„Nationale Ursprünge sind immer imaginär“

Der Historiker Shlomo Sand im Gespräch mit Erich Klein über sein Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes, seine Herkunft und das Existenzrecht Israels.

Online seit: 15. Oktober 2019

RECHERCHE Ihr Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes wurde in Israel zum Bestseller, in Frankreich wurde es ebenso heftig diskutiert wie in England und den USA. Zugleich waren Sie vehementer Kritik ausgesetzt: Es wurde behauptet, dass Sie mit der Thematik nicht ausreichend vertraut seien. Haben sie außerdem keine Angst vor Applaus von der falschen Seite – ganz besonders in Europa?

SHLOMO SAND Um Letzteres kann ich mich nicht kümmern. Aber das Institut für Jüdische Geschichte leidet sehr unter mir. Die Existenz des jüdischen Volkes in Frage zu stellen, war zu viel für sie –  jetzt haben sie begonnen, zurückzuschlagen. Ich kann es ja verstehen, trotzdem haben sie den Kampf verloren. Das Buch stand in Israel 19 Wochen auf der Bestsellerliste. Was die bekannten Kritiker betrifft – Simon Schama hat mich in der Financial Times angegriffen, in Italien sprach er sich hingegen für mein Buch aus. In Forward, der berühmten jüdischen Zeitung in den USA, sind Tony Judt und Eric Hobsbawm für mich eingetreten. Hobsbawm nominierte es als Buch des Jahres, worauf ich besonders stolz bin. Dasselbe machte Terry Eagleton. Die Financial Times kritisierte mich, als ich eine Antwort schrieb, wollten sie diese nicht publizieren. Sie schlagen zurück und kämpfen – und sie tun gut daran, aber niemand konnte bislang meine Frage beantworten: Warum gab es in der Geschichte ein jüdisches Volk, und warum gibt es das jüdische Volk heute? Niemand hat darauf eine klare Antwort gegeben. Und deshalb stelle ich diese Frage noch einmal. Können wir von einem jüdischen Volk für tausend Jahre sprechen, und können wir heute von einem weltweiten jüdischen Volk sprechen?

RECHERCHE Und – können wir das?

SAND Ich glaube nicht.

RECHERCHE Dann schlage ich vorerst einen biografischen Zugang vor: Wenn Österreich Amerika wäre, dann hätten Sie heute einen österreichischen Pass. Sie wurden 1946, unmittelbar nach dem Krieg, als Kind polnischer Juden in Österreich geboren.

SAND Wissen sie, manchmal werde ich in Israel angegriffen und es heißt dann, es ist ja kein Wunder, das Buch wurde von einem Österreicher geschrieben. Meine Eltern waren nach dem Krieg entsetzlich müde – sie fanden keinen Platz, wo sie sich niederlassen konnten. Sie kamen nach Linz, wo ich in einem Flüchtlingscamp geboren wurde. Ich habe den Ort, an dem meine Eltern lebten, vor einigen Jahren gesehen, jetzt ist das ein Teil von Linz. Wo ich geboren wurde, steht heute eine Kirche – meine Geburt erfolgte irrtümlich, durch Zufall, oder durch die Geschichte. Ich wurde später in Israel, als ich zur Schule ging, für einen Österreicher gehalten. Dafür halte ich mich selbst natürlich nicht – ich bin ein Israeli von jüdischer Herkunft. Ich bin kein Jude, sondern Israeli jüdischer Herkunft – meine Eltern waren jüdisch, meine Großeltern sogar sehr jüdisch. Wir lebten ungefähr zwei Jahre lang in Traunstein in Bayern, unweit der österreichischen Grenze, in einem Flüchtlingslager – bis zur Gründung Israels im Jahre 1948. Damals emigrierten meine Eltern nach Israel, weil zu dieser Zeit niemand die Juden wollte.

RECHERCHE Sprechen Sie jetzt vom Polen der Nachkriegszeit?

SAND Meine Eltern waren aus der UdSSR zurückgekommen – wohin sie während des Krieges geflohen waren, sie haben in Samarkand gelebt. Stalin ließ sie ins Land, als alle anderen sie abwiesen. Als sie nach 1945 nach Polen zurückkehrten, gab es in Polen Pogrome, die Situation war höchst unklar. Die nationalen Partisanen waren ziemlich antisemitisch, also entschied sich mein Vater, wegzugehen. So kamen wir nach Österreich, dann nach Deutschland. In den Jahren 1945/46 wollte die westliche Welt keine Juden aufnehmen, es war einfacher, sie den Arabern auf die Schulter zu legen. Die USA haben bis 1950 keine Juden aufgenommen. Es war damals sehr leicht, für einen jüdischen Staat zu votieren. Um das aber gleich ganz klar festzuhalten – ich bin heute nicht gegen die Existenz Israels!

