in der Nachfolge von Denkern wie Descartes, Voltaire und Kant. Es ist eine Zurückweisung von Aberglaube und Obskurantismus und ein Zelebrieren des „ruhigen Sonnenscheins des Geistes“, wie David Hume es unvergesslich formulierte. Es hat die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 möglich gemacht, eine der großen Errungenschaften der Menschheit und ein unschätzbares Werkzeug zur Befreiung und zum Schutz bedrohter und benachteiligter Gruppen und Individuen.

Aber die Aufklärung, wie wir sie kennen, hat auch andere, dunklere Seiten. Wie Adorno und Horkheimer zeigten, wird die Privilegierung der Ratio nur allzu leicht zur Tyrannei der Rationalisierung, die Menschen unter das Joch von Effizienz und Produktivität beugt, in ein Leben, in dem jede Minute und jeder Atemzug in den Dienst des Profits gezwungen werden. Charlie Chaplins Modern Times und davor Fritz Langs Metropolis waren frühe Visionen einer solchen entmenschlichten Welt, in der die Vernunft aufgehört hat, ein Verbündeter gegen die Dunkelheit der Seele zu sein und stattdessen zu einem Despot geworden ist, der Menschen zu bloßen Zahnrädern in einer riesigen Maschine macht.

Alle wichtigen Exponenten der moderaten Aufklärung waren gläubig, auf die eine oder andere Art.

Michel Foucault hatte diesen Aspekt der dominanten Tradition der Aufklärung analysiert. Die scheinbare Herrschaft der Vernunft hat aber noch andere problematische Seiten. Weit davon entfernt, eine objektive Implementierung der Vernunft zu sein, hatte die moderate, deistische Aufklärung ein Erbe hinterlassen, das zwar selten thematisiert wird, dafür aber umso mächtiger wirkt. Alle wichtigen Exponenten der moderaten Aufklärung waren gläubig auf die eine oder andere Art, und trotz Voltaires Schlachtruf „Ecrasez l’infame “ hatte er doch nicht einen Moment lang die Absicht, die nützlichen Aspekte einer Institution zu unterminieren, die er für unschätzbar und wichtig hielt, wenn es darum ginge, den Plebs auf seinem Platz zu halten.

Voltaires weltgewandter Zynismus ist deutlich in seinen Werken zu erkennen, bleibt aber an der Oberfläche. Schließlich war er weniger ein Philosoph im eigentlichen Sinne als ein intellektueller Großunternehmer vom Zuschnitt eines Bernard-Henri Lévy. Dasselbe Prinzip aber gilt für die meisten Denker der frühen Moderne, deren Ideen auch auf unsere eigene Weltsicht einen so entscheidenden Einfluss ausgeübt haben. In metaphysischer und ethischer Hinsicht taten sie wenig mehr, als die bestehenden Strukturen neu zu dekorieren und so das christliche, theologische Weltverständnis nachhaltig zu stützen.

Parallelen zur Heilsgeschichte

Der aufklärerische Kult der Vernunft sieht im menschlichen Geist den höchsten, wertvollsten Teil seines Wesens. Es ist nicht schwer, darin das alte theologische Argument zu erkennen, dass der Geist der göttliche Funke in der Materie ist, der den Menschen über die Welt erhebt und zur eigentlichen Krone der Schöpfung macht. Auch die Idee des Fortschritts zeigte deutliche Parallelen zur Heilsgeschichte und ihrem langsamen Aufstieg von den frühen Patriarchen über Christi Kreuzestod und Auferstehung bis hin zur endgültigen Erlösung der Menschheit durch den Geist.

Das fundamentale Problem dieser poetischen Vision ist, dass sie einen wichtigen Aspekt unseres Daseins nicht berücksichtigt. Unser Geist ist angekettet an einen Klumpen Materie, der sich hartnäckig weigert, in dieses System hineinzupassen. Unser Körper begehrt und altert, ist Opfer von Krankheit und Schwäche, moralisch wie auch physisch. Er ist geradezu eine Parodie der Vernunft in all ihrer Herrlichkeit. Unser Körper ist die Antithese des Rationalismus und die einzige Lösung innerhalb dieses Paradigmas ist, ihn zu kontrollieren und zu bezwingen, zu verstecken und zu disziplinieren, ihn geradezu wegzurationalisieren. Diese Lösung, die Grundlage der Kindererziehung über zwei Jahrhunderte, erinnert in auffallender Weise an den christlichen Körperhass, an die theologische Grundposition, dass dieses Leben nichts weiter ist, als ein elendes Vorspiel zum eigentlichen Leben nach dem Tode, das christliche Misstrauen gegen alle Sinnlichkeit und sein obsessiver Hass auf Sexualität: Wir müssen lernen, unser Begehren unseren Idealen aufzuopfern, wir müssen leiden, um erlöst zu werden, Schmerz ist gut, Lust immer suspekt.

