Top Charts

Die Geisteswissenschaften entdecken Modelle und Methoden der empirisch ausgerichteten Sozialwissenschaft (neu) für sich, die Monografie Uncharted unterstreicht insbesondere den Wert von computergestützten Auswertungen im Kontext von „Big Data“. – Eine Notiz zu einem bemerkenswerten, systematisch orientierten Methodentrend. Von Thomas Ballhausen

Online seit: 10. April 2020

Clive Thompson traf 2010 mit seinem kurzen, überaus prägnanten Artikel „Why We Should Learn the Language of Data“ in der Zeitschrift Wired den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf: Um Daten umfassend verstehen, sie kompetent interpretieren zu können, machte er sich für eine methodische Analyse und Denkweise stark, die Statistik zu ihrem grammatikalischen Kern erklärt.

Infometrische Ansätze und Methoden sind in den Bibliotheks- und Informationswissenschaften schon länger gut etabliert, man vergegenwärtige sich nur die – mehr oder minder glücklich geführten – Diskussionen über Bereiche wie Bibliometrie, Rezeption von Sekundärliteratur und Impact Faktoren. Die Verankerung von sinnvoll aufgefächerten Informationswissenschaften im Sinne von „Information Science“, wie man sie etwa an der Elite-Universität Cornell finden kann, mag noch einigen zeitlichen Vorlauf brauchen.

Die Notwendigkeit als auch Richtigkeit der stärkeren Einbeziehung methodischer Angebote der empirischen Sozialwissenschaften in den Bereich der Geisteswissenschaften – die richtigerweise eine sinnvolle Kontextualisierung nicht nur nicht ausschließt, sondern dringend benötigt – manifestiert sich aber bereits verstärkt in einer Aufwertung der entsprechenden Analysekonzepte: In dem auch quellenkundlich abgesicherten Dreischritt aus Recherche, Analyse und Ergebniserarbeitung bzw. -vermittlung haben sich beispielsweise in der Literaturwissenschaft Verschiebungen zugunsten sozialwissenschaftlich angesetzter Analysezugriffe ergeben, die zwangsläufig alle Teilfelder des erwähnten Dreischritts durchdringen – und verändern.

Die Verankerung von sinnvoll aufgefächerten Informationswissenschaften wird noch einige Zeit brauchen.

Ausgehend von im besten Sinne klassisch empirischen Analysen, die meist über das Moment des Auszählens zum Benennen von sozialgeschichtlich eingebetteten Frequenzen (z. B. historische Buchbestände und die Rekonstruktion von Entlehnungen) kommen, wird ein Sample von Beispielen betrachtet, das als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, als Beleg für Produktions- und Distributionsbedingungen interpretiert wird. Ergänzt werden diese bewährten Zugriffe um Aspekte aus der Netzwerkanalyse oder kartografisch orientierte Darstellungsmodelle, die in ihren Untersuchungen ebenfalls weit über den Bereich der Massenkommunikation hinausgehen. Lassen sich hier Einzeluntersuchungen schon für die 1970er-Jahre nachweisen, macht sich in der aktuellen Forschungsliteratur ein bemerkenswerter Trend zur Einrechnung von kleineren Beispielsegmenten, historischen Tiefendimensionen und disziplinübergreifend wirksamen historiografischen Verschiebungen bemerkbar.

Als Beispielgruppen dienen hier oftmals digitalisierte Bestände, die nun computergestützt leichter verfügbar gemacht werden können. Im Idealfall werden syntaktische und semantische Ebene des Ausgangsmaterials gleichermaßen adressiert; formale Aspekte, die Fragen von Wertrepräsentation und beabsichtigter Informationsvermittlung und schließlich die Rezeption des Vermittelten erlauben dabei nicht nur die Benennung von Textmerkmalen – sondern vielmehr auch weiterführende Schlussfolgerungen.

Wirft man einen Blick in die aktuellen Veröffentlichungen – seien es die sogenannten „Pamphlete“ des Stanford Literary Lab, die Aufsätze ihres prominenten Vertreters Moretti oder die nun vorliegende Monografie Uncharted von Aiden und Michel – so wird nicht zuletzt in der Ergebnisdarstellung ein Brückenschlag zu kulturwissenschaftlichen Materialzugriffen, insbesondere zu ideologiekritischen Analysemodellen, evident. Die Frage der Repräsentation der jeweils untersuchten Quellen als die Notwendigkeit eines Überdenkens vermittelnder Strategien ist aber gewiss nicht nur eine innerdisziplinäre Herausforderung, sondern vielmehr eine Angelegenheit aller kulturfeldrelevanten Akteure.

Umso notwendiger wird es sein, dem Bereich der infometrischen Untersuchungen Aufmerksamkeit zu schenken, sich die statistische Grammatik der wissenschaftlichen Gegenwart anzueignen und auch zu erkennen, dass diese ersten wichtigen Schritte, also mit bewährten Methoden zu neuen Fragen hinzuführen, bald nicht mehr nur auf Text beschränkt sein werden.

Literaturhinweise (Auswahl):

David Easley/Jon Kleinberg: Networks, Crowds and Markets. Reasoning about a Highly Connected World. Cambridge: Cambridge University Press 2010.

Erez Aiden/Jean-Baptiste Michel: Uncharted. Big Dara as a Lens on Human Culture. New York: Riverhead Books 2013.

Jean-Baptiste Michel et.al.: „Quantitative Analysis of Culture Using Millions of Digitized Books“. In: Science 176 (Vol. 331) 2011, 176–182.

Franco Moretti: „‚Operationalizing’. Or, the Function of Measurement in Literary Theory“. In: New Left Review 84 (Second Series) 2013, 103–119.

Stanford Literary Lab; alle gemeinsam verfassten Publikationen sind frei zugänglich unter im Bereich „Pamphlets“ unter http://litlab.stanford.edu

Irene Wormell: „Infometrics: an emerging subdiscipline in information science“. In: Asian Libraries No. 10 (Vol. 7) 1998, 257–268.

Thomas Ballhausen, Jahrgang 1975, lebt als Schriftsteller, Film- und Literaturwissenschaftler in Wien.

Quelle: Recherche 1/2014

Online seit: 10. April 2020