RECHERCHE Ihr Buch beginnt trotzdem sogleich mit einer Provokation. Als Vorsatz steht da – „In Erinnerung an alle Flüchtlinge, die dieses Land erreichten, und an all jene, die es verlassen mussten.“

SAND Gegen die Existenz Israels einzutreten, das wäre nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Es wäre Unsinn! Wenn Sie mich aber bezüglich 1947 fragen – die Gründung Israels stellt ein moralisches Problem dar. Es bewirkte eine Tragödie für die lokale Bevölkerung. Das ist für mich ganz offenkundig. Wir können die Geschichte nicht rückgängig machen, aber Israel muss anerkennen, was auf Arabisch und was wir heute auch auf Hebräisch als „Nakba“ bezeichnen – die Tragödie für die Palästinenser. Sie haben uns nichts getan, aber die Errichtung unseres Staates schuf ein Flüchtlingsproblem, das bis jetzt nicht gelöst wurde, allerdings gelöst werden muss. Sie müssen auch wissen – ich glaube nicht an das Recht der Palästinenser auf Rückkehr; man kann nicht für einen israelischen Staat eintreten und zugleich für ein Recht der Palästinenser auf Rückkehr nach Israel. Das wäre ein Widerspruch. Israel muss aber seinen Anteil an der Tragödie anerkennen, und wir müssen die Ersten sein, die sich an der Lösung des Flüchtlingsproblems beteiligen. Israel sollte an der Spitze stehen, um diese Flüchtlingscamps in Jordanien und Syrien aufzulösen.

In den Jahren 1945/46 wollte die westliche Welt keine Juden aufnehmen, es war einfacher, sie den Arabern auf die Schulter zu legen. Die USA haben bis 1950 keine Juden aufgenommen.

RECHERCHE Sie sind als Kleinkind nach Israel gekommen – welche Rolle spielte der familiäre Hintergrund für Ihre spätere Kritik des Landes?

SAND Mein Vater war ein Kommunist. Er ging nach Israel, weil es keinen andern Platz für ihn gab. Für mich blieb es immer mysteriös, wie er nach all dem, was mit den polnischen und den sowjetischen Kommunisten geschehen war, Kommunist bleiben konnte. Ich wuchs in einer mehr oder weniger kommunistischen Familie auf. Bis zur Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei im Jahre 1968 blieb ich ein Sympathisant. Ich war immer kritisch, aber die kommunistische Jugend war die einzige Organisation, wo es gleichermaßen Juden und Araber gab. Die Sichtweise eines Arabers auf Israel in Jaffa war für mich wichtig – vor allem auch deshalb, um mir selbst eine universalistische Sichtweise zu bewahren. Nach Prag hatte ich keinerlei Illusion mehr über den Kommunismus, die universalistische Sicht der Dinge, die mir der Kommunismus gegeben hatte, behielt ich dennoch bei. Ich lebte in Jaffa mit Nicht-Juden. Als ich noch sehr jung war, lernte ich den Dichter Mahmud Darwisch kennen. Er hat ein Gedicht über mich geschrieben, das sehr berühmt wurde. Die Diskussionen mit ihm waren sehr wichtig – als ich Antikommunist wurde, hörte er sogar eine Zeit lang auf, mit mir zu sprechen. Ich blieb immer kritisch in Bezug auf die politische Kultur in Israel – ich war nie Zionist, es gab aber auch eine Zeit, besonders nach dem Krieg des Jahres 1967, in der ich zum Antizionisten wurde. Heute definiere mich nicht als Antizionist – die Leute verwechseln Antizionismus damit, Israels Existenzrecht in Frage zu stellen. Ich bin ein Postzionist, weil ich das historische Produkt des Zionismus, den Staat Israel, akzeptiere. Mein Buch ist eine nicht-zionistische Lektüre von Geschichte und gegenwärtiger Politik – da ich ein Demokrat bin, trete ich nicht für einen jüdischen, sondern für einen israelischen Staat ein. Ich hoffe, sie möchten Österreich nicht als katholischen Staat, oder gar als einen arisch-katholischen Staat definieren – genau das ist auch der Grund, warum ich möchte, dass Israel den Israelis gehört und nicht den Juden der Welt.

RECHERCHE Abgesehen von der Polemik erinnert Ihre Argumentation ein wenig an den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, der sich leidenschaftlich mit der Frage der Nicht-Existenz des jüdischen Volkes beschäftigt hat – seine Umgebung hat das nicht immer verstanden.

SAND Bruno Kreisky war einer der interessantesten Politiker seiner Zeit. Ich mag nicht alles, was er von sich gab, er ging auch nicht mit allem, was er sagte, verantwortungsvoll um – aber grundsätzlich gesprochen, hätte man in Israel die Meinung dieses Österreichers jüdischer Herkunft akzeptiert, dann hätten wir heute im Nahen Osten einen anderen Staat und andere Friedensbedingungen. Kreisky hat das Problem der Palästinenser sehr früh verstanden.

RECHERCHE Sie sagten, sie wurden eine Zeit lang zum Antizionisten – was war Ihre Position 1967, zur Zeit des Sechstagekrieges? Sie waren damals einundzwanzig und ich nehme an, Sie haben damals studiert.