Aber nicht nur die Rationalisten des 18. Jahrhunderts hinterließen uns den vergifteten Becher des theologischen Denkens als Trinkgefäß und eine dünne Hostie als Nahrung. Der geistige Vater der Romantik, Jean-Jacques Rousseau, schuf eine Vision der menschlichen Natur, die, wenn möglich, noch verstörender ist. Aus seiner Ablehnung der Vernunft als kalt und korrupt entstand die Verehrung des Gefühls und der unberührten Natur, wie er beide als Abbilder des göttlichen Wirkens begriff. Aus dieser Prämisse floss ein Weltbild, das seiner Struktur nach eindeutig theologisch ist, seiner emotionalen Beschaffenheit nach aber pathologisch.

Es ist kaum möglich, den Einfluss von Rousseaus Denken auf unsere Kultur zu überschätzen und dieses Denken speiste sich sehr stark aus biografischen Motiven. Wie Nietzsche später schreiben würde, ist alle Philosophie letztendlich eine Art persönliches Bekenntnis, und Rousseau selbst machte diesen Konnex in seinen biografischen Schriften immer wieder. Besonders Frauen gegenüber von tiefer Ambivalenz und angewidert von seiner eigenen Sexualität war er davon überzeugt, dass das Böse mit der Pubertät in die Welt kommt, wenn die Jungen versuchen, einander auszustechen um Mädchen zu imponieren, und die Stärkeren oder Schlaueren beginnen, die anderen zu dominieren und zu unterdrücken. Er selbst fühlte sich in seinem sinnlichen Körper gefangen und sehnte sich nach Erlösung. „Ich habe zu viel in dieser Welt gelitten, um nicht an eine weitere zu glauben“, schrieb er, „ich fühle es, ich will es.“ Der Kult des Sentiments und der Unschuld, der Hass auf den Körper, die Sinnlichkeit, auf Frauen, die Sehnsucht nach einem besseren Jenseits und seine Postulierung als Akt des Willens („Ich fühle es, ich will es.“) machen Rousseau zu einem der christlichsten aller Philosophen.

Dies sind die intellektuellen Fundamente, auf denen die moderne Welt gebaut ist. Wir alle sind Erben dieser Denkweise, Erben von Voltaire und Kant einerseits und Rousseau andererseits. Obwohl sie sich in so vielem unterscheiden, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie die kulturellen Reflexe des Christentums in ihr eigenes Denken integrieren ohne sie als solche kenntlich zu machen. Vieles davon haben wir übernommen ohne es zu wissen.

Unsere öffentliche, scheinbar sekundäre Kultur ist durchdrungen von christlichen, theologischen Denkmustern, wie sie sich von Kindheit an in unseren Geist eingeprägt haben, sodass sie zur ersten, reflexhaften Reaktion auf die Welt geworden sind. Wenn unsere Medien die Zukunft visualisieren, dann in Szenarien von Paradies und Apokalypse, wenn auch Ersteres mit dem Untergang der großen Ideologien aus der Mode geraten ist. Die Liebe unserer Kultur zur Apokalypse aber ist geblieben, ob als Klimawandel, Fukushima, Iranische Bombe oder Weltwirtschaftskrise – sicher ist nur, dass wir alle in die Hölle fahren. Die Idee, dass die Menschheit noch einige Jahrtausende irgendwie weitermachen wird, das bei weitem wahrscheinlichste Szenario, ist uns schon deshalb weniger nahe, weil es unserer religiösen Konditionierung nicht entspricht.

