Jüngelismus und Vertrottelung

Über die verzerrte Wahrnehmung Anton Kuhs. Von Walter Schübler

Online seit: 10. Dezember 2019

Studienjahr 1962/63 an der University of Kansas, Lawrence, Kansas, USA. Bei einem Treffen von vier Fulbright-Stipendiaten aus Österreich – einer davon der nachmalige Innsbrucker Germanistik-Ordinarius Sigurd Paul Scheichl – und eines österreichischen Germanistik-Gastdozenten im Frühjahr 1963 spielt eine Kommilitonin eine im Jahr davor aufgenommene Qualtinger-Platte, die sie von einem Ferienaufenthalt in der Heimat mitgebracht hat: Österreichisches Lesebuch. Helmut Qualtinger liest Anton Kuh. Man ist sich schnell einig: Einer jener „practical jokes“ des genialen Bauchredners, der schon 1951 die Wiener Presse mit der Erfindung des Inuit-Dichters Kobuk genarrt hatte, dessen Werkliste er mit Romanen wie Brennende Arktis und Theaterstücken wie Verlassener Kajak, Einsames Iglu und Die Republik der Pinguine ausgestattet hatte; sowohl der Autor, Anton Kuh, wie auch die dreizehn Stücke auf der Langspielplatte boshafte Auswüchse der blühenden Fantasie Qualtingers; Hans Weigels kurzer biografischer Begleittext bloß eine pointierte Beglaubigung der Finte.

Anton Kuh: „Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe.“

Als Scheichl in der Universitätsbibliothek die bei Band zehn (Kimchit–Lyra) steckengebliebene Encyclopaedia judaica (Berlin 1934) zur Hand nimmt, ist er, wie man so schön sagt, bass erstaunt. Der kurze Eintrag schafft Klarheit: „Kuh, Anton (Pseudonym: Anton), Journalist, Essayist und Kritiker, geb. am 12. Juli 1891 [sic] in Österreich, lebt in Berlin. In seinem Buche ,Juden und Deutsche‘ (1921) sieht K. das beiden Völkern gemeinsame in der ,Unnaivität, in der erotischen Befangenheit und Zwiespältigkeit und dem daraus entstehenden Selbsthaß‘; die bewußte Offensive gegen dieses gemeinsam Jüdisch-Deutsche sei Pflicht und Mittel der Selbsterlösung und Selbstüberwindung des Juden. Er veröffentlichte ferner: 1. Börne der Zeitgenosse (1921); 2. Von Goethe abwärts (Essays in Aussprüchen, 1922); 3. Der Affe Zarathustras (eine polemische Rede gegen Karl Kraus, 1925); 4. Der unsterbliche Österreicher (1930); 5. Physiognomik (Aussprüche, 1931).“

Zwanzig Jahre nach seinem Tod war einer der bekanntesten Literaten der Zwischenkriegszeit vergessen. – Vereinzelt, immerhin, war schon vor der „Wiederentdeckung“ Kuhs in den 1980er-Jahren auf ihn hingewiesen worden. Verstreut in Anthologien waren Texte von ihm zu finden, bevor sie 1963 gebündelt – „als kleiner Beitrag der Skepsis gegenüber gewissen literarischen Moden, als Narrengelächter über die unsterblichen Krausianer“ – erschienen. Dieser ersten posthumen Teilsammlung, Von Goethe abwärts. Aphorismen, Essays, Kleine Prosa, die, programmatisch, auch die Druckfassung der Stegreif-Polemik gegen Karl Kraus und die Krausianer „Der Affe Zarathustras (Karl Kraus)“ enthielt, blieb eine nachhaltige Resonanz versagt.

Die Renaissance läutete erst die in Lizenz vom Ostberliner Verlag „Volk und Welt“ im Wiener Löcker Verlag 1981 erschienene Teilsammlung Luftlinien ein. Dutzende ausführliche Besprechungen und Porträts dokumentieren die flächendeckende Rezeption des Bandes im deutschsprachigen Raum. Ruth Greuner, der Herausgeberin, war Kuh als regelmäßiger Beiträger zur [Neuen] Weltbühne aufgefallen – dem publizistischen Sammelbecken der parteiunabhängigen Linken der Weimarer Republik. Erstaunt bis ungläubig, aber durchwegs enthusiasmiert über die knapp 500 Seiten geballten Kuhs, konnte man den „Kaffeehausliteraten“, der nur in Anekdoten überlebt hatte, nun als hochpolitischen Kopf entdecken, der bereits früh, schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg, vor der Bedrohung des neuen, noch instabilen republikanischen Systems durch reaktionäre Tendenzen in Justiz und Verwaltung gewarnt hatte, vor Militarismus und völkisch-nationalistischen Umtrieben, und der mit dem Heraufdämmern und Erstarken des Nationalsozialismus immer deutlicher geworden war.