SAND Ich war gerade in der Armee und habe in Jerusalem gekämpft! Ich war an der Besetzung von Jerusalem beteiligt, dort erlebte ich das einzig wirkliche Gefecht meines Lebens. Eine Menge von Leuten wurde in meiner Umgebung getötet oder verwundet. Ich kam aus diesem Krieg sehr viel stärker politisiert zurück, als ich es zuvor gewesen war. Auch wenn ich Affinität zur kommunistischen Jugend hatte, ich war davor kein wirklich politischer Mensch. Mich hat das Jahr 1967 radikalisiert. Jerusalem hat mich schockiert – nicht nur der Kampf, sondern vor allem das, was nach der Schlacht geschah. Wissen Sie, 1967 aus dem Krieg als junger Mann zurückzukommen – nebenbei nicht als Student, sondern als Arbeiter – und zu sehen, wie sich die Israelis im Sieg verhielten, war schrecklich. Es ist nicht nur schrecklich, ein Volk in der Niederlage zu sehen, es ist auch schrecklich, ein Volk in seinem Sieg zu sehen. Sie waren trunken vor Sieg, sie träumten von einem großen Staat Israel samt Westjordanland, auch die Linken, die zionistische Linke. Von einem großen Staat träumten auch alle Schriftsteller – selbst Shai Agnon, der Nobelpreisträger, auch dieser zurückhaltende Mann und großartige Schriftsteller wollte einen Staat bis zum Jordan. Stellen Sie sich das einmal vor – der gemäßigte Zionist Shai Agnon unterzeichnete eine Petition, in der verlangt wurde, dass keine künftige Regierung das Recht haben sollte, die Westbank zurückzugeben. In dieser Atmosphäre wurde der junge, nicht besonders viel wissende einundzwanzigjährige Bursche namens Shlomo Sand radikalisiert. Ich schloss mich für zwei Jahre einer antistalinistischen Linksgruppe an, die ich wieder verließ, als die Aufteilungen und Abspaltungen in Trotzkisten und Maoisten immer dümmer wurden. Ich war damals ziemlich verzweifelt und entschied mich, ein Studium zu beginnen. Wenn ich die Geschichte schon nicht ändern konnte, so wollte ich sie zumindest studieren und wissen, was Geschichte ist – und ich war mir damals sicher, dass ich nichts ändern konnte. Zuerst wollte ich Theater und Literatur studieren, wegen meiner schlechten Noten hat man mich aber nicht genommen, also studierte ich Geschichte. Ich wurde dann sehr rasch zu einem guten Studenten und bekam ein Stipendium, weil ich aus einer nicht wohlhabenden Familie stammte. Das war nach 1967, mit der Invasion der kommunistischen Armeen in Prag im Jahre 1968 waren alle Träume bezüglich Kommunismus verflogen. Mein Vater hat eineinhalb Jahre nicht mehr mit mir gesprochen.

Für Theodor Mommsen waren die Juden ein Teil der deutschen Nation, wie zum Beispiel die Schleswig-Holsteiner.

RECHERCHE Warum denn das?

SAND Weil ich Antikommunist wurde. Erst später redeten wir wieder miteinander und machten Frieden, aber ich blieb bis 1991 antikommunistisch. Seitdem es die Sowjetunion nicht mehr gibt, hat mein Antikommunismus nachgelassen. Heute ist das kein Feind mehr – aber der Krieg in Prag bewirkte einen antikommunistischen, antistalinistischen Radikalismus. Ich war ab den 1970er-Jahren nicht mehr „organisiert“. Ich hatte eigentlich Deutsch studiert und wollte nach Frankfurt gehen, bekam dann aber zufällig ein Stipendium nach Paris, um mein Doktorat zu machen. In meiner Diplomarbeit ging es um Jean Jaurès und die nationale Frage, dann beschäftigte ich mich mit Georges Sorel und dem Marixmus – Dinge, die mir halfen, mich von allen möglichen Schematismen zu befreien. Obwohl ich Französisch anfänglich nicht konnte, machte ich in Paris einen guten Abschluss und bekam das Angebot, dort zu arbeiten. Die folgenden zehn Jahre in Paris waren ziemlich verrückt, und ich hatte auch einigen Erfolg. Als ich dann gefragt wurde, in Tel Aviv zu unterrichten, konnte ich dieser Versuchung nicht widerstehen. Meine Frau und meine Tochter wollten eigentlich in Paris bleiben – ich habe sie 1985 nach Israel regelrecht zurückgezerrt.

RECHERCHE Sie haben Bücher über französische Intellektuelle, über Geschichte, Kino und Politik gemacht, also über sehr internationale Themen. Warum sind Sie nach Israel zurückgegangen – aus Wunsch nach Engagement?

SAND Ich dachte, Israel ist mein Land, das Hebräische meine Heimat. Es ist zwar nicht meine erste Sprache, denn das ist Jiddisch – aber Hebräisch ist die Sprache, in der ich erstmals mit den Mädchen geflirtet habe. Das ist sehr wichtig, ich meine nicht das Flirten, sondern die bestimmte Sprache, in der man das tut. Ich hatte begonnen, über Geschichte in Hebräisch zu sprechen – als ich die Möglichkeit bekam, ging ich nach Tel Aviv und wurde Universitätsprofessor.

RECHERCHE Wann haben Sie dann eigentlich Jiddisch gesprochen – mit den Eltern?

SAND Meine Eltern kamen aus der Unterschicht und sprachen miteinander immer jiddisch – in Polen haben die bürgerlichen Juden nur polnisch gesprochen, sie vermieden das Jiddische. Jiddisch war die Sprache des jiddischen Volkes. Wir sprachen zu Hause jiddisch – erst in der Schule lernte ich das Hebräische. Wenn ich drei Tage in Berlin bin – ich weiß, dass es verschiedene Sprachen sind, aber die Vokabel sind oft nahe – dann fühle ich mich ein wenig zu Hause. Wenn ich längere Zeit Deutsch höre, dann erinnert mich das daran, wie ich mit meinen Eltern bis zu deren Tod Jiddisch sprach. In Israel finde ich unter meinen Kollegen dafür kaum mehr jemand.