In Hollywood-Filmen, der dominanten Form des Geschichtenerzählens in unserer Kultur, gilt es als obszön, einen nackten Körper zu zeigen, von explizitem Sex ganz zu schweigen. Gleichzeitig ist es augenscheinlich weniger anstößig darzustellen, wie ein Mensch grausam zu Tode gefoltert wird. Gibt es eine bessere Illustration für unseren christlichen Körperhass?

Gewalt ja, Sex nein

Der United States Supreme Court entschied in einem Urteil, dass Minderjährige, in diesem Falle meistens Jungen, das Recht haben müssen, extrem grausame und gewalttätige Computerspiele zu kaufen, in denen ein Spieler extra Punkte dafür bekommt, dass er seine Opfer langsam und unter extremen Qualen zu Tode bringt. In der Begründung berief sich das Gericht auf die Redefreiheit. Ein amerikanischer Journalist bemerkte, dass dieselben Jungen nicht das Recht haben, ein Pornoheft zu kaufen. Augenscheinlich ist es akzeptabel, schrieb er, wenn sie eine Frau langsam zu Tode foltern, vorausgesetzt sie ist anständig bekleidet. Wo, fragt er sich, ist hier die eigentliche Perversion?

Die Einflüsse des theologischen Denkens erstrecken sich durch die Gesamtheit unserer Debatten. Stammzellenforschung und Cloning, genetisches Engineering und Euthanasie, die Konsumwelt, in der wir alle leben: Während unsere Vorfahren vor den Ikonen und Statuen von Heiligen in die Knie gingen, weil ihre Vollkommenheit unerreichbar war und sie dazu inspirierte zu fasten, sich selbst zu geißeln und um Erlösung zu beten, haben wir diese Bilder nur scheinbar aus unserem Leben verbannt. Die Ikonen des Advertising haben einen ähnlichen Effekt auf uns. Auch sie machen uns schmerzhaft deutlich, wie weit wir hinter dem Ideal zurückfallen. Wir sind nie cool genug, jung genug, dünn genug, reich genug, und so inspirieren sie uns dazu Diät zu machen, Verzicht zu üben, vergeblich nach einem besseren Jenseits zu streben, dem Himmel unserer konsumerischen Ambitionen. George Clooney als Nespresso-Engel ist die perfekte Ikone dieser stilbewussten Transzendenz.

Voltaire war weniger Philosoph im eigentlichen Sinn als ein intellektueller Großunternehmer vom Zuschnitt eines Bernard-Henri Lévy.

Wir haben die Theologie hinter uns gelassen, aber wir glauben immer noch. Die Kirchen sind leer, politische Parteien im Abseits, Ideologien längst verkümmert – aber unsere Religion ist intakt. Sie heißt jetzt: Markt.

Der Markt hat einen eigenen Willen, dem wir alle folgen müssen. Jede Zeitung und jede Nachrichten-Sendung gibt uns vorsorglich Börsenkurse, um dies zu bestätigen, Information, die gleich doppelt redundant ist. Für Investoren ist sie viel zu spät und zu allgemein, für die anderen irrelevant. Sie ist da, um uns klar zu machen, dass hier eine objektive Realität ist, eine mächtige Wirklichkeit hinter all unserer Aktivität, die alles treibt, wichtiger als Politik oder Demokratie. Der Markt ist unsere Gottheit, die Medien seine Evangelien, Wall Street seine Kathedrale. Die Metaphern haben sich geändert, aber unser Wille zu glauben ist derselbe geblieben. Unser theologisches Denken bestimmt, wie wir die Welt sehen und in ihr handeln.

Die Aufklärung war nicht entfernt so aufgeklärt, wie wir gemeint haben. Genau das war der Schlüssel zu ihrem Erfolg. Eine Kultur, die seit jeher mit religiösem Denken imprägniert war, musste sich nicht von Grund auf verändern, sondern nur Metaphern und Rhetorik adaptieren. Es überrascht daher auch nicht, dass die Französische Revolution, das große Erdbeben der politischen und intellektuellen Weltordnung, rasch zur Religion der Vernunft zurückkehrte (ihr Prophet war Rousseau). Oberflächlich gegen die Kirche, konnten sich die Revolutionäre dem Sog des theologischen Denkens nicht entziehen.