Im österreichischen Feuilleton hielt sich die Begeisterung mit schmallippig vollzogener Berichtspflicht die Waage. Kaum verhohlen widerstrebend schrieb Edwin Hartl, der sich gleich eingangs seiner Besprechung (Die Presse, 19./20. September 1981) als Krausianer deklariert, Kuh aus dieser Perspektive derart verbohrt herunter, dass sein Redaktionskollege Franz Endler drei Wochen darauf eine (nicht als solche ausgewiesene) Gegenbesprechung (Die Presse, 7. Oktober 1981) ins Blatt rückte, in der er gerade die Stegreifrede „Der Affe Zarathustras“ zu den „anregendsten Dokumenten“ rechnete, „die ein an Literatur interessierter junger Mensch zu lesen hat, ehe er sich in Debatten irgendwelcher Art einläßt“. Hartl hatte die „berüchtigte Stegreifrede“ noch als „kein Geistesblitz, es donnert nur wortgewaltig mit leichtfertiger Schlagfertigkeit, aber nicht geistesgegenwärtig“ (ab-)qualifiziert.

Kraus’ irdische Statthalter haben Kuh nie verziehen, dass er Jahrzehnte hindurch und mit lustvoller Akribie den „Unterhaltungssport“ der „Kraus-Frotzelung“ (Kuh) ausgeübt hatte. Ungläubig und dezidiert abschätzig vermerkte denn auch eine anonyme Notiz in der Arbeiter-Zeitung (7. November 1981) – in der Zwischenkriegszeit unter Chefredakteur Friedrich Austerlitz publizistische Verbündete der Fackel –, dass der „absurderweise aus der DDR“ übernommene Sammelband Kuh weniger „als den Clown, sondern als Kämpfer, zumindest im Nachwort weniger als flanierenden Feuilletonisten denn als Bekenner“ zeige. Realitätsverweigerung der infamen Spielart demonstrierte die Besprechung der 1983 erschienenen Teilsammlung Zeitgeist im Literatur-Café, die von Ulrike Lehner unter ähnlichen Gesichtspunkten wie der Vorgängerband zusammengestellt worden war und die Konturen des hellsichtigen und streitbaren Intellektuellen schärfte, in der Arbeiter-Zeitung (18. Feber 1984): Nicht ernst zu nehmen, allenfalls der „Bohemien, der Charmeur, der Humorist“ sei der Beachtung wert: „Druckt von Kuh, was ihr finden könnt, aber laßt ihn sein, was er war, ein Wiener Caféhausliterat.“

Als wolle man sich eine liebgewonnene Figur aus dem Inventar der donaustädtischen Folklore partout nicht madig machen lassen, wird Kuh heute wieder in „Kaffeehausliteratur“-Veranstaltungen als leichte Kost unter dem Signum touristischen Wien-Marketings (verraten und) verkauft. Dagegen vermochte auch die von Traugott Krischke zusammengestellte sowie szenisch bearbeitete und im Rahmen der Wiener Festwochen 1991 uraufgeführte Hommage an den „homme de lettres“ nichts, mit der Stephan Paryla bis weit in die 1990er-Jahre durch die Lande tourte und die dezidiert kein rührseliger Blick auf die große Zeit der „Kaffeehausliteratur“, sondern pointierte Wiedergabe der messerscharfen Schilderungen der Zu- und Umstände war.

Nach der Strohfeuer-Hausse fristet der jüdische Literat Anton Kuh (geboren 1890 in Wien, gestorben 1941 in New York) sein Nachleben wieder als Wiener „Original“ und Szenefigur: als notorischer Schnorrer, der seine Gläubiger zum Narren hält, der von Verlegern und Zeitungsherausgebern Vorschüsse für Essays und Glossen kassiert, die er nie schreibt, als extravaganter Lebenskünstler und brillanter Alleinunterhalter. Bezeichnenderweise stimmt das selbst für ein literaturwissenschaftliches Großunternehmen wie die Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von elf Zeilen Text, die Band 7 („Das 20. Jahrhundert“) im Abschnitt „Die österreichische Exilliteratur seit 1938 Anton Kuh widmet (und die vor Fehlern strotzen), werden sechs auf „launige“ G’schichterln verschwendet; als Quelle ausgewiesen: ein populärer „Dichterspiegel in rund fünfhundert Anekdoten“ (von Johannes Twaroch), der dem akademischen immerhin seit seiner Erstauflage den bescheidenen Anspruch voraushat, „keine Literaturgeschichte ersetzen“ zu wollen.

