„Open Access“ – ein Irrweg

Der Reparaturversuch am aktuellen wissenschaftlichen Publikationswesen erweist sich am Ende als teurer als das bisherige Modell. Von Uwe Jochum

Online seit: 30. September 2019

Alles begann in den 1990er-Jahren mit der Zeitschriftenkrise. Sie bestand und besteht darin, dass in den Naturwissenschaften, der Technik und der Medizin die Preise für die Abonnements der wissenschaftlichen Zeitschriften derart steigen, dass sie die Bibliotheksetats strangulieren und für den Kauf von Monografien immer weniger Mittel übriglassen. Um die Etats der Bibliotheken zu entlasten, trennten sich die Bibliotheken daher von den teuren Zeitschriften. Aber das führte nur dazu, dass die Verlage die Preise für die verbliebenen Abonnements erhöhten, sodass für die Bibliotheken der Prozentsatz des Etats, der für Zeitschriften verbraucht wurde, weiter stieg. Darauf antworteten die Bibliotheken mit der Kündigung weiterer Zeitschriftenabonnements, und die Verlage verteuerten die Preise für die verbliebenen Abonnements. Auf diese Weise kam über mehrere Runden eine Sparspirale in Gang, bei der mit immer mehr Geld immer weniger Zeitschriften gekauft werden konnten und für den Kauf sozial- und geisteswissenschaftlicher Monografien immer weniger Geld übrig blieb. Kurz: Der Preisdruck, der von den naturwissenschaftlich-technischen und medizinischen Zeitschriften ausging, schädigte strukturell die gesamten Bibliotheksetats.

Zwei Fliegen, eine Klappe

Schließlich kam man auf die Idee, durch einen Medien- und Organisationswechsel die Sparspirale zu stoppen: Würde man die von kommerziellen Verlagen vertriebenen gedruckten Zeitschriften durch steuerfinanzierte und von der Wissenschaft in eigener Regie geführte elektronische Zeitschriften ersetzen, hätte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen; man hätte, so dachte man, eine Kostenreduktion erreicht, und man hätte die Wissenschaft in die elektronische Umgebung des Internet eingefügt und damit die Wissensdistribution sowohl beschleunigt als auch – bei vorausgesetztem allgemeinem Zugang zum Internet – demokratisiert. Und genau das ist es, was unter dem Stichwort „Open Access“ überall betrieben wird. Um es in den Worten der deutschen „Open-Access“-Plattform zu sagen: „Ziel der Open-Access-Bewegung ist es, wissenschaftliche Literatur und wissenschaftliche Materialien für alle Nutzerinnen und Nutzer kostenlos im Internet zugänglich zu machen.“

Doch was auf den ersten Blick die geniale Lösung eines desaströsen Finanzproblems zu sein scheint, zeigt sich bei genauerem Hinschauen als elektronische Fortführung des Finanzdesasters. Denn natürlich fallen auch bei „Open Access“ Kosten an (für den Betrieb der Volltextserver, für die Datennetze, für das Personal, das die Technik betreut und die Daten pflegt), die freilich nicht durch den Verkauf von Zeitschriftenbänden gedeckt werden, sondern durch eine Publikationsgebühr, die jeder Autor dafür zu zahlen hat, dass sein Beitrag für alle Interessierten und alle Zeit der Welt entgeltfrei im Internet verfügbar sein soll. Nun müssen diese Publikationsgebühren natürlich so bemessen sein, dass sie in der Summe die jetzigen und die zukünftigen Betriebskosten der jeweiligen „Open-Access“-Zeitschrift decken. Da man nicht in die Zukunft schauen und die zukünftigen Betriebskosten auf die Gegenwart umlegen kann, nimmt es nicht wunder, dass die Schätzungen, wie hoch eine kostendeckende „Open-Access“-Gebühr derzeit sein müsse, erheblich divergieren: Die Spanne bewegt sich in der Regel zwischen 250 und 2.000 Dollar. In der Realität liegen die Gebühren der nichtkommerziellen naturwissenschaftlich-medizinischen „Open-Access“-Plattform Public Library of Science (PLoS) freilich längst darüber (PLoS verlangt mit einer Ausnahme zwischen 2.200 und 2.850 Dollar an Gebühren pro Artikel), und man wird es daher nicht mehr ganz abwegig finden, dass der Vertreter der Zeitschrift Nature vor einem Ausschuss des britischen Unterhauses im Jahre 2004 zu Protokoll gab, Nature müsste pro Artikel eine Gebühr zwischen 10.000 und 30.000 Pfund erheben, wenn man auf „Open Access“ umstellen würde.

Kurz: Was für den Nutzer entgeltfrei ist, ist für den Autor teuer. Und da die wissenschaftlichen Autoren an Universitäten arbeiten, läuft die Sache darauf hinaus, dass deren Bibliotheken die Publikationsgebühren der Wissenschaftler übernehmen, so wie sie jetzt die Abonnements der gedruckten Zeitschriften bezahlen. Die einzig relevante Frage ist dann die, ob für die Bibliotheken „Open Access“ trotz der horrenden Publikationsgebühren insgesamt billiger kommt als eine Fortführung von Abonnements gedruckter Fachzeitschriften.