RECHERCHE Es erstaunt, dass Sie Hitler in Ihrem Buch mit seiner ziemlich verqueren Sicht der jüdischen „Rasse“ zitieren, der Holocaust kommt hingegen praktisch nicht vor.

SAND Ich erwähne Hitler am Ende des Buches – aber Sie haben Recht, ich spreche nur einmal sehr kurz über den Holocaust. Aber um dies klar zu stellen: Mein Buch ist kein Buch über die Geschichte der Juden, sondern eine Kritik der zionistischen Historiografie. Es war sehr wichtig, diese Sichtweise der Vergangenheit zu dekonstruieren, die ganze Mythologie, die ein wichtiger Bestandteil der Errichtung Israels war, wird zerstört. Was wir quasi von Hitler nahmen, das stammte nicht von Hitler selbst, sondern von Heinrich von Treitschke. Wie überall gab es in Deutschland im 19. Jahrhundert zwei Strömungen, wie man sich als Volk und als Nation definieren konnte: Für den großen Historiker Theodor Mommsen waren die Juden ein Teil der deutschen Nation, wie zum Beispiel die Schleswig-Holsteiner. Er kam aus Schleswig, konnte ein wenig Dänisch und wusste, dass Deutschland ein Konstrukt war, das aus vielen Teilen bestand. Mommsen ist hier nur ein Beispiel – er war Republikaner und hatte ein republikanisch-bürgerliches Konzept der deutschen Nation. Allerdings wurde dieses Konzept von einer anderen Strömung besiegt, für die Treitschke stand. Ende des 19. Jahrhunderts begann man das Volk auf der Grundlage eines Ursprunges als Nation zu definieren – solche Ursprünge sind immer imaginär, es gab stärkere und schwächere Versionen, in denen die Deutschen dann zum Beispiel von den Ariern oder den Teutonen abstammten. Was in diesem Zusammenhang besonders wichtig ist und bis zu Hitler wichtig bleibt – der Großteil der Juden verstand sich in Deutschland oder in Österreich als „Deutsche mosaischen Glaubens“, „mosaischer Konfession“. Das galt für den Großteil – sie wollten nicht nur deutsch sein, sie waren auch Deutsche. Ich möchte nachdrücklich auf einen noch wichtigeren Umstand hinweisen: Die Juden in Deutschland oder Frankreich waren die ersten Deutschen und Franzosen. Hier mag jetzt der Eindruck entstehen, ich sei ein bisschen verrückt – wie soll das gehen? Wenn sie aber einmal kapiert haben, dass Deutschland genauso wie Frankreich als Nationen Konstrukte sind, ist alles klar. Es gab zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch sehr wenige Deutsche, hingegen gab es viele Sachsen, viele Schwaben, und viele andere – die meisten Bauern wussten im 18. Jahrhundert nicht einmal, dass sie Deutsche sind. Viele Juden lebten in den Städten und versuchten, ihre Lebensumstände zu verbessern – wozu auch gehörte, die Kindererziehung voranzutreiben – die waren dann die ersten Deutschen! Sie sprachen besser Hochdeutsch als ein Bauer in Sachsen. Wer war mehr Deutscher – Heinrich Heine oder Hitlers Vater? Das Hochdeutsche war eines der zentralen Werkzeuge, um die Nation zu konstruieren, auch wenn es nicht das einzige Mittel war, es gab natürlich auch Kriege, man kann keine Nation schaffen, ohne Feinde zu bekämpfen.

Deutsche Juden haben als Soldaten ohne Probleme auf Franzosen jüdischer Herkunft geschossen.

RECHERCHE Die Juden wollten sich assimilieren, als das aus den bekannten antisemitischen Gründen nicht gelingt, beginnt ein Prozess, den man als Nation-Building bezeichnen könnte – in diesem Fall wird das der Zionismus sein. Wo liegt eigentlich das Problem?

SAND Nein, sie gehörten zu jenen, die die deutsche Kultur überhaupt erst schufen. Sieht man sich die deutsche Gesellschaft zur Zeit des Zweiten Reiches an, so sind es die Juden, die in den Städten leben und sehr viel schneller zu Deutschen wurden als die Bauern. Und sie waren dabei sehr deutsch – später verstanden sie denn auch nicht, warum sie Hitler aus der Nation verdrängte und ausschloss. Die Deutschen, die nach Palästina emigrierten, bewahrten bis zum Lebensende ihre deutsche Kultur, und zwar sehr viel mehr als es die polnischen, ukrainischen oder lettischen Juden im Falle ihrer Kultur taten. Der Grund dafür ist in folgendem Umstand zu suchen: Im Osten waren die Juden wegen ihrer Isolation zu einem jiddischen Volk mit einer eigenen Kultur geworden. Man sollte die deutschen Juden diesbezüglich nicht mit den sogenannten Ostjuden vermischen. Diese Ostjuden hatten begonnen, die Charakteristika eines Volkes auszubilden – ich verwende absichtlich nicht den Ausdruck „jüdisch“, sondern sage – jiddisches Volk. Eine Art von jiddischem Volk war im Entstehen begriffen, das immer wieder geschlagen und unterdrückt und schließlich vernichtet wurde. Meine Eltern waren nicht wie die Deutschen – sie hatten das Jiddische, die deutschen Juden oder jüdischen Deutschen waren hingegen vor allem Deutsche. Nehmen Sie einen Autor wie Ernst Toller, für den der jüdische Ursprung wichtig war – ich glaube nicht, dass man ihn als Juden bezeichnen kann; oder Walter Benjamin, der sich für das Hebräische interessiert, dasselbe trifft auf Adorno und Horkheimer zu: Alle sagen, sie seien Juden, aber sie sind genauso viel Juden wie ich Buddhist.