Im akademischen Betrieb findet Kuh nur punktuell Beachtung, und das vor allem mit seinem nietzscheanisch grundierten Essay Juden und Deutsche (1921 bei Erich Reiß in Berlin erschienen, von Andreas B. Kilcher im Wiener Löcker Verlag 2003 neu herausgegeben), in dem er bereits zehn Jahre vor Theodor Lessing mit dem umstrittenen Begriff „jüdischer Selbsthass“ operierte und in dem er die Diaspora-Erfahrung ins Positive umwendet, in eine „Sendung der Juden“ nämlich, deren Aufgabe darin bestehe, allem, „was Kultur, Sitte und Ordnung heißt“, fundamental zu opponieren und jene Instanz, die Machtstrukturen in Familie wie in Staat rechtfertigt, in Stücke zu schlagen: die Moral. Gegen Assimilation wie auch Zionismus entwirft Kuh ein drittes Modell jüdischer Identität, indem er die „Heimatlosigkeit“ in eine kosmopolitische Mission umdeutet, in ein selbstbewusstes, sozialrevolutionäres Weltbürgertum.

Dass die – zumindest kurzfristige breite „populäre“ Rezeption Kuhs kaum Auswirkungen auf eine wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Werk hatte, dürfte zum einen der schmalen Materialbasis geschuldet sein Kuhs über fünf Dutzend Periodika verstreutes Œuvre ist trotz einiger Sammelbände nur zu einem Bruchteil, grob geschätzt etwa zu einem Zehntel, zugänglich, und erst 1994 lag mit Ulrike Lehners Personalbibliographie eine erste Bestandsaufnahme vor –, mehr noch aber der Punze „Kaffeehausliterat“ – schon für Kuhs Zeitgenossen eine unumwunden abschätzige Bezeichnung. Und – vor allem – dem Schatten Karl Kraus’, der den Nachruhm des fünfzigjährig, im New Yorker Exil verstorbenen Kuh verdunkelt. Kuh hat sich die Freiheit genommen, die sprachvirtuose Federfuchserei, die „Metaphysik des Beistrichs“ des Herausgebers der Fackel und insbesondere den hysterischen Karl-Kraus-Kult immer wieder durch den Kakao zu ziehen. Dass der „Krausianer“ Friedrich Torberg Kuh auf einen Pointendrechsler und Anekdotenlieferanten reduziert, verwundert daher nicht. Was nichts daran ändert, dass sein zweifelhaftes Loblied auf das schlampige Genie, das sich im Ephemeren verzettle und sich leider außerstande zeige, „den Witz und den Geist, den [es] am Kaffeehaustisch mit müheloser Grandezza versprühte, in eine für den Druck und vollends für den Buchdruck geeignete Form zu fassen“ (Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten), an üble Nachrede grenzt.

Ulrike Lehner hat zwar bereits 1980 mit ihrer Pionierarbeit Die Kontroverse Anton Kuh – Karl Kraus. Ein Beitrag zur österreichischen Satire der Zwischenkriegszeit (Hausaufgabe aus Deutsch im Hauptfach. Universität Wien), das Bild, das die Krausianer von Kuh vermitteln – Büttel des Revolverjournalisten Imre Békessy –, korrigiert, in der Kraus-Literatur wird das allerdings tunlichst ignoriert. Sieht man von Jens Malte Fischers einigermaßen abwägender Analyse „Affe oder Dalai Lama? Kraus-Gegner gestern und heute“ (1975) ab, steht eine Auseinandersetzung mit der substanziellen Kritik, die nach Abzug des polemischen Impetus vom intelligentesten und witzigsten Beitrag zeitgenössischer Kraus-Kritik übrigbleibt, bis heute aus: mit Kuhs Stegreifrede „Der Affe Zarathustras“ (gehalten am 25. Oktober 1925 im Mittleren Konzerthaussaal und als Broschüre kurz darauf im Druck erschienen), diesem „von Witz, Spott und Haßliebe inspirierte[n] rhetorische[n] Meisterstück“ (Ulrich Weinzierl), einer präzisen Analyse und plausibel argumentierten Beurteilung wenn schon nicht der Person, so doch des „Phänomens“ Karl Kraus. Stattdessen setzte man auf Verunglimpfung, rückte Kuh in den Ruch windigen, unseriösen Revolverjournalismus und betrachtete „Der Affe Zarathustras“ ausschließlich im Kontext der Schlammschlacht, die der dubiose „Pressezar“ und Herausgeber der Stunde, Imre Békessy, gegen Kraus lanciert hatte, und machte sich die hochfahrende Maxime des Meisters zu eigen: „Größerer Gegner gesucht“.