Die Antwort auf diese Frage findet man leicht, indem man die Anzahl der von den Wissenschaftlern einer Hochschule publizierten Beiträge mit den bei PLoS üblichen Gebühren multipliziert und das Resultat mit dem vergleicht, was die Hochschule für die Abonnements aller Zeitschriften, in denen diese Artikel veröffentlicht wurden, bezahlt hat. Das Ergebnis lautet kurz und knapp: „Open Access“ ist insgesamt nicht billiger, sondern teurer als das konventionelle Publizieren. Und das gilt für jede weitere Ebene der Betrachtung: Nicht nur auf institutioneller, sondern auch auf regionaler oder nationaler Ebene bestraft das Bezahlmodell von „Open Access“ die Produktiven mit hohen Kosten und belohnt die Unproduktiven damit, dass sie kostenlos lesen dürfen, was andere gedacht haben. Wobei es auf jeder der genannten Ebenen linear desto teurer wird, je mehr Autoren nach diesem Modell veröffentlichen wollen.

Die „Open-Access“-Bewegung ficht das nun aber ganz und gar nicht an. Sie lebt weiter von der Suggestion, dass das Elektronische eo ipso billiger als das Physische sei und geht inzwischen offen dazu über, diese Suggestion in ein rechtsförmiges Kleid zu stecken. Zu diesem Zweck attackiert sie das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und die darauf fußenden Urheberrechte, die jedem Urheber, auch dem Wissenschaftler, garantieren, dass er selbst darüber bestimmen kann, ob und wie und wann und wo er veröffentlicht. Das sei, so hört man jetzt, eine unsoziale Privatisierung von Wissenschaft, die sich die wissenschaftsfinanzierende Gesellschaft nicht leisten könne und solle. Denn Wissenschaft habe allgemein zu sein, allgemein aber sei heutzutage nur, was elektronisch im Internet zur Verfügung stehe, und folglich müsse man durch eine Änderung der Gesetze und notfalls auch des Grundgesetzes zwangsweise dafür sorgen, dass die Wissenschaftler ihre Forschungen frei zugänglich im Internet veröffentlichten – per „Open Access“ natürlich.

Diese Denkweise ist inzwischen ein solides Substrat der deutschen Forschungsverwaltung und wird daher auf dem stillen Verwaltungsweg durchgesetzt, noch bevor durch Gesetzesänderungen legitimiert ist, was man für richtig hält. So forderte die „Allianz der Wissenschaftsorganisationen“ im Frühjahr ganz öffentlich eine für die Leser entgeltfreie „Open-Access“-Publikation von Forschungsergebnissen, „die durch den Einsatz öffentlicher Mittel und damit zum Nutzen der Forschung und Gesellschaft insgesamt erarbeitet wurden“. Damit das im Alltag der Wissenschaft dann auch wirklich geschieht, „erwartet“ die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) seit einiger Zeit von den von ihr geförderten Wissenschaftlern, „dass die mit ihren [der DFG] Mitteln finanzierten Forschungsergebnisse publiziert und dabei möglichst auch digital veröffentlicht und für den entgeltfreien Zugriff im Internet (Open Access) verfügbar gemacht werden.“ Ein Schelm, wer bei der DFG eine Förderung beantragt und vergisst, dieser Erwartung in seinem Antrag zu entsprechen. Kein Schelm, wer sieht, wohin das alles hinauswill: auf Zürcher Zustände nämlich, wo die Anstellungsverträge der Wissenschaftler längst diesen Passus enthalten: „Sämtliche im Rahmen des Arbeitsverhältnisses erstellten Werke, Erfindungen und Computerprogramme sind Eigentum der Arbeitgeberin [Universität Zürich]. Nutzungs- und Verwertungsrecht an diesen Werken und Erfindungen werden der Arbeitgeberin umfassend abgetreten.“

Stellen wir also fest: Was als Versuch begann, einen Ausweg aus der Zeitschriftenkrise zu finden, ist unter der Hand zu einem Projekt der Totaltransformation von Wissenschaft geworden, an dessen Ende eine vollständig digitalisierte Forschungsinfrastruktur stehen soll, in der alle Publikationen als „Open-Access“-Publikationen erscheinen und verwaltet werden.

Digitalisierung verfälscht

Dass man dabei überzogen hat, ergibt sich nicht nur daraus, dass der „Open-Access“-Reparaturversuch am Ende teurer als das alte Publikationsmodell ist und obendrein quer zu unseren Grundrechten steht, sondern auch daraus, dass man bei dieser Totaltransformation von Wissenschaft medientheoretische, -historische und -technische Einsichten glatt über Bord wirft. Dazu gehört zum einen, dass ein Medium und sein Inhalt sich nicht gleichgültig zueinander verhalten. Woraus folgt, dass die digitale Transformation von historischen Dokumenten und Texten aller Art diese Dokumente und Texte nicht einfach als Digitalisate verfügbar macht, sondern in der digitalen Transformation zugleich verfälscht. Dazu gehört zum andern, dass alles, was der Digitalisierung unterworfen wird, in eine hochgradig instabile technische Umgebung eingefügt wird, in der auf Dauer weder die physische Unversehrtheit der Daten noch die Lesbarkeit der Datenformate garantiert werden kann. Beide Momente zusammen machen klar, woran, solange es seriöse Wissenschaft gibt, „Open Access“ zuletzt scheitern muss: am physischen Original, das sich der digitalen Vereinnahmung durch „Open Access“ entzieht.

Uwe Jochum ist seit 1989 wissenschaftlicher Bibliothekar und Lehrbeauftragter an der Universitätsbibliothek Konstanz. Er publiziert zu Themen der Bibliotheksgeschichte und Medientheorie, die im Rahmen einer Medientheologie entfaltet werden. Zuletzt erschien Die Sendung des Apostels Paulus. Politik der Umkehr (Schöningh, 2008), im November 2009 erscheint bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft seine Geschichte der abendländischen Bibliotheken.

Quelle: Recherche 3/2009

Online seit: 30. September 2019