RECHERCHE Ist es nicht problematisch, zu bestimmen, „wo der Jude anfängt“?

SAND Nehmen Sie den Unterschied zwischen Gershom Scholem und Walter Benjamin: Scholem war ein Deutscher, der Jude werden wollte und zum Juden wurde. Jeder hat das Recht dazu. Benjamin wollte hingegen kein Jude werden.

RECHERCHE Es geht hier aber auch noch um eine andere Qualität. Amos Oz erzählt in seinem autobiografischen Roman Eine Geschichte von Liebe und Finsternis unter anderem von seinem Großonkel, dem Historiker Joseph Klausner. Er lässt Klausner davon erzählen, dass im Europa der Vorkriegszeit einzig und allein die Juden der diversen Länder Europäer waren, während alle anderen Völker rabiaten, nationalen Träume nachhingen.

SAND Ich glaube das nicht – ich glaube, er kritisiert sie, weil sie Europäer waren. Die meisten Deutschen jüdischen Ursprungs waren im ersten Weltkrieg sehr nationalistisch – genauso, wie die Franzosen jüdischen Ursprungs sehr französisch waren. Alfred Dreyfus, auch wenn er im Elsass geboren wurde, war ein Superfranzose! Deutsche Juden haben als Soldaten ohne Probleme auf Franzosen jüdischer Herkunft geschossen. Die Juden waren keine Europäer – Klausner war ein zionistischer Historiker, der über die Europäer lachen wollte. Im ersten Weltkrieg wurden die deutschen Zionisten sogar zu deutschen Nationalisten, so unglaublich das klingen mag. Oder nehmen Sie Nahum Goldmann – er trat für den deutschen Imperialismus ein. Chaim Weizmann, der sich in London befand, war für den britischen Imperialismus – sie waren vier Jahre lang Feinde. Man stelle sich das vor: Beide träumen von einem Judenstaat, aber im Moment stehen sie auf der Seite ihrer Nationen. Dreyfus war kein Europäer! Die meisten Juden waren entweder deutsche Nationalisten, französische Nationalisten oder englische Imperialisten – wie Benjamin Disraeli am Ende seines Lebens. Die Ostjuden waren sehr viel weniger patriotisch, weil sie in ihren Ländern an den Rand der Gesellschaft gedrängt waren. Aber sie hatten ihre Alltagskultur. Als Menschen wie der aus Frankfurt stammende Vater von Gershom Scholem aufhörten, religiös zu sein, wurden sie immer deutscher. Nachdem sie ihre Religion verlassen hatten, verstanden sie nicht, was eigentlich das Problem war – und als dann die ersten Juden ins Konzentrationslager deportiert wurden, verstanden sie nicht, warum sie dort überhaupt hineingesteckt wurden.

RECHERCHE In Ihrer Dekonstruktion des Zionismus erzählen Sie die Geschichte der jüdischen Geschichte von der Bibel bis in die Gegenwart herauf – eine zentrale Figur in diesem Prozess ist der Historiker Heinrich Graetz, der sich heute schon ziemlich trocken liest.

SAND Die Juden sind nichts Besonderes – wie Treitschke oder Michelet begannen auch sie, sich eine mythologische Vergangenheit zu geben. Ein Kritiker warf mir vor, ich hätte unsere Geschichte und das Konzept des Volkes allzu sehr an jenem der Deutschen gespiegelt; es gab diesen Vorgang aber nicht nur bei Treitschke oder bei Ranke, der sehr viel kosmopolitischer vorging, sondern auch bei den Franzosen; zum Beispiel im Streit zwischen dem Historiker Augustin Thierry und Jules Michelet. Man wollte die Geschichte auf einer ethnischen Basis errichten und plötzlich tauchten die Gallier auf! Heinrich Graetz war von außerordentlicher Bedeutung – gerade auch für die Juden im Osten, wo es sehr wichtig war, von sich selbst als einem Volk zu reden. Die Juden hatten bis zu diesem Zeitpunkt praktisch keine Geschichte – 2000 Jahre lang gab es keine Geschichte der Juden, es gab nur die Bibel als eine Art historisches Narrativ. Und es gab ja auch keine Geschichte der Kirche. Das wirkliche Narrativ begann mit Isaak Markus Jost und vor allem mit Heinrich Graetz. Dessen Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart war der Ursprung des zionistischen Denkens. Ich habe moralisch und intellektuell zu Graetz eine andere Einstellung, da er wirklich das Gefühl einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit verkörperte. Er litt unter der starken deutschen Geschichte und wurde zu einem Juden. Die meisten deutschen Juden haben ihn angegriffen – ich befinde mich heute in einer ähnlichen Minderheit! Nebenbei stammte Graetz ursprünglich auch aus dem Osten – er wurde von Berliner Intellektuellen angegriffen, es hieß, was er mache, sei unseriös, man mochte ihn in der Berliner Gemeinde nicht.