Kuhs Texte, oft für den Tag geschrieben, weisen doch in den meisten Fällen darüber hinaus.

Nachgeplappert werden von seinen Jüngern bis heute auch jene Invektiven, mit denen Karl Kraus am 14. November im Vortrag „Vor neunhundert Zeugen“ in ebenjenem Mittleren Konzerthaussaal konterte. Kuh sei keiner Befassung würdig außer der von Gerichten (Kraus empfand Kuhs Vortrag, so die Klagsschrift, als „fortgesetzte Kette von Ehrenbeleidigungen ohne jede sachliche Unterlage“). Abschätzig war von „Selbstwegwurf “ die Rede; vermessen von „aus dem Rahmen der Anonymität herausspringend und sich leiblich auf mein Podium wagend“; hochfahrend von „meiner verwünschten Zugkraft, die auch dann einen Saal füllen kann, wenn ich nicht auftrete“; selbstgerecht von der „Selbstauflösung einer Nichtsubstanz, die auf mich abwälzt, was sie an sich selbst unerträglich fühlt“; vom „Unzulängliche[n], das den Platz des Karl Kraus bereits besetzt findet und durch die Chance dieses Pechs zum Ereignis werden möchte“ (Die Fackel, Nr. 706-711, Dezember 1925).

Nicht nur die „Krausianer“, für die jedes Wort des Meisters aus dem Dornbusch gesprochen und also geoffenbarte Wahrheit ist, beten das ungeprüft nach, sondern bis heute auch – mit wenigen Ausnahmen – die Karl Kraus-Philologen, weil sie „seine Stil-, seine Selbstdeutungsgrenzen nicht verlassen“, wie Kuh am 25. Oktober 1925, als hätte er’s vorausgewusst, feststellte, oder, anders gesagt, weil sie immer nur den Meister reproduzierend exegieren, alles andere gälte als Abfall von der reinen Lehre: Kuh gehöre zu den wenigen, mit denen sich Karl Kraus in der Fackel nicht abgegeben habe; auf Kuhs Angriffe habe Kraus nie anders reagiert denn durch gerichtliche Klagen; Kuh habe es nicht verwinden können, dass der Platz Karl Kraus’ bereits besetzt war; Kuh wäre gern dieselbe „Instanz“ gewesen wie Kraus. Man empört sich, dass Kuh ausgerechnet „in demselben Konzertsaal, in welchem Kraus vorlas“, diesen als „Affen Zarathustras“ verhöhnte (Paul Schick: Karl Kraus, 1965, S. 113) – als sei’s eine Tempelschändung und als wäre Kuh nicht ab 1921 bereits wiederholt dort aufgetreten. Besonders empörend und unter „unerhörte Geschmacklosigkeit“ oder „Entgleisung“ rubriziert wird selbst von gestandenen Philologen, die jeden Beistrich des Meisters um und um wenden, um nur ja des vielfachen Schriftsinns teilhaftig zu werden, die provokante Maßregelung, die Kuh im anfänglichen Wirrwarr seines Vortrags an die krakeelenden Kraus-Anhänger adressierte: „Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe“, ohne dass sie sich die Situation im Mittleren Wiener Konzerthaussaal an jenem Abend des 25. Oktober 1925 vergegenwärtigten.
Der Andrang war enorm. Eine Stunde vor Vortragsbeginn waren alle Karten vergriffen. Viele mussten un- verrichteter Dinge wieder umkehren. Die Stimmung im überfüllten Mittleren Saal ist aufgeheizt. Auf dem Podium ein Stuhl, ein Tisch, darauf ein Glas Kognak. Im Saal 900 Personen, aufgeregte Jünglinge, ein leidenschaftlich erregtes Parterre. Ganz nach dem Geschmack des schaulustigen Wiener Publikums, das für eine „Hetz“ immer zu haben ist. Neugierige, Sensationslüsterne, Damen, die sich den absehbaren „Skandal“ nicht entgehen lassen wollen, – das aber nahe den Ausgangstüren. „Manometer 99“, beschreibt das Neue 8 Uhr-Blatt tags darauf die angespannte Atmosphäre und referiert in bellizistischer Metaphorik weiter: „Kuhs Eintritt bewirkte die erste Explosion. ‚Hoch Karl Kraus!‘ gegen ,Hoch Kuh!‘ Sturm der Sicherheitswache, zermürbt die Front der einen Partei, deren Marschall das Hauptquartier nicht verlassen hat. Der andere Heerführer, persönlich im Schützengraben anwesend, behält eben recht, weil er da ist. In der vordersten Linie. Anton Kuh beginnt zu sprechen. Aber als er gegen die Buchstabengläubigkeit der Karl Kraus-Jünger das Recht des freien Geistes setzt, fliegen ihm Handgranaten der Zwischenrufer entgegen. Immer wieder. Anton Kuh pariert sie geschickt, wirft sie blitzschnell zurück, so daß sie den Angreifer in Lächerlichkeit zerreißen.“