Aber schon vor der Revolution versuchte eine andere Aufklärung die Welt auf eine viel tiefgreifendere Weise neu zu denken. Ihr Mittelpunkt war das Haus von Paul Thiry d’Holbach in Paris, wo eine Gruppe geistesverwandter Wissenschaftler und Philosophen eine Alternative zur Vergöttlichung der Vernunft formulierten, auch wenn sie dies mit vernünftigen Argumenten taten.

Gegen die moderaten Aufklärer erklärten Holbach, sein Freund Denis Diderot und andere in ihrem Kreis, dass wir keine von Grund auf rationalen Wesen sind, deren einzige Hoffnung darin liegt, ausschließlich der Vernunft zu huldigen, sondern dass wir zuerst leidenschaftlich sind, dass unser begehrender Körper nicht etwas ist, was überwunden, sondern was kultiviert und erzogen werden soll, um erfüllter zu leben.

Dabei waren diese radikalen Aufklärer keine Antirationalisten à la Rousseau. Im Gegenteil: Die Vernunft war wichtig, weil sie uns erlaubt, die Naturgesetze zu lesen und unser Leben und unsere Gesellschaft dementsprechend zu gestalten – aber sie konnte nie mehr sein als ein Ruder, das uns bestenfalls durch die Stürme der Leidenschaften und die tiefen Ströme des Verlangens steuert. Die Vernunft als „Sklave der Leidenschaften“, wie der große Rationalist David Hume es formulierte.

Diese scheinbar kleine Veränderung hat enorme Implikationen. Die antichristlichen und atheistischen Aufklärer glauben an keine nächste Welt, keine andere, höhere Realität. In ihrem evolvierten, sinnlosen Universum war kein Platz für göttliche Schöpfung oder Intervention. Daher war auch ihre körperliche, von Leidenschaften angetriebene Existenz nicht länger ein Hindernis für das „wahre“ Leben.

Sobald wir unseren Platz im Tierreich eingenommen haben, verändert sich das gesamte Bild. Wo die moderate Aufklärung die Vernunft als Anfang und Ziel und den Geist als wahre Existenz postuliert hatte, sahen die radikalen Aufklärer die volupté, die Lust. Eros ist nicht nur die fundamentale Energie, sondern, auf Darwin vorgreifend, das Ziel der Existenz.

Natürlich waren die Radikalen nicht die ersten, die so argumentierten. Sie zählten unter ihren Vorgängern Denker wie Epikur, Lukrez, Montaigne und Spinoza – eine philosophische Ahnenreihe, die viele Jahrhunderte hindurch marginalisiert oder unterdrückt wurde und die noch immer im Schatten einer dominanten Tradition steht. Der Grund für diese Unterdrückung liegt in den politischen Implikationen, die diese Perspektive mit sich bringt. Wenn Lust nicht mehr verdammungswürdig ist, folgt daraus, dass Gesellschaften nicht auf ihrer Entsagung im Namen einer (säkularen oder sakralen) Erlösung begründet werden müssen, sondern auf ihrer Verwirklichung. Wenn es aber keine gottgegebene Hierarchie in der Gesellschaft gibt, keine Macht aus dem Jenseits, dann hat jede und jeder das Recht, nach dem „pursuit of happiness“ zu streben, über den die amerikanischen Gründerväter in Anlehnung an die radikalen Aufklärer schreiben. Allgemeine Gleichberechtigung wird zur Grundbedingung.

Es ist einfach zu verstehen, warum die Bourgeoisie des neunzehnten Jahrhunderts Kant und Voltaire über Diderot und Holbach schätzte, um ihren Laissez-faire Kapitalismus zu rechtfertigen, der ihnen alles, den Arbeitern aber nichts gab. Die Gebildeten waren schließlich die Elite, die Hüter der christlichen Moral. Es ist ebenso offensichtlich warum Diktatoren von Robespierre bis Pol Pot Rousseau verehrten, dessen Sozialphilosophie die Notwendigkeit eines weisen Gesetzgebers etablierte, der den Willen von Gottes Natur auch mit Gewalt gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen durfte. Weniger offensichtlich, aber wesentlich wichtiger ist die Einsicht, dass unsere eigenen Gesellschaften der Verlockung dieser Tradition und ihrer theologischen Grundideen noch nicht entkommen sind und dass eine Alternative dazu vielleicht auch den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft und einem erfüllteren Leben öffnen könnte.