RECHERCHE Ein anderer jüdischer Historiker, den Sie ausführlich behandeln, ist Simon Dubnow, dessen Weltgeschichte des jüdischen Volkes in den 1920er Jahren fast populär war.

SAND Simon Dubnow lebte eine Generation später und begann in einer wirklich jiddischen Zivilisation zu arbeiten – und vor allem, nach dem Beginn der Pogrome im Osten. Die Geburt des ukrainischen und polnischen Nationalismus verdrängte diese jiddischen Menschen und sie begannen zu emigrieren. Ohne diese großen Emigrationswellen aus Weißrussland, Polen und der Ukraine hätten wir weder Woody Allen noch all die anderen …

Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, ist für mich nicht nur falsch, sondern kriminell.

RECHERCHE Das ist jetzt aber eine eigenartige Logik – Dubnow, der letztendlich im Ghetto von Riga von lettischen Nazis ermordet wurde, hat einiges zur „Aufwertung“ der Ostjuden beigetragen.

SAND Dubnow wurde akzeptiert, weil er seine Geschichte auch in Deutsch und in einer anderen Atmosphäre publizierte. Diese Emigration aus Osteuropa ging an Deutschland und Frankreich vorbei – sie wurden in den Westen gedrängt, bis nach New York. Die Deutschen wollten diese „verfluchten Juden“ aus dem Osten, wie sie sie nannten, nicht akzeptieren – Rothschild wollte sie nicht, und auch Baron Hirsch wollte sie nicht da haben. Diese Emigrationswelle war eine Angelegenheit, in der sich der Antisemitismus in Deutschland und Frankreich herauskristallisierte. Die Juden wurden damals als „schmutzig“ bezeichnet – wie Europa heute mit den Emigranten umgeht, so ging man damals mit den Juden um. Ich habe mich als Frankreich-Historiker mit Zeugnissen aus den 1830er-Jahren beschäftigt: französische Intellektuelle beschrieben die Juden im Pariser Marais als „die schmutzigen Juden mit ihren östlichen Traditionen“.

Noch eine Bemerkung zu Dubnow und Graetz: Beide beginnen ihre Geschichte mit der Bibel – als Graetz seine Geschichte 1853 zu schreiben begann, zweifelte er noch daran, ob er die Bibel als einen Teil in seine jüdische Geschichte aufnehmen sollte. Und tatsächlich schreibt er die beiden Bücher über den biblischen Anfang als Abschluss seiner Arbeit. Es ist eigentlich unglaublich: Das erste große Geschichtsbuch über das jüdische Volk stammt von einem Deutschen mit jüdischem Ursprung und er beginnt es nicht mit der Bibel! Erst heute ist es so evident und tief in unserem Bewusstsein verankert, dass die Geschichte der Juden mit der Bibel beginnt.

RECHERCHE Und das war auch der Anstoß für Ihr eigenes Buch. Sie nennen einen etwas obskuren Aufsatz oder Vortrag über die Diaspora als Initialzündung.

SAND Mein Rendezvous mit der ganzen Geschichte begann vor ungefähr zwölf Jahren, als ich in der Vorlesung eines Bibelarchäologen saß und der plötzlich sagte: „Der Exodus der Juden aus Ägypten fand in der Geschichte gar nicht statt.“ Ich, der frühere Linke und frühere Antizionist war schockiert, dass der Exodus des Moses nie stattgefunden haben soll! Ich erinnere mich noch genau an diese Episode. Ich fragte: „Was soll das heißen?“ Der Archäologe antwortete: „Der Exodus fand nicht statt, das ist eine mythologische Erzählung, keine historische Tatsache.“ Er fuhr weiter fort und meinte, auch das vereinigte Königreich von David und Salomon habe nicht existiert, auch wenn es ein kleines Königreich gab, ein vereinigtes Großreich hatte hingegen nicht existiert. Nach dieser Vorlesung dachte ich lange darüber nach, was daran eigentlich so schockierend war – ich bin ein Historiker, der seit Jahren über europäische, über französische Geschichte arbeitet; plötzlich bemerkte ich aber, dass ich genau dasselbe normale Bewusstsein wie die Menschen meiner Umgebung hatte und eine Identität voraussetzte, die gar nicht stimmte. Ich habe diesen Vortragenden, der ein Zionist war, gefragt: „Warum weiß niemand, dass es die Geschichte des Exodus aus Ägypten gar nicht gibt?“ Er antwortete: „Ich weiß nicht, ich habe einmal vor sieben Jahren einen Artikel darüber in Haaretz veröffentlicht.“ Ich bin sicher, dass dieser Archäologe, der bei mir einen derartigen Schock auslöste, mein Buch nicht mögen wird – ich selbst wollte aber mit dieser Entdeckung noch weiter gehen.

RECHERCHE Hat sie diese unkritische Haltung der metaphysischen Dimension der Geschichte gegenüber nicht selbst überrascht?