Ganz so leichtes Spiel hat Kuh indessen nicht: Als er um 19.40 Uhr das Podium betritt, wird er von stürmischem Applaus empfangen. Er hat kaum Platz genommen, da werden vorn im Parterre „Hoch Karl Kraus!“- Rufe laut, in die, wie auf Verabredung, von verschiedenen Seiten des Parketts und auch von der Galerie brüllend im Chor eingestimmt wird. Kuhs erste Worte gehen im Lärm unter. Schreiend und mit den Füßen stampfend, versuchen die unter den 900 Anwesenden zahlreichen Kraus-Anhänger Kuh am Sprechen zu hindern. Minutenlange Tumulte und Handgreiflichkeiten zwischen den Krakeelern und Anhängern Kuhs, bis eine Abteilung Sicherheitswache in den Saal dringt, zwei der Randalierer hinausbefördert und notdürftig wieder Ruhe herstellt.

Schreiend und mit den Füßen stampfend, versuchen die unter den 900 Anwesenden zahlreichen Kraus-Anhänger Kuh am Sprechen zu hindern.

Als es Kuh nicht gelingt, sich im tosenden Beifall und gegen die stürmischen Zwischenrufe Gehör zur verschaffen, stellt er fest: „Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe.“ Wieder minutenlang ohrenbetäubendes Geschrei und Geheul, wieder Tumulte, wieder Einschreiten der Sicherheitswache. Von insgesamt sieben Verhaftungen wissen Zeitungsberichte übereinstimmend, der Polizeipräsident hält in seinem Notizkalender acht vorübergehende Festnahmen fest.

Begeistertes Händeklatschen wie empörte „Pfui!“-Rufe branden anfangs immer wieder auf und unterbrechen den Vortragenden in seinen Ausführungen, der sich keine bessere Bestätigung für das, was er an diesem Abend beweisen will, vorstellen kann als diesen inszenierten Radau: eindeutiges und unleugbares Symptom jener Wiener Epidemie, die Kuh mit dem Terminus „Itzig-Seuche“ belegt, eine seiner zahlreichen Wortprägungen, die die Gemüter immer wieder bis zur Raserei erregen. In einer milderen Ausprägung, als er sie hier im Mittleren Konzerthaussaal im „hysterisch-monomanen“ Stadium agnoszieren muss, sei ihm dieser Infekt in den vergangenen Tagen öfter begegnet: bei Leuten, die ihn beschwörten, doch abzulassen von seinem gotteslästerlichen Vorhaben, öffentlich gegen Kraus vom Leder zu ziehen. Einreden, über die sich Kuh nur wundern konnte – war denn nicht das „ganze Lebenswerk“ des Unantastbaren nichts anderes als „eine Kette ununterbrochener Polemiken“? Andere wieder, Wohlmeinende, „glänzend geschult in der Talmud-Thora-Schule der Anspielung, ,Fackel‘ genannt“, versuchten ihn vom Sakrileg abzuhalten, indem sie ihm zu verstehen gaben, er setze sich damit dem Vorwurf aus, ein „Söldling“ Békessys zu sein. Eine Unterstellung, die sich Kuh strikt verbittet. Vielmehr habe er, Kuh, Békessy „dazu mißbraucht“, sein Mütchen an Kraus zu kühlen. „Ich habe es auch mit Grund getan: Denn wenn ich heute die Wahl habe, Räuber, Libertiner in der Armee eines Karl Moor – heiße er auch Moor Karol – oder Ministrant in der großen Hierarchie des Itziglismus zu sein, so bin ich lieber Libertiner in der Räuberarmee als Kirchendiener in einem Tempel.“ Im Übrigen ist ihm dies ganze eitle Literaten-Gezänk schlicht „Tinnefologie“, eine jener „mikrobenhaften Irrsinnigkeiten“, die auf Wiener Boden so gut gedeihen und jenseits der Stadtgrenzen schon niemanden mehr interessieren.