Zu arm für die Aufklärung

Hier allerdings ist es ausgerechnet Diderot, der widerspricht. Er ging davon aus, dass die Aufklärung in den Vorstädten enden musste, „danach sind die Menschen zu arm und arbeiten zu hart“, um sich mit dergleichen zu beschäftigen. Aus demselben Grund bezweifelte er die Möglichkeit einer echten Demokratie.

Diderot selbst rang mit einem grundlegenden Problem, dessen Behandlung ihn zu einem so modernen Denker macht. Als Kind aus religiösem Hause hatte er sich vom Glauben seiner Väter entfremdet und war zum Materialisten geworden, hatte aber die Nostalgie für das Glaubenkönnen nicht verloren. Er sehnte sich nach der Möglichkeit der Religion, nach der instinktiven Zugehörigkeit, der Sicherheit eines allumfassenden Sinns jenseits des sinnlosen Leidens, aber er konnte es rational nicht länger akzeptieren. „Mein Herz geht in eine Richtung, mein Kopf in eine andere,“ seufzte er, und folgte seinem Kopf.

Immer wieder schrieb der moralische Denker Diderot über dieses Dilemma und über die menschliche Neigung, metaphysische Gebäude ohne reale Fundamente zu errichten. „Ein Posten wird frei,“ führte er in einem Brief aus, „eine Frau nutzt ihre Verführungskünste, sie hebt ihren Rock und voilà, ihr Mann, ein armer Büroschreiber mit hundert Franc im Monat ist plötzlich monsieur le directeur mit fünfzehntausend livres im Jahr. Was aber ist die Verbindung zwischen einem gerechten und großzügigen Akt und dem lustvollen Verlust einiger Tropfen Flüssigkeit? Um ehrlich zu sein, ich glaube der Natur sind Gut und Böse gleichgültig. Sie will nur zwei Dinge: das Überleben des Individuums und die Vermehrung der Art.“

Diderots Dilemma resümierend kann man über ein Problem mit dem Umgang mit Geschichten und Metaphern sprechen. Mit Diderot wollen die meisten Menschen glauben können, dass das Universum mit einer Absicht und einem Ziel geschaffen wurde, dass unser Leben selbst sinnvoll ist. Es ist wahrscheinlich, dass diese metaphysische Sehnsucht nach Sinn, Struktur, Regelhaftigkeit so etwas ist wie eine anthropologische Konstante, ein fester Bestandteil unseres Gehirns. Es ist wesentlich für unser Menschsein mitverantwortlich. Technologie und Wissenschaft wurden durch unsere Fähigkeit ermöglicht, mögliche Zwecke und Gesetzmäßigkeiten in der Welt um uns herum zu identifizieren, zu begreifen, dass ein Ast und ein Stein zu einer Axt verbunden werden können. Aber auch die Kultur verdankt ihre Existenz dieser menschlichen Eigenschaft. Menschen rangen dem scheinbar Sinnlosen einen Sinn ab, indem sie Mythen darüber erzählten, indem sie Bedeutung in die Welt hineinprojizierten und sich Geschichten über ihren Ort in der Welt erzählten.

Geschichtenerzählen ist eine anthropologische Konstante, wir können nicht entscheiden ob, sehr wohl aber welche Geschichten wir einander erzählen.

Die Denker der radikalen Aufklärung argumentierten, dass Leidenschaft und Begehren fundamentale Kräfte unserer Existenz seien. In der Sprache des Mythos klingt das wie folgt: Eros beherrscht uns. Er zieht uns hinein in die Welt, indem er uns begehren lässt. Da er aber ein anarchistischer kleiner Gott ist, lenkt er unsere Lust oft auf Objekte, die für uns nicht angemessen oder nicht erreichbar sind. Er stört jede bestehende Ordnung und säht Chaos und Verwirrung – die Inspiration zahlloser Tragödien und Komödien.