SAND Ich war kritisch gegen den Zionismus, sämtliche Konventionen über unsere Geschichte teilten wir trotzdem. Obwohl ich links war, war ich überzeugt, dass das Exil stattgefunden hatte und das jüdische Volk vor 2000 Jahren aus Palästina vertrieben worden war. Wir waren total davon überzeugt! Als Linke dachten wir zwar nicht gerade, dass man nach 2000 Jahren Abwesenheit irgendwelche Rechte auf das Land Palästina hätte, und wir glaubten auch nicht, dass man eine Welt wie vor 2000 Jahren bauen könnte – aber das Exil der Juden im Jahre 70 nach Christus oder die Zerstörung des Tempels waren unumstößlich. Ich wollte zuerst ein Buch über die Bibel und die Geschichte schreiben – die Archäologen sind üblicherweise keine guten Historiker, ich wollte aber ihre Entdeckungen verwenden, um etwas Kritisches über die Verwendung der Bibel in der Schule in Israel zu schreiben. Also begann ich Graetz zu lesen, um zu sehen, wie bei ihm die Geschichte mit der Bibel beginnt. Ehrlich gesagt, wusste ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht, wie ein Buch, das ich zu schreiben begann, enden würde. Die Universität und das akademische Leben lehren dich, erst dann zu schreiben, wenn du weißt, wohin du kommst, wenn du mit dem Denken an einen Endpunkt gelangt bist, wenn du alles durchdacht hast. Erstmals habe ich parallel zum Schreiben weitergedacht und mich entschlossen, ein weiteres Kapitel zu schreiben. Damit stand auch das Exil in Frage. Nach dem Exodus sollte auch das Exil nicht stattgefunden haben – das war der zweite Schock. Im jüdischen und im israelischen Bewusstsein war der Umstand des Exils bis vor wenigen Jahren noch wichtiger als die Schoah. Warum? Weil es die Grundlage für das Bild von den Juden in der Welt ist – die Juden wurden aus Palästina exiliert. Ich fand einen kleinen Artikel, der die Frage behandelte, ob es das Exil überhaupt gegeben hatte. Es war kein besonders guter Text, aber er war interessant – das Verständnis des Exils, war da zu erfahren, sei durch den christlichen Mythos der Vertreibung aus dem Paradies entscheidend geprägt worden. Der Verfasser meinte, es habe sich nicht um Exil gehandelt, sondern um eine Emigration aus Palästina. Als ich mich zu fragen begann, was ist das Exil überhaupt, erlebte ich einen weiteren Schock: Jeder weiß, dass die Juden aus Palästina exiliert wurden – das steht sogar in der israelischen Verfassung. Wir waren aus Palästina gewaltsam verdrängt worden. Ich ging also in die Bibliothek und bemerkte zu meiner Verwunderung, es gibt keine einzige Untersuchung über das Exil. Dabei war ich überzeugt, ich würde 2000 Bücher darüber finden! Über die Römer, über Titus – schließlich haben wir große Bibliotheken. Schließlich fand ich ein einziges Buch mit dem Titel Das Exil und das römische Reich. Es wurde vor fünf, sechs Jahren geschrieben, und darin ging es um die Praxis des Exilierens. Die Römer hatten keine diesbezügliche Praxis, auch wenn sie eine Menge von Leuten aus Rom hinauswarfen. In einem einzigen Kapitel wurde beschrieben, wie die Juden zurück nach Judäa vertrieben wurden, weil sie Prosyletismus betrieben hatten. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte – verstand aber plötzlich, dass die Geschichte keine Pfeife ist … Sie kennen das Bild von Magritte und Focaults Kommentar dazu? Ich möchte demnächst ein Buch mit dem Titel „Ceci n`est pas une pipe“ schreiben.

RECHERCHE Was, glauben Sie, hätte Arthur Koestler zu Ihrem Buch gesagt? Sein Buch Der dreizehnte Stamm und die Theorie einer Abstammung der Ostjuden von den Chasaren, die Sie ja revitalisieren, wurde seinerzeit harsch kritisiert.

SAND Als Koestler sein Buch in den 1970er-Jahren schrieb, war er kein Antizionist – eigentlich war er nie ein Antizionist. Er blieb ein Zionist – vielleicht war er sogar der erste Postzionist, bevor das Wort überhaupt existierte. Er akzeptierte den Umstand der Gründung des Staates und verteidigte Israel bis an sein Lebensende, hatte aber in einem bestimmten Moment aufgehört, an den zionistischen Mythos zu glauben.

Die heutige Tragödie besteht darin, dass der Zionismus die Existenz eines israelischen Volkes bestreitet – ich hingegen bestreite die Existenz eines jüdischen Volkes.

RECHERCHE In der Einleitung zitieren sie eine Bemerkung des Philosophen Ernest Gellner: „Ich hätte wohl kaum ein derartiges Buch über den Nationalismus schreiben können, wenn ich nicht in der Lage wäre, mit Hilfe von ein wenig Alkohol über Volkslieder zu weinen …“ Über welches Lied würden Sie denn weinen? Welches würden Sie singen?