Nur wem die buckelnde Huldigung der allein zulässige Modus der Näherung an Kraus ist und nur wer nicht weiter zu sehen gewillt ist, als Kraus’ Aureole strahlt, kann übersehen, dass es Kuh nicht um die Identifizierung Kraus’ mit Hitler zu tun war, sondern um eine Gleichsetzung des Verhaltens des jeweiligen Anhangs. Er meint den Krawall. Vor dem Hintergrund tagtäglichen Nazi-Radaus, tagtäglicher Übergriffe deutschnationaler Studenten auf jüdische Kommilitonen und Professoren an den Universitäten ist der Vergleich mit den krakeelenden Kraus-Anhängern nur naheliegend. Im Übrigen waren es eben „Hakenkreuzler“ (so die damalige Terminologie) und Kraus-Jünger, die Kuhs Vorträge wiederholt störten.

Anton Kuh war entschieden mehr als das dandyhafte Kaffeehaus-Original, das schlampige Genie, das sich im Ephemeren, Nebensächlichen verzettelte; und er ist entschieden mehr als die widerwillig und pflichtschuldig gesetzte Fußnote in der Karl-Kraus-Sekundärliteratur. – Autor der aufsehenerregenden und seinerzeit vieldiskutierten Streitschrift Juden und Deutsche mit ihrer rabiaten Absage an assimilatorische wie zionistische Bestrebungen, war er ein Sensation machender fulminanter Stegreif-Vortragender, ein Publizist mit einem ungemein vielfältigen Œuvre – das u.a. eine „politisierte“ freie Bearbeitung von Nestroys Zauberposse Lumpacivagabundus sowie ein halbes Dutzend Filmdrehbücher enthält –, dessen Texte in den renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften erschienen: Feuilletons, Aphorismen, Theaterkritiken, Buchrezensionen, Glossen zum Tagesgeschehen, die erst in gesammelter Form erkennen lassen, wie wach sein Verständnis für politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen war, und die sich, chronologisch gelesen, geradezu ausnehmen wie ein Index der Zeit, der sich noch dazu durch die erstaunliche Dauerhaftigkeit dieser tagesaktuellen Momentaufnahmen auszeichnet.

Ganz entgegen der verniedlichenden Rezeption im Zeichen anheimelnder Donaumonarchie-Nostalgie war Kuh keineswegs eine Wiener „Lokalgröße“ (im doppelten Sinn des Wortes), sondern als Kritiker, Glossist, Feuilletonist und Stegreifredner überaus aktiv ins literarische, politische und gesellschaftliche Leben nicht nur des Wien und Prag der Habsburgermonarchie und der Zwischenkriegszeit, sondern auch des Berlin und München der Weimarer Republik involviert. Als Chronist erfasste der Artikelschreiber die Physiognomie der Zeit so luzide, wie er sie brillant zeichnete. Seine Texte, oft für den Tag geschrieben, weisen doch in den meisten Fällen darüber hinaus. Seine Feuilletons gehören inhaltlich und, mehr noch, stilistisch zum Besten, was in den Zeitungen jener Jahre „unterm Strich“ zu lesen war – die Vielzahl an zeitgenössischen Wiederabdrucken spricht für sich. Die verzerrte Wahrnehmung Anton Kuhs schuldet sich einer unheiligen Allianz von Verbohrtheit und – eine Diagnose, die Kuh seiner Heimatstadt schon 1917 stellte – „Operettenvertrottlung“.

Walter Schübler, Jahrgang 1963, arbeitet im Rahmen eines FWF-Projekts an einer Anton-Kuh Werkausgabe. Zuletzt gab er den Band Anton Kuh: Jetzt können wir schlafen gehen! Zwischen Wien und Berlin (Metroverlag, 2012) heraus.

Quelle: Recherche 2/2012

Online seit: 10. Dezember 2019

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