Die Herrschaft des Eros führt manchmal zu Diderots jouissance, noch öfter aber verursacht sie Frustration und sogar Trauer. Erst durch unser Begehren erfahren wir Versagen und Verlust. Wir lieben Menschen, die uns nicht lieben, wir wollen Ziele erreichen, die sich uns beharrlich entziehen, wir trauern um diejenigen, die von uns weggegangen sind oder uns durch Krankheit und Tod entrissen wurden. Das Leben unserer tatsächlichen Erfahrung bietet wenig Berechtigung für Optimismus und für planend konstruktives Handeln, für Hoffnung. Auch vom Joch der religiösen Mythen befreit und ohne Glauben in ein Leben nach dem Tode, ohne Verachtung für diese Welt und frei unserem Begehren zu folgen, sind wir immer noch konfrontiert mit unserem ständigen Versagen. Das Resultat ist eine Art tragischer Hedonismus.

Das Antidot zu der überwältigenden Erfahrung des Chaos um uns herum ist so alt wie die Menschheit selbst. Geschichten erlauben uns, Sinn und Ordnung in die Welt hineinzuprojizieren. In Geschichten, zumindest in ihrer einfachsten Form, finden sich die Liebhaber am Ende, Absichten werden Wirklichkeit, Tugend wird belohnt und Laster bestraft. Die Welt erscheint als sinnvolles Ganzes und kompensiert uns für das Chaos der Erfahrung. Unsere Fähigkeit, uns selbst Geschichten über uns zu erzählen und bis zu einem gewissen Grad an sie zu glauben, gibt uns den Mut, morgens aufzustehen, immer wieder zu versuchen, Projekte zu realisieren.

Durch Geschichten, durch unseren hartnäckigen Glauben an die Möglichkeit des Glücks, können einige unserer Absichten sogar Wirklichkeit werden. Begehren ist genug, um sich zu verlieben, aber die Vernunft hält dagegen. Sie wendet ein, dass die meisten Liebesgeschichten in Enttäuschung enden, dass Schmerzen und Bitterkeit drohen, dass zwei Drittel aller Ehen in Scheidung enden. Wir aber hören nicht auf diese vernünftige Stimme. Stattdessen beginnen wir uns Geschichten zu erzählen, Liebesgeschichten über ewige, glückliche Zweisamkeit. Die Macht dieser Geschichten kann so groß sein, dass die Liebe manchmal tatsächlich alle Hindernisse überlebt, die ihr im Weg stehen.

Diderot will glauben

Diderot war fasziniert von der Macht und Struktur von Geschichten. In seinen Romanen, Theaterstücken und Essays kreiste er um sein eigenes Verlangen nach Sinn und dessen Unmöglichkeit. Er reagierte auf sie mit einer festen, wenn auch niemals einfachen Entschlossenheit, der Verführungskraft der Geschichte, nach der es ihn selbst verlangte, dem religiösen Glauben, nicht nachzugeben. Seine Schlussfolgerung, dass die Geschichte, an die er glauben wollte, nicht der Wirklichkeit entsprach, dass es keinen Gott im Himmel gibt, arbeitete er ein Leben lang daran, gegen seinen Instinkt zu denken, seiner Nostalgie nicht stattzugeben, die er als ein bloß psychologisches Phänomen erkannte. Das macht ihn zu einem sehr modernen Denker.

Wir alle leben mit kulturellen Reflexen und persönlichen Instinkten, die unserem Denken zugrunde liegen, Dinge, von denen wir wollen, dass sie wahr sind, und nichts ist wichtiger, als diese Instinkte im kühlen Licht der Vernunft zu untersuchen und dazu bereit zu sein, sie hinter uns zu lassen, wenn sie dieser Untersuchung nicht standhalten. Das heißt auch immer, gegen die eigenen Instinkte, die eigenen tiefsten Wünsche zu denken. Nicht alles, was wir als wahr sehen wollen, ist auch der Fall. Philosophie hängt nicht nur davon ab, die richtigen Fragen stellen zu lernen, sondern auch davon, mit den Resultaten der eigenen Reflektion leben zu lernen.

Im Hinblick auf das Geschichtenerzählen bringt uns dies zu einem Schluss, der einerseits zwingend ist und andererseits paradox. Wir sind Tiere, die Geschichten erzählen, darin haben wir keine Wahl. Unsere intellektuelle Situation wird aber problematisch, wenn wir die Unterscheidung zwischen einem Erfahrungsinhalt und der Geschichte, die wir darüber erzählen, verwischen. Metaphern sind notwendig für unser psychologisches Überleben, aber in dem Moment, in dem wir vergessen, dass es nur Metaphern sind und sie als akkurates Abbild der Welt akzeptieren, mauern wir uns selbst in einem Gefängnis unseres Denkens ein. Sobald wir beginnen, unsere Geschichten als buchstäblich wahr anzusehen, verlieren wir die lebendige Verbindung mit der Welt.

Das Paradox liegt darin, dass wir uns auf eine Geschichte einlassen müssen, um psychologischen Nutzen aus ihr zu ziehen, dass wir, um Samuel Taylor Coleridges Formulierung zu benützen, unseren Unglauben aufheben müssen (seine „suspension of disbelief“), um in die Geschichte einzutauchen. Wer Tolstois Anna Karenina nur als formale Übung in literarischer Form liest, wird kein Mitgefühl aufbringen können. Nur wenn wir so tun, als ob Anna real wäre, als ob ihr Leiden und ihre Hoffnungen so wirklich sind wir unsere eigenen, können wir das aus der Geschichte ziehen, was wir darin suchen. Trotzdem aber würde kein erwachsener Leser ein russisches Archiv aufsuchen, um Annas Geburtsdatum, ihre Heiratsurkunde oder ihre Adresse zu finden. Wir wissen schließlich, dass sie nur eine Erfindung ist.

Dies ist das Paradox des Geschichtenerzählens, das einerseits unauflösbar scheint, andererseits aber buchstäblich von jedem Kind beherrscht wird, das sich in einem Moment entscheidet, Spiderman zu sein oder eine Prinzessin und diese Fiktion im nächsten Augenblick wieder aufgibt. Kinder verstehen intuitiv nicht nur den Wert von Geschichten, sondern auch, wie sie sich zwischen ihnen und dem Rest ihres Lebens bewegen können.

Am Anfang dieser Ausführungen stand die Forderung nach einer neuen Aufklärung, die nicht überkommene, theologische Denkfiguren und Reflexe unserer Kultur in ein neues, weniger offensichtlich religiöses Vokabular kleidet und so verbirgt, sondern eine tiefere Analyse unserer Werte und Ziele ermöglicht. Diese Möglichkeit bietet, so meine ich, der tragische Hedonismus, der von einer materialistischen und weitgehend marginalisierten philosophischen Strömung tradiert und von den radikalen Aufklärern mit besonderer Klarheit formuliert wurde.

Jede Geschichte dramatisiert Werte, Hoffnungen und Ängste und bringt sie in mitteilbare Form. Die Geschichten, die sich unsere Kultur über sich selbst durch Medien, Filme, Romane und alltägliche Unterhaltungen bislang erzählten, basierten immer noch auf dem Kult der Vernunft der moderaten, deistischen Aufklärung von Kant und Voltaire, oder auf dem romantischen Kult des Sentiments in der Nachfolge Rousseaus. Mit ihnen transportieren wir christliche Inhalte wie Körperfeindlichkeit, Jenseitigkeit, den positiven Wert des Leidens und das Misstrauen gegenüber Begehren und Leidenschaft – Ideen, die uns westlichen Menschen längst zur zweiten Natur geworden sind, die aber weder notwendig sind noch der Tierart homo sapiens entsprechen.

Das Geschichtenerzählen ist eine anthropologische Konstante, und wir können nicht entscheiden ob, sehr wohl aber welche Geschichten wir uns erzählen. Das Denken der radikalen Aufklärung kommt aus einer Tradition, in der Leidenschaft und Solidarität, Empathie und die planvolle Verfolgung eines erfüllten Lebens auf der Einsicht basieren, dass Eros, nicht Vernunft, die treibende Kraft unserer Existenz ist. Die Geschichte der moderaten Aufklärung, der Vernunft und der Rationalisierung und damit auch des Marktes als objektive Größe hat ihre Grenzen längst erreicht. Höchste Zeit, dass wir beginnen uns eine andere Geschichte zu erzählen.

Manuskript der diesjährigen, alle zwei Jahre stattfindenden Marchant Lecture, die am 8. 12. 2011 in der Geertekerk in Utrecht gehalten wird.

Philipp Blom, Jahrgang 1970, ist Historiker, Schriftsteller und Übersetzer in Wien. Zuletzt erschienen im Hanser Verlag: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914 (2009) und Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung (2011).

Quelle: Recherche 3/2011

Online seit: 15. November 2019