SAND Das Buch hat zwei Quellen – ich nannte den Archäologen, der mich schockierte. Die andere Quelle bilden Ernest Gellner und Benedict Anderson, ohne deren Forschungen es mein Buch nicht gäbe. Die beiden sind keine Historiker – vergessen Sie nicht, die Historiker haben den Nationalismus konstruiert. Gellner war Philosoph und Anderson Anthropologe – nur solche Personen vermochten die Fragen nach der Nation und dem Nationalismus zu stellen. Was das Lied und Gellners Bemerkung betrifft: Ich habe Gellner einmal in Paris getroffen, als ich gerade anfing, mich für den Nationalismus zu interessieren; Gellner hat mich stark beeinflusst und er mochte mich – im Unterschied zu Hobsbawm. Der Umstand, dass jemand die Idee einer Nation dekonstruiert, bedeutet nicht, dass er keine tiefen Gefühle für sie hat – im Falle Gellners war es die tschechische Nation. Nebenbei ist es vermutlich kein Zufall, dass derart viele Spezialisten für den Nationalismus aus dieser Gegend, aus Tschechien, kommen – Karl W. Deutsch gehört dazu, Hans Kohn, und eben Ernest Gellner. Man hält mich heute für einen Volksfeind und sagt, ich sei antiisraelisch. Wissen Sie, es gibt Lieder auf Hebräisch, die so tief in mir sind, dass ich nicht einmal sagen kann, wie sehr sie in mir verankert sind. Ich bin ein schlechter Sänger und überdies schüchtern, aber ich erinnere mich natürlich an jene Lieder, die ich im Alter von achtzehn, neunzehn gesungen habe. Heute ist das etwas ganz anderes – meine Tochter singt amerikanische Songs. Die Lieder, die ich vor vierzig, fünfundvierzig Jahren gesungen habe, waren hebräische Lieder, und sie sind ein Teil von mir. Ich wurde zu Shlomo Sand wegen dieser Lieder, ich bin kein Teil dieser Lieder, sondern diese Lieder sind ich. Ich bin aufgrund dieser Lieder Israeli. Ich könnte ganz Israel dekonstruieren, trotzdem würde ich diese Lieder nicht verleugnen – ein Teil dieser Kultur ist auch meine Kultur. Deshalb kann ich auch all diese tiefen Widersprüche bearbeiten – das ist es, was Gellner mit dem Weinen ausdrücken wollte. Die Fragen des Nationalismus in eine historische Dimension zu rücken, bedeutet nicht, dass ich das Kollektiv nicht spüre und nicht spüre wie Kollektive konstruiert sind. Ich bin gegen keinerlei Identität, wenn sie nur dem Anderen keinen Schaden zufügt.

RECHERCHE Damit hat die Linke in Europa einige Schwierigkeiten – wie sie nebenbei auch mit Ihrem Buch einige Schwierigkeiten hat.

SAND Sie fragen mich nach der Linken – ich bin froh, dass selbst die dümmsten Linken die Existenz Israels heute akzeptieren. Aber ich bin beunruhigt, dass sie die Existenz Israels als die eines jüdischen Staates akzeptieren. Auch Merkel, Sarkozy und Obama sprechen von einem „jüdischen Staat“. Ich verstehe nicht, wie demokratische Menschen Israel als jüdischen Staat definieren können. Nach 1948, unmittelbar nach dem Holocaust, war das logisch, damals war das in Ordnung; aber heute, im Jahr 2010, ganz besonders da die Israelische Regierung darauf insistiert, dass die Palästinenser Israel als jüdischen Staat anerkennen, heute tut mir das wirklich leid.

Ich möchte eine Sache betonen: Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, ist für mich nicht nur falsch, sondern kriminell. Ich habe an der Universität in Tel Aviv arabische Studenten, die mir sehr nahe stehen; wenn ich Israel als jüdischen Staat definiere, dann ist das nicht mehr deren Staat. Sie machen zwanzig Prozent der Bevölkerung aus und sind israelische Staatsbürger. In ihrem Personalausweis steht, dass sie Araber sind. Kann man sich vorstellen, dass man in Deutschland in eine ID-Karte „Jude“ schreibt? Können Sie sich vorstellen, dass ein Politiker im heutigen Deutschland oder Österreich sagt, er sei „katholisch“ oder gar „arisch-katholisch“? Denn Judentum ist ja nicht nur Religion, sondern auch eine ethnische Definition. Niemand hat meine Frage, warum es ein jüdisches Volk geben soll, beantwortet. Raymond Aron sagte einmal, wenn es ein französisches Volk und ein spanisches Volk gibt, dann kann man den Ausdruck nicht für Juden verwenden. Die heutige Tragödie besteht darin, dass der Zionismus die Existenz eines israelischen Volkes bestreitet – ich hingegen bestreite die Existenz eines jüdischen Volkes. Dass ich damit irgendwelche Linken in Europa schockieren könnte – darauf gebe ich keinen Deut!

Erich Klein, geboren 1961, lebt als Publizist und Übersetzer in Wien. Zuletzt erschien Graue Donau, Schwarzes Meer (zusammen mit Christian Reder).

Shlomo Sand wurde 1946 in Linz als Sohn polnischer Juden geboren, 1948 übersiedelte seine Familie nach Israel. Er studierte Geschichte in Tel Aviv und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Gegenwärtig lehrt Sand Geschichte an der Universität Tel Aviv. In seinen frühen Schriften beschäftigte er sich intensiv mit dem Werk des französischen Sozialphilosophen Georges Sorel. Zu seinen aktuellen Hauptarbeitsgebieten zählt das Verhältnis von Film und Geschichte, die Geschichte der französischen Intellektuellen und die Entstehung des Nationalismus.

Quelle: Recherche 2/2010

Online seit: 15. Oktober 2019

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Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes – Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Aus dem Hebräischen von Alice Meroz. Propyläen, Berlin 2010. 506 Seiten, € 24,95 (D) / 25,70